In der Stadt (Autor: Markus T. Weber)
 
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In der Stadt

Autor: Markus T. Weber

 

In seinen Träumen war er oft in der Stadt. Der Ort war nicht sehr groß, die Häuser waren dicht gedrängt, die Straßen und Plätze gaben dem Betrachter das Gefühl klaustrophobischer Enge. Er begann seine Wanderung durch die ihm schon seltsam vertrauten Straßen immer an der gleichen Stelle: Ihn umgab ein düsterer Hinterhof, der von geduckt wirkenden Häusern fast erdrückt wurde. Ihre Mauern umschlossen ihn, wie es die Wände einer Gefängniszelle tun. Zu seiner Linken fand er immer einen dunklen Torweg, der niedrig und unheimlich unter einem massiven Steinbogen kauerten.

 

Von der erdrückenden Enge des des Hofes erschreckt begann er gewöhnlich die Flucht in diesen schmalen Gang hinein, der sich vor ihm auftat wie ein endloser, todesschwarzer Tunnel. Er hetzte hindurch, immer dem blassen, hellen Fleck am anderen Ende entgegen, der Licht und freien Himmel versprach. Doch diese Hoffnung wurde enttäuscht. Der Torweg mündete in eine unsaubere, enge Gasse, deren unebenes Steinpflaster von feuchtem, glitschigen Moos überzogen war.

 

Dieser schmale Durchgang, von überhängenden Dächern und schiefwinklig gebückten Häusern in ein ewiges Halbdunkel getaucht, führte nur wenige Schritte weit, bevor er zwischen zwei düsteren Gebäuden, deren Dächer sich stützend aneinander zu lehnen schienen, um eine Biegung verschwand. Immer wieder folgte er dem Verlauf der Gasse. Hinter der Biegung verzweigte sie sich, nur um sich wenig später erneut zu teilen wieder und wieder bis daraus ein wahrhaft undurchschaubares Labyrinth aus ineinander verwobenen Wegen entstand, das keinen geometrischen Gesetzen gehorchen wollte.

 

Keine der Wände, die ihn umgaben, keine Biegung und keine Ecke schien einen rechten Winkel zu besitzen. Wollte man zwischen zwei Straßen hin und her wechseln in der Annahme, sie verliefen parallel, so sah man sich oft getäuscht. Er fand sich dann unvermittelt in Straßen wieder, die ihm vollkommen unbekannt waren, so daß er sich eingestehen mußte, hoffnungslos in die Irre gelaufen zu sein.

 

Die Stadt, so düster sie auch war, war dennoch weit davon entfernt, öde und verlassen zu sein: Seltsame Gestalten bevölkerten hier und da die Straßen. Kein Haus war wie das andere. Ob es nun die Anzahl der Fenster, die Größe der Türen, die Form der Fassade oder die seltsam variierenden Konturen waren, so hatte doch jedes seinen eigenen, bösen Charakter. Sie alle lauerten entlang der Straßen wie stumme, unbewegliche Wächter, alt, düster und verschwiegen. Aus den Rissen in ihren groben Steinmauern sickerte fauliges Wasser, das sich an den Seiten der bucklig-gewölbten Gassen zu stinkenden Rinnsalen sammelte.

 

Die Straßen waren so unterschiedlich wie die Häuser, was ihre Breite und Ausführung betraf. Allen gemeinsam jedoch war, daß sie eng und bedrückend wirkten. Außerdem fehlten ihnen jene unverwechselbaren Merkmale, diese spezielle Einzigartigkeit, die ihm die Orientierung erleichtert hätte. Es gab nur diese amorphe, gesichtslose Vielfalt, in der sich das Auge verlor. Das Bild verschwamm, wurde unstet. Seine Wahrnehmung ließ ihn im Stich, einen Umstand, den er dem matten, fahlen Licht zuschrieb.

 

Die Menschenwesen, die diesen Ort mit seiner unerträglichen Atmosphäre bevölkerten, waren kalt und grau wie der Stein, aus dem ihre Häuser erbaut waren. Ihre Gesichter wirkten uralt, wie diese Stadt, von der er spürte, daß sie nicht existieren sollte, nicht existieren durfte.

 

Und doch betrat er sie wieder und wieder, kehrte unweigerlich zurück in die verhaßten Straßen. Er war immer dort, wenn er schlief. Sie war ihm zweite Realität und Alptraum zugleich. Sie ließ ihm keine Wahl, denn kaum hatte er die Augen geschlossen in dem Versuch, Ruhe zu finden, so fand er sich bereits an diesem gräßlichen Ort wieder und war verdammt, in den labyrinthischen Gassen herumzuirren, bis er endlich schweißgebadet erwachte.

 

Schlaf war ihm zur Qual geworden und seine Aufenthalte in der Stadt wurden ständig länger. Es war kein gewöhnlicher Traum, der ihn an diesen Ort brachte. Alpträume waren ihm vertraut, wie jedem anderen Menschen auch. So erschreckend und verstörend sie auch sein mochten, man findet dennoch immer die Kraft, sie zu verlassen und erleichtert zu erwachen, wenn sie einen bestimmten Punkt erreichten. Man sollte erwachen, wenn die Panik am größten ist.

 

Sein Traum war anders: Er hielt ihn fest, narrte und quälte ihn, um ihn später nach eigenem Gutdünken in die reale Welt auszuspeien. Der Traum schien ein Eigenleben zu haben, eine innere Kraft, stark genug ihn zu beherrschen. Es war nicht sein eigenes Unbewußtes, das sich hier entlud, sondern etwas Fremdes, dem es möglich war, ihn länger und länger in seinen Fängen zu halten eine schleichende Invasion in seinem Kopf. Er wußte nicht, wie weit das noch führen konnte, aber eine dunkle Vorahnung ließ ihn seit nunmehr vier Tagen gegen den Schlaf ankämpfen. Er war schon vorher nicht bei bester Gesundheit, jetzt war er ein Wrack. Noch versuchte er, sein Tagebuch zu führen, seine Erlebnisse in Traum und Wirklichkeit festzuhalten, um nicht die Kontrolle zu verlieren, doch es gelang ihm kaum, einen klaren Gedanken zu fassen. Sein eiserner Wille ließ ihn weiter kämpfen, aber seine Hände zitterten, als er ein paar fahrige Zeilen zu Papier brachte. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen.

 

“Ich hatte Gleichgewichtsstörungen und mußte mich setzen”, schrieb er, “was ich besser nicht getan hätte, denn die Erschöpfung fiel mich an wie eine hungrige Bestie. Sie hatte in meinem Inneren gelauert und brach nun hervor. Mein Kopf ist schon ein paarmal auf die Tischplatte gesunken. Wie durch ein Wunder bin ich wieder hoch geschreckt. Ich darf nicht aufgeben. Der letzte Traumaufenthalt war mir Warnung genug. Ich spüre eine Hand, die sich nach meiner Seele ausstreckt. Ich muß versuchen, weiter ...”

 

Man fand den hier eingelieferten Patienten Calvin B. am Morgen des 21. Mai in seinem Zimmer im N. Hotel. Er befand sich ein einem komatösen Zustand, obwohl sein Kreislauf stabil ist und seine Nerventätigkeit als normal bezeichnet werden kann. Es scheint sich um einen extremen Erschöpfungszustand, aber das ist nur eine vorläufige Diagnose, da der Fall einige Rätsel aufgibt. Alle Versuche, den Patienten zu Bewußtsein zu bringen, sind gescheitert. Auch nach der stationären Aufnahme konnte keine Verbesserung seines Zustands erzielt werden. Nach der Meinung einiger Kollegen gibt es Anzeichen für Schlafphasen, was mit unseren bisherigen Kenntnissen über das Koma unvereinbar scheint ...

(Auszug aus dem Krankenbericht vom 27. Mai)

 

Er erwachte nicht aus einem, sondern in einem Traum, was vielleicht noch nie jemandem vor ihm geschehen war. Und wenn doch, so war es ihm nicht gelungen, davon zu berichten. Während sein Körper in die Bewußtlosigkeit sank, fand er sich in seinem persönlichen Alptraum wieder.

 

Es war nicht mehr das distanzierte, körperlose Gleiten, das ihn wie einen Schemen durch unirdische Stadt führte. Er fühlte den Boden, roch das faulig-erdige Aroma der Luft, die er in seine Lungen pumpte und spürte den langsamen Verfall und die ekelerregende Verwesung, die das Wesen dieses Ortes waren und nun auch nach ihm griffen. Kälte kroch in seinen Körper, er fröstelte wie im Fieber. Er fand sich rücklings auf dem steinernen Pflaster liegend.

 

Von irgendwoher erklangen Schritte, doch die hallenden, verwischenden Echos vermittelten den Eindruck, sie kämen von allen Seiten. Dennoch war er sich mit einen Mal sicher, daß sie sich seinem Standort näherten. In einem plötzlichen Anflug von Panik sprang er auf und begann zu laufen. Seine Schritte waren unsicher. Er taumelte und schürfte sich die Hände auf, als er an einer rauhen, unverputzten Hausmauer Halt suchte. Sein Puls raste und er sah sich gehetzt um.

 

Er mußte nachdenken. Hätte er nur mehr Zeit. Ein Alptraum war eine Sache, wenn er aber zur handgreiflichen Realität wurde, was tat man dann? Immer noch spürte er diesen panischen Fluchtdrang, obwohl ihn seine Beine kaum tragen wollten. Wohin sollte er sich wenden? Was wenn er dem Unheil direkt in die Arme lief? Mit weit aufgerissenen Augen sah er in die düstere Gasse hinein, die im dunklen Nichts endete. Unter ihm das graugrüne Steinpflaster, rechts und links Wände aus altersdunklem Stein, nur spärlich von schmalen, hohen Fenstern unterbrochen, die wie Schießscharten aussahen, schwarze Löcher, die ihn zu beobachten schienen. Über ihm war ein seltsam blasser, dämmriger Himmel, als gäbe es an diesem Ort keine Sonne.

 

Die Ursache für die nahenden Schritte fand er nicht. Trotzdem hörte er sie weiterhin unnatürlich laut durch die gewundene Gasse hallen. Obwohl er nur den rhythmischen Tritt eines Fußpaares hörte, war seine Furcht grenzenlos. Er hatte auf seinen Traumwanderungen durch die Stadt genug gesehen, um zu wissen, daß seine Panik nicht unbegründet war. Er hatte die intensive Vorahnung, daß etwas ihm folgte, das nicht sein durfte, selbst wenn es ihm in menschlicher Gestalt erscheinen würde.

 

Die Bewohner dieses Ortes, wie er sich aus seinen Träumen erinnerte, waren grotesk genug, mit ihren verformten, grauen Gliedern und den verzerrten Fratzen, um einem das Fürchten zu lehren. Er hatte sie nur zu genau in Erinnerung, hatte sie mit einer Faszination des Grauens betrachtet, die vorbeitrottenden Gestalten, die wie Maden in den zerfallenden Häusern lebten. Aber es gab auch andere und die waren es, die ihn in Panik versetzten, denn diese Wesen hatten mit Menschen nur die äußere Form gemeinsam. Der darin wohnende Geist war so böse, daß er diese Hülle verkrüppelte und zerstörte.

 

Wieder hörte er die dröhnenden Schritte und vor seinem geistigen Auge erschienen jene verrottenden, wandelnden Leichname, die er am meisten fürchtete. Er ergriff die Flucht vor dem nahenden Unheil, rannte ziellos die Straße hinunter, rutschte auf einem Flecken schleimigen Moos aus, fing sich wieder und hielt hinter der nächsten Biegung inne, keuchend und erschöpft.

 

Was nutzte ihm seine Anstrengung, wo er doch wußte, daß es in dieser Stadt keinen Ort gab, an dem er sich verstecken konnte. Für ihn gab es keine Rettung mehr, er war schon am Ende seiner Reise, im Vorhof der Hölle, wo er durch seine Bemühungen nur sein Leiden in die Länge zog.

 

Eine Fassade schien noch mehr der anderen zu gleichen, es gab keine Erkennungsmerkmale wie Straßennamen, Schaufenster und Geschäftsschilder. Es gab keine Grünflächen, nicht einen einzigen Baum oder Strauch, der Farbe in das graue Labyrinth der Gassen gebracht hätte. Das allzeit unstete Licht ließ alle Konturen vor seinen Augen verschwimmen. Wenn dann und wann der verstohlene Lichtschein einer Blendlaterne lange Schatten um die nächste Biegung warf, spürte er die Nähe seiner Verfolger.

 

Manche Schatten huschten nur vorbei, ohne Notiz von ihm zu nehmen, graue Schemen ohne feste Gestalt. Wenn er ängstlich in die engen, düsteren Hinterhöfe spähte, entdeckte er dort wimmelndes Leben wie Nebelschwaden in der Finsternis, formlose Gliedmaßen, die unverständliche Handlungen und Bewegungen vollführten.

 

Er hatte schon mehrfach versucht, diese Eindrücke zu artikulieren, doch die Wirklichkeit übertraf seine dürftigen Schilderungsversuche bei weitem. Worte waren zu banal, zu simpel geformt, um das zu beschreiben, was seine Augen sahen.

 

Die Schritte wurden wieder lauter, sein Instinkt riet um so dringlicher zur Flucht, so daß er sein Herumirren fortsetzen mußte zwischen den abweisenden Baute, die er nicht zu betreten wagte. Zu groß war seine Furcht, dort den grauen Schemen zu begegnen, dem, vor dem er floh, direkt in die Arme zu laufen.

 

Mit seinen wirbelnden Schritten und dem zuckenden Schatten, den er warf war er selbst nur noch eine Menschenkarikatur, die eins wurde mir dem allgegenwärtigen Grau. Er hatte die Hoffnung längst verloren, einen Unterschlupf zu finden, einen Ort, an dem er sich verbergen konnte. Im schwächer werdenden Licht taumelte er weiter bis an den Ort, den ihm seine Träume bislang erspart hatten.

 

Eine große, freie Fläche schälte sich aus der Düsternis, weitläufig und offen verglichen mit den engen, bedrückenden Gassen, die ihn hierher geführt hatten. Alle Straßen schienen in diesen Platz zu münden, der mit großen, gemeißelten Granitplatten ausgelegt war. Die enorme Größe und das archaische Aussehen waren aber nur Details in der Erkenntnis, daß ihm alle Fluchtwege verschlossen war, denn der Ort war nicht leer. Er bevölkerte sich zusehends. Von allen Seiten strömten sie aus den Schatten.

 

Er hatte nie einer Hinrichtung beigewohnt, die er für Akte der Barbarei hielt, dieser Platz war aber einzig dafür geschaffen, Folterung und Tötung in aller Öffentlichkeit durchzuführen. Die dazu nötigen Instrumente waren in grausamer Eintracht versammelt, kreisförmig um die Mitte des Platzes angeordnet: Links von ihm der Galgen, rechts der Pranger und direkt in seinem Weg liegend, das Rad. Im Hintergrund, nur in Umrissen erkennbar, konnte er den Pfahl sehen, die einzige Gerätschaft, an der kein geschundener Körper gekettet war.

 

Was an den restlichen Instrumentarien des Todes hing, mußten nach den Wunden und dem Zustand ihrer zerstörten Körper allesamt Leichname sein, dennoch winselten sie und wanden sich in ihren Fesseln. Mit grenzenlosem Entsetzen sah er zu dem Gehenkten hinüber, der mit gebrochenen Hals einen grotesken Tanz aufführte. Der Strick hatte seine Kehle bis auf den Knochen duchgescheuert, aber immer noch strampelten seine Beine und sein Mund war zu einem lautlosen Schrei geöffnet. Er tanzte seinen Totentanz, seit sie ihn aufgeknüpft hatten.

 

Die Schritte, die ihm galten, waren jetzt sehr nahe. Starke, kalte Hände legten sich auf seine Schultern und packten ihm mit eisernem, unwiderstehlichen Griff. Sein Aufschrei blieb gurgelnd in seiner Kehle stecken, als sich die Kette um seinen Hals schloß. Seine Fersen schleiften über den Boden, als man ihn zur Mitte des Platzes zerrte.

 

“Willkommen in der Stadt”, sagte eine seelenlose Stimme, blechern und laut. “Wie du siehst, stirbt bei uns keiner. Hier starb schon lange niemand mehr. Du wirst gleich selbst feststellen, daß ewiges Leben nicht nur Vorteile hat.”

 

Der ätzende Sarkasmus traf ihn nicht mehr, denn der Wahnsinn, lange sorgsam verborgen unter den Schichten der Vernunft und der Logik, hatte nun von ihm Besitz ergriffen.

 

Der bekannte Exzentriker und Religionskritiker Calvin B., dessen polemische Schriften immer wieder Skandale herbeiführten und der sich in den letzten Jahren intensiv mit der Theorie der variablen Bewußtseinszustände und der Unsterblichkeit der Seele beschäftigt hatte, verschied unerwartet am 12. dieses Monats. Bereits im Mai war er bewußtlos in die städtischen Kliniken eingeliefert worden, wo trotz aller Bemühungen der Ärzte der Tod durch Herzversagen eintrat. (Zeitungsnotiz vom 13. Juni)

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240327135845ddc5068e
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Erstellt: 07.07.2005, zuletzt aktualisiert: 26.07.2019 10:10, 516