Hydromania (Autor: Assaf Gavron)
 
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Hydromania von Assaf Gavron

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Maja hat Durst. Doch sie muss sich mit dem Trinken zurückhalten, da sie nur noch 9,3 Liter Wasser hat und die müssen für drei Monate reichen – vorher wird es nicht regnen und Geld für Trinkwasser hat sie auch keines. Maja ist am Ende. Ihr Mann Ido ist seit sechs Monaten fort. Er hatte an einem Wassersystem gearbeitet, mit dem die Menschen wieder unabhängig von den drei großen Wasserkonzernen werden sollen. Vor sechs Monaten, als die Situation schon schwer war, hatte er ein mysteriöses Angebot bekommen – und verschwand vom Erdboden. Außerdem ist Maja im sechsten Monat schwanger. Maja ist wirklich am Ende. So wendet sie sich an ihren Freund Dagi um eine illegale Doy zu machen; dabei wird einem der Silitita-Chip eines reichen, aber toten Menschen in den Oberarm eingepflanzt. So bekommt man nach ein bisschen Hacken des Toten Konto, Wohnung und so weiter. Ein gewisses Risiko besteht natürlich, aber welche Alternative hat Maja?

 

Das Geschehen trägt sich weitgehend in der Stadt Caesarea und dem nahegelegenem Dorf Charod zu – 2067 ist von Israel nicht mehr übrig geblieben als die Stadt und einige umliegende Dörfer. Seit Tiberias von den Palästinensern erobert wurde, hat Israel keinen eigenen Zugang zum See Genezareth mehr und damit kein eigenes Frischwasser – sieht man vom Regen ab. Und Regen ist im Laufe der Erderwärmung immer seltener geworden. Trinkwasser ist eine der wichtigsten Ressourcen geworden. Zum Zuge des daraus resultierenden Wandels wurde der Westen immer schwächer und ohne dessen Unterstützung unterlagen die Israelis den Palästinensern. Die neue Supermacht China interessierte sich lange Zeit nicht für den Nahostkonflikt – man war mit der Erschließung anderer Märkte beschäftigt. Das Leben in Israel ist allerdings nicht postapokalyptisch – der Chip macht viel Bürokratie überflüssig und ermöglicht es mittels Interface-Brille fast immer online zu sein. Wenn man sich mit Werbung überfluten lässt, gibt es sogar einige 'Gratis'-Dienste. Andererseits kann man dadurch beinahe beständig überwacht werden. Aber daran haben sich die Israelis gewöhnt; Raub und Mord kommen fast gar nicht mehr vor. Stattdessen wird mehr gehackt und illegale Doys sind begehrt.

Das Setting erinnert klar an den Cyberpunk: die übermächtigen Konzerne, die Protoverschmelzung von Mensch und Internet, 'Cyberware'. Doch alles ist gemäßigt – die Konzerne können nicht so rücksichtslos vorgehen, die Verschmelzung steht eben erst am Anfang und die 'Cyberpunks' sind uralte Menschen mit allerlei künstlichen Organen, Gelenken und so weiter. Insgesamt ist die Welt nicht so dystopisch angelegt, wie in den meisten 'wahren' Cyberpunk-Geschichten. Die phantastischen Elemente sind im Großen und Ganzen sehr plausibel – es ist gut vorstellbar, dass sich die Ereignisse so entwickeln könnten. Sieht man vom Dschi-Dschi, Idos Wassersystem, ab, so werden diese Elemente allerdings nicht sonderlich ausführlich erläutert. Dem Setting wird relativ viel Raum gewährt. Da es großen Einfluss auf die Figuren hat, ist es ein Milieu.

 

Die Anzahl der Figuren ist relativ groß – es gibt vier wichtige point-of-view-Figuren und daneben noch weitere. Alle wichtigen Figuren sind vielschichtig angelegt, doch da den einzelnen nur wenig Raum bleibt, sind sie nur begrenzt entwickelt. Maja und Ido sind die wichtigsten Figuren.

Maja ist vierzig, im sechsten Monat schwanger und immer noch eine attraktive Frau. Sie hatte sich vor zwölf Jahren Hals über Kopf in Ido verliebt. Die beiden hatten geheiratet und sie wurde die Frau an seiner Seite, die Frau, die seinen Rücken stärkt: Sie kündigte ihren Job im Finanzministerium und übernahm die wirtschaftlichen Aspekte der neugegründeten Firma Ido-Wasser. Sie verspürt nur selten den Reiz des Neuen, denn sie mag lieber das Vertraute, die Sicherheit. Wie lange soll sie ihrem verschwundenem Mann treu bleiben? Wie lange loyal zu seinen Ideen stehen? Wie weit soll sie gehen?

Ido hat ursprünglich als Ingenieur für das Wasserwirtschaftsministerium gearbeitet. Als diese Position an die Privatwirtschaft überging, machte sich Ido selbstständig und gründete Ido-Wasser. Voller Enthusiasmus entwickelte das Genie ein für den See Genezareth ideales Filtersystem. Lange Zeit ging alles gut, doch als Ido-Wasser eine gewisse Größe erreicht hatte, erinnerte sich der offizielle Wasserversorger Ohiya an einige Vergehen und trieb Idos Firma mittels Klagen beinahe in den Ruin. Seither ist in Ido ein unstillbarer Groll gewachsen und das Dschi-Dschi sollte das Schwert seiner Rache sein, mit dem er die Wasserkonzerne zerschlagen will. Doch die Konzerne werden nicht still dasitzen. Wie lange soll er gegen die Konzerne kämpfen? Wie weit soll er gehen?

Die beiden anderen wichtigen pov-Figuren sind Dagi und Assafdschi. Dagi ist ein Freund von Idos kleinem Bruder gewesen und nach dem Fall von Tiberias hatten Ido und Maja ihm aus der Klemme geholfen. Jetzt ist der einstige Banker ein Chip-Dealer, der illegale Doys vermittelt. So auch für Maja. Doch warum macht er das wirklich? Bloß, weil sie ihm einst geholfen hat – oder ist sein Flirten doch ernster gemeint? Assafdschi ist ein Greis von achtundneunzig Jahren, der stets mit Maja flirtet. Er ist – von erzähltechnischer Perspektive – die seltsamste Figur: Er bringt zwar die Sicht der Alten mit ein, doch er passt nicht so stimmig ins Gesamtbild wie die anderen Figuren.

 

Die Tendenz ein breites Panorama zu entwerfen, das nur begrenzt detailliert ausgeführt wird, setzt sich beim Plot fort. Es gibt zwei Handlungsstränge: Der eine schildert, wie es mit Maja weitergeht, der andere was es mit Idos Verschwinden auf sich hat. Beiden liegen gewisse gemeinsame Ereignisse zugrunde. Idos Strang ist eine Mischung aus Rache- und Rätsel-Plot. Er erinnert vielfach an einen Thriller, doch dazu wird viel zu sehr auf die Motivation und Gefühlsebene der Figuren eingegangen. Majas Strang beginnt zwar mit starken Thriller-Elementen – die illegale Doy verursacht selbstverständlich Probleme – wandelt sich aber bald in eine Mischung aus Entwicklungsgeschichte (Majas Emanzipation) und Hard-SF (Wasserversorgung). Die gemeinsamen Ereignisse sind noch weiter gestreut: Da ist etwas Liebe, etwas Rivalität, Erotik und Sittengemälde. Entsprechend sind zwei Longitudinalspannungsquellen relevant: Das Rätsel um Idos Verschwinden und Majas 'Abenteuer'. Zahlreiche überraschende Wendungen treiben die Spannung in die Höhe.

Aber noch interessanter ist die Transversalspannung: Wie weit soll Ido mit seinem Kampf gegen die Konzerne gehen? Ab wann wird der mögliche Triumph zum leeren Pyrrhussieg? Und: Wie weit muss Majas Loyalität reichen? Wie weit darf sie gehen, um über die Runden zu kommen? Ab wann wird der Kompromiss zum Verrat? Was darf man verraten, um an anderer Stelle kompromisslos zu bleiben? Die Situationen sind dabei so aufgestellt, dass es keine klaren Antworten gibt – jeder Leser wird zu seinen eigenen Antworten kommen müssen.

Doch die breite Streuung der Spannungsquellen hat den Nachteil, dass der Plotfluss bei Zeiten ins Stocken gerät, denn leider ist es dem Autor nicht gelungen, alle Aspekte harmonisch miteinander zu verbinden; eine Fokussierung auf die zentralen Punkte wäre möglicherweise besser gewesen.

 

Auch die Erzähltechnik nimmt die Breite auf. Es gibt also zwei Handlungsstränge mit vier pov-Figuren (es gibt noch mehr Blickwinkel, die aber nur kleine Rollen spielen). Dennoch sind die Erzählperspektiven selten rein personal, sondern meistenteils mischt sich eine gehörige Portion auktorialer Perspektive dazu – dieses liegt vor allem am ähnlichen Erzählduktus der jeweiligen Szenen. Während Idos Strang regressiv aufgebaut ist, ist Majas Strang progressiv. Konsequenterweise ist das Erzähltempus Idos Strang der Imperfekt und das Majas Strang der Präsenz. Aus den schwierigen moralischen Fragen der Transversalspannung lässt sich leicht ablesen, dass der Roman weder eindeutig als Entwicklung noch als Desillusionierung zu beschreiben ist. Ungewöhnlich sind auch Assafdschis Abschnitte: Sie sind nicht nur kursiv gesetzt, in ihnen überwiegt auch die Innenperspektive – sonst sind Innen- und Außenperspektive in etwa ausgeglichen. Da ein langer Zeitraum abgedeckt wird, wirkt der Aufbau bisweilen episodisch, besonders dann, wenn randständige Figuren die Szene tragen, doch weitgehend ist die Handlung dramatisch.

Auch darüber hinaus kommen diverse Stilmittel zum Einsatz: Es gibt Gedichte Assafdschis, ein bisschen Slang ("Ya" zur Begrüßung, die "Doy" usw.) und der letzte gemeinsame Moment Idos und Majas (den sie per SEE hat aufzeichnen lassen) wird mehrfach exakt wiederholt.

Der Stil ist weitgehend neutral mit einem leichten Hang zum Saloppen hin. Die Sätze neigen zur Kürze, auch wenn der Autor gelegentliche Schachtelsätze nicht scheut – sonderlich kompliziert sind diese aber auch nicht.

 

Fazit:

Ido, ein genialer Wasseringenieur, hatte sich lange vorbereitet um den großen Wasserkonzernen einen tödlichen Streich zu versetzen, doch kurz bevor es soweit war, verschwand er. Sechs Monate später muss seine schwangere Frau Maja mit der Situation klarkommen und gerät schon bald in Schwierigkeiten. Assaf Gavron hat einen komplexen Roman geschrieben, der sich einer Vielzahl von verschiedensten Elementen bedient, von der Hard-SF über den Cyberpunk hin zum Thriller, um eine seltsame ambivalente Utopie zu zeichnen, die durchaus möglich werden könnte. Eingebettet in die etwas unfokussierte Geschichte sind spannende Fragen um den Wert von Loyalität, die echte moralische Dilemmata aufwerfen. Hydromania ist sicherlich nicht perfekt, aber sehr ungewöhnlich und damit lesenswert.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202404201249378dc1662d
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Roman:

Titel: Hydromania

Reihe: -

Original: Hydromania (2008)

Autor: Assaf Gavron

Übersetzer: Barbara Linner

Verlag: Luchterhand Literaturverlag (März 2009)

Seiten: 286 - Klappbroschur

Titelbild: plainpicture/Deepul/Rudi Sebastian

ISBN-13: 978-3-630-62156-2

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 26.07.2009, zuletzt aktualisiert: 05.04.2024 13:00, 9005