Interview mit Oliver Kotowski
Redakteur: Ralf Steinberg
Seit Jahren interessiert sich unser Redakteur Oliver Kotowski für klassische und moderne Phantastik. Nun betätigte er sich Herausgeber einer ganz besonderen Anthologie. Sie beinhaltet unbekannte und fast vergessene deutsche Vampirgeschichten des 19. Jahrhunderts.
Grund genug, ihn zu diesem erstaunlichen Projekt zu befragen:
Fantasyguide: Hallo Oliver, Du beschäftigst Dich schon lange mit klassischer Phantastik, gab es etwa düstere Ereignisse, die Dich dafür begeisterten oder woher rührt Dein Interesse gerade an Schauergeschichten?
Oliver Kotowski: Hallo Ralf! Ja düstere Ereignisse gab es, und ich will eines erzählen, um zu zeigen, warum ich meine, dass es andersherum läuft. Also Folgendes:
Vor ein paar Jahren bin ich mitten in der Nacht aus einem beängstigenden Traum erwacht, den ich nicht erinnere. Ich lag auf dem Rücken auf meinem Bett und konnte keinen Muskel bewegen. Allerdings waren meine Augen offen. So sah ich, in meinem stockfinsteren Zimmer direkt über mir einen absolut tiefschwarzen, pulsierenden Fleck. Dazu nahm ich eine nicht näher zu fassende, aber ungeheuer starke Bedrohung wahr. Es dauerte einen Augenblick, bevor ich mich aus diesem Bann lösen und die Lampe anschalten konnte.
Jetzt im Wachen, wo ich alle meine Sinne beisammenhabe, kann ich das leicht erklären: Diesen Zustand der Bewegungsunfähigkeit nach dem Erwachen nennt man Schlaflähmung oder Schlafparalyse; üblicherweise kann sich der reale Körper im Traum nicht bewegen, vermutlich um Verletzungen durch unkontrollierte Bewegungen zu vermeiden. Manchmal hält diese Paralyse aber auch für einen Augenblick nach dem Erwachen an. Interessanterweise ist sie oft mit drei von mir erlebten Eigenarten verbunden: Man liegt auf dem Rücken, der Übergang von Traum zur Wachheit ist unklar und man erlebt ein starkes Bedrohungsgefühl. Auch der finstere Fleck ist leicht erklärt: Tatsächlich ist es gar nicht völlig lichtlos, denn die blauen Leuchtziffern vom Radio tauchen das Zimmer in ein schwaches, kaum zu erkennendes Licht und der Fleck ist der Schatten des Schirms der Zimmerlampe.
Aber in der Nacht, wenn man eben nur halb wach ist und so wie ich mit etwas Fantasie gesegnet (oder geschlagen) ist und in einem Zimmer schläft, in dem die Vorbewohnerin, eine Mutter in relativ jungen Jahren, gestorben ist, dann kann man zu ganz anderen Erklärungen kommen.
Nein, bevor ich eingeschult wurde, hat meine Mutter mir Märchen auf Tonband gesprochen, die ich hören konnte, wenn sie zur Arbeit war. Meine Mutter mochte die Gruselmärchen am liebsten, ich auch. Ich hatte während meines Studiums mit Kommilitonen gesprochen: Wer sich als Erwachsener mit Gruselgeschichten befasst, wird sie wahrscheinlich schon als Kind gemocht haben.
Daher glaube ich, es funktioniert andersherum: Weil meine Mutter mir via Gruselmärchen beigebracht hat, dass Fantasie gut ist, habe ich die Fantasie, um düstere Ereignisse zu erfahren.
Fantasyguide: Lasst die Toten ruhen ist eine aufwändige Anthologie, war es schwer, den Atlantis-Verlag für das Projekt zu gewinnen?
Oliver Kotowski: Also, ich musste keine Überzeugungsarbeit leisten – ob Guidos (Guido Latz – Chef des Atlantis Verlages, Anmerkung d. Red.) Kamarilla harte Diskussionen hatte, weiß ich natürlich nicht.
Fantasyguide: Wie muss man sich Deine Arbeit an dem Projekt vorstellen? Hast Du Dich durch staubige Bibliotheken gewühlt?
Na, also staubig sollten Bibliotheken besser nicht sein – ist weder gut für die Lunge noch für die Bücher. Und wirklich habe ich viel Zeit in Bibliotheken – besonders der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky – verbracht. Die Arbeit war dreistufig. Zuerst habe ich recherchiert: Welche Geschichten verwenden das Vampirmotiv, welche könnten es verwenden. Man liest viel Sekundärliteratur, Literaturspiegel, benutzt Datenbanken, liest bei den üblichen Verdächtigen quer. Wenn man etwas gefunden hat, dann macht man sich auf die Suche bei Bibliotheken, die ja glücklicherweise manches auch Online zur Verfügung stellen. Am Ende der ersten Phase steht die Entscheidung, ob der Text zur Veröffentlichung in der Anthologie taugt. Dann kommt die zweite Phase: Es wird abgetippt, Korrektur gelesen, Korrektur gelesen, Korrektur gelesen (und immer noch Fehler übersehen). Dann die dritte Phase, das Einbinden in den Kontext. Wieder in die Bibliothek, Autorenbiografien lesen, literaturwissenschaftliche Texte zum Oeuvre und zu Spezialthemen. Schließlich einen Text produzieren.
Natürlich habe ich die drei Phasen nicht immer sauber eingehalten: Manchmal hat man schon erhebliche Teile der Kontextarbeit geleistet, bevor man sich ans Abtippen des Textes macht usw.
Fantasyguide: In der Anthologie gibt es einige Autoren, die zu ihrer Zeit berühmt waren, aber heute vergessen sind, woran liegt das?
Oliver Kotowski: Oh, das kennen wir Älteren doch schon aus unserem eigenen Leserleben: Vor fünfundzwanzig Jahren habe ich John Sinclair und Perry Rhodan geliebt, heute kann ich die Hefte nicht mehr lesen. Offensichtlich hat sich mein Geschmack gewandelt. Und Geschmack ist eben nicht so individuell, wie er üblicherweise gesehen wird: Es gibt gewisse Eigenheiten, die sind gerade en vogue – soll ein Satz von barocker Mäandrigkeit sein oder ist Hardboiled-Kürze erwünscht? Mal so, mal so. Wenn ein Autor nur auf Modeerscheinungen setzt, dann ist er zwar im Moment erfolgreich, langfristig droht ihm aber das Vergessen. Nun denke ich, dass keiner der ausgewählten Texte reine Modeerscheinung ist. Am dichtesten kommt da vielleicht der von Karl Spindler heran – doch hätte der Literat Arno Schmidt ihn in Erinnerung gerufen, wenn Spindler nicht mehr als Mode geboten hätte?
Fantasyguide: Kann man überhaupt das Interesse an solchen Autoren neu entfachen?
Oliver Kotowski: Orientiert man sich an Schmidts Versuch: nein. Tatsächlich glaube ich, dass sich (Literatur-)Geschichte nicht wiederholt: Einmal passé bleibt passé. Das heißt natürlich nicht, dass einzelne Texte nicht wiederentdeckt werden können und einen bleibenden Platz in einem Spezialistendiskurs einnehmen können. Selbst Größen wie E. T. A. Hoffmann und Karl May, die einen festen Platz in Literaturlexika einnehmen, gleiten immer mehr in die Spezialistendiskurse ab – wie sollte da Spindler zurückkommen.
Fantasyguide: Welchen Deiner Autoren würdest Du ein Comeback wünschen und warum?
Oliver Kotowski: Gut, wünschen kann man sich alles: Ich glaube, die undurchsichtigen Texte von Stanislaw Przybyszewski hätten es am ehesten verdient, dass man sich ihnen vermehrt zuwendet.
Fantasyguide: Welchen Text von Stanislaw Przybyszewski kannst Du dem neugierigen Leser denn für eine Wiederentdeckung empfehlen?
Oliver Kotowski: Eigentlich alle epischen/erzählenden Texte: Przybyszewski versucht über die Melange Wahn und Okkultismus die Brille der Rationalität abzustreifen und einen Blick auf die Realität zu werfen. Seine Texte sind mir eigentlich stets gleichermaßen interessant und unverständlich. Wer Eindruck schinden will, dem lege ich gleich den Roman Satans Kinder ans Herz, wer kleine Schritte bevorzugt, der wird vielleicht erstmal Totenmesse lesen wollen.
Fantasyguide: Man findet nur Männer unter den Autoren Deiner Anthologie. Gab es keine Autorinnen, die sich mit dem Thema beschäftigten?
Oliver Kotowski: Nein, keine Frauen zu finden. Manchmal ist das Leben ganz schlicht.
Fantasyguide: Ist es aber nicht seltsam, dass heute ein Großteil der Vampir-Geschichten von Frauen geschrieben und auch gelesen wird, damals aber keine Autorinnen in Erscheinung traten?
Kommt drauf an. Es gibt zwei Aspekte zu beachten.
Zum einen waren sich intellektuell betätigende Frauen im 19. Jh. nicht unbedingt gut gelitten - Charlotte Brontë veröffentlichte 1847 ihren Roman Jane Eyre noch unter dem Pseudonym Currer Bell. Erst im Zuge des andauernden Erfolges wurde das Geheimnis der schreibenden Frau gelüftet. Und Deutschland war zu jener Zeit in mancherlei Hinsicht noch konservativer als die Insel.
Zum anderen sind romantische Geschichten bei den Leserinnen schon seit Langem viel beliebter als bei Lesern. Das war schon im 19. Jh. so, das ist auch heute noch so. Aber im 19 Jh. war das Vampirmotiv eher mit perverser Liebe als mit romantischer Liebe verknüpft. (Zumal sich ein erheblicher Wandel hinsichtlich der Bewertung von sexueller Perversion vollzogen hat.) Das hat sich erst im Laufe der Jahrzehnte ergeben – Anne Rices Interview mit einem Vampir ist diesbezüglich zwar nicht die erste Geschichte, aber dafür sehr einflussreiche betreffend der Romantisierung des Vampirmotivs. Viele Frauen mögen kitschige Romanzen mit »dunklem, geheimnisvollem und melancholischem Fremden« – wer wäre für diese Rolle besser geeignet als ein moderner Vampir? Selbst wenn es nicht so kitschig sein soll, gibt es diese Verknüpfung von Leserin und vampirischer Romanze.
Nimmt man diese Konvention als gegeben hin, dann ist es gar nicht seltsam – stellt man die Konventionen in Frage, dann kann es allerdings seltsam anmuten: Warum waren schreibende Frauen so vielen Männer wohl ekelhaft gewesen? Warum stehen so viele Frauen eigentlich auf den düsteren, gefährlichen Fremden? Selbst konservative Christinnen à la Stephenie Meyer propagieren diesen Typos. Ich finde das schon seltsam.
Fantasyguide: Unter den Autoren finden sich mit Hermann Löns und Leopold Ritter von Sacher-Masoch auch eher kritisch bewertete Literaten. Dennoch wird es wohl keine Proteste bei einer Vampir-Anthologie geben. Ist das Glück oder Fluch der Nische? Müsste es mehr Kontroversen zu Autoren geben?
Oliver Kotowski: Das ist eine sehr komplexe Frage. Zunächst: Warum sollten sich LeserInnen von Vampirgeschichten nicht an einer menschlich fragwürdigen Person wie Löns stören? Dass der Masochist Sacher-Masoch es sicherlich in Goth-Kreisen leichter als in konservativ-bürglichen Kreisen hatte, scheint mir sicher; neben Porno-Belletristik wie Geheimes Verlangen und Schoßgebete wird sich aber heute niemand mehr über Venus im Pelz aufregen.
Ist das nun zu bedauern? Ich meine, es sollte egal sein, tendenziell sogar zu begrüßen – immerhin sollte es um Texte und nicht Autoren gehen. Die Frage sollte nicht lauten: Taugt der Sacher-Masoch etwas? Sondern: Taugt Die Toten sind unersättlich etwas? Eine Kontroverse um das Lotterleben des Autors lenkt schlimmstenfalls vom Text ab.
Auf der anderen Seite gilt die Maslowsche Bedürfnishierarchie auch für mich: Neben der qualitativen Anerkennung in Rezensionen wünsche ich mir quantitative Anerkennung durch Verkäufe, viele Verkäufe könnten Guido ein neues Projekt mit freundlicheren Augen sehen lassen und ein bisschen mehr Geld auf meinem Konto würde ich auch nicht verschmähen – wenn etwas Kontroverse um die Sittenstrolche von Autoren zu mehr Verkäufen führt: gerne!
Du siehst, ich habe eine widersprüchliche Haltung. Am besten wäre wohl eine Kontroverse um die Texte, die förderlich für die Verkaufszahlen ist.
Fantasyguide: Du hast zu jedem Text nicht nur eine Autorenvorstellung geschrieben, sondern auch eine kurze Analyse zur Verwendung des Vampir-Mythos. Was kann dies dem Leser bringen?
Oliver Kotowski: Prodesse et delectare, der Klassiker. Prodesse: Vielleicht liest es ja ein Germanistikstudent, der Anregungen für sein Seminar braucht. Wichtiger ist mir das Delectare. Hier erhoffe ich mir zwei Momente. Zum einen natürlich den Lustgewinn, der durch ein besseres Verständnis der Geschichten entsteht. Vielleicht kann ein Leser Rauschniks Die Totenbraut höher wertschätzen, wenn er weiß, dass die Geschichte, soweit wir wissen, nicht in einer literarischen Tradition, sondern an ihrem Anfang steht. Zum anderen lesen Leser nicht nur gerne, sie tauschen sich mindestens ebenso gerne über das Gelesene aus. Und wenn meine Kommentare dazu beitragen, dass in Fan-Kreisen angeregter über die Geschichten, vielleicht sogar das Subgenre insgesamt diskutiert wird, dann habe ich mein Ziel komplett erreicht.
Fantasyguide: Warum ist es überhaupt notwendig, Literatur mit wissenschaftlichen Aspekten zu bewerten, etwa indem Du Todorows Phantastik-Definition anwendest?
Oliver Kotowski: Oh, es ist überhaupt nicht notwendig. Wen das nicht interessiert, der kann ohne Weiteres das zweite von Daniel Pennac formulierte Leserrecht in Anspruch nehmen: Das Recht, Seiten zu überspringen.
Aber ich glaube fest daran, dass die meisten Literaturwissenschaftler zwar reichlich seltsam, jedoch keine Idioten sind. Mit großem Scharfsinn arbeiten sie interessante Phänomene heraus – wenn man sich denn für diese Metaebene interessiert. Und hier möchte ich wiederum Anregungen geben: Vielleicht hat einem Leser ja genau diese Unsicherheit gefallen – ruiniert da wirklich ein Vampir die Gesundheit des Medizinstudenten oder ist es doch nur sein schlechtes Gewissen? Dann hat der Leser ein Stichwort, um selbst weiter zu forschen.
Außerdem bin ich faul: Es ist für mich leichter, einen literaturwissenschaftlichen Begriff einmal zu erläutern und dann zu verwenden, als mir dauernd Gedanken darum zu manchen, wie ich verständlich bleibend den Begriff umschiffen kann.
Fantasyguide: Ist es nicht erstaunlich, dass der Vampir-Mythos zwar so viele Aspekte hatte, aber heute im wesentlichen auf Dracula zurückgeführt wird?
Oliver Kotowski: Eine schwierige Frage, denn die Reduktion auf Dracula beruht im ganz erheblichen Maß auf den Erfolg von Dracula – und mit dem Erfolg stellte sich dann eine weitere Reduktion ein. Dahinter steckte meines Erachtens gar nicht so sehr die Absicht, das Vampirmotiv zu reduzieren, sondern das von Stoker komplex aufbereitete Motiv schien die Details anderer Geschichten redundant zu machen. Zwar war das Vampirmotiv schon vor »Dracula« breit präsent – für den englischsprachigen Raum verweise ich auf James Malcolm Rymers Varny, der Vampir – doch mit dem Roman erreichte es einen neuen Höhepunkt. Stoker schrieb die letzte gothic novel und war dabei stilistisch besser als viele seiner Vorgänger (besonders Rymer). Mit seinem midbrow-Stil (zwischen der deutschen Trivial- und Hochliteratur angesiedelt) öffnete er das Motiv für neue Leserkreise. Dann setzte er sich mal mehr, mal weniger offensichtlich mit Themen der Moderne auseinander.
Die Rationalität – die Helden nutzen Logistik, Eisenbahn und Phonograph – ist recht deutlich gegenüber der Irrationalität positiv besetzt, die Emanzipation dagegen sehr deutungsoffen: Ist die Position des Patriarchen Van Helsing wirklich gerechtfertigt gegenüber der von Mina, die sich selbst nicht als »neue Frau« begreifen will? Dann ist ein Roman.
Zwar hat es schon vor »Dracula« Romane mit Vampirmotiv gegeben (bezeichnenderweise ist das 1828 erschienene Werk Der Vampyr, oder die Todtenbraut: ein Roman nach neugriechischen Volkssagen von Theodor Hildebrandt der älteste erhaltene mir bekannte Roman – wieder einmal der deutsche Sprachraum), doch einerseits eher wenige, besonders im englischen Sprachraum und zum anderen haben Romane tendenziell den größeren Einfluss auf Literaturdiskurse.
Dann kam das Medium Film: Es erreicht nicht nur viel mehr Menschen, das Gesehene entfaltet auch eine viel größere Wirksamkeit. Seit Terence Fishers Verfilmung von »Dracula« im Jahre 1958 steht das Bild des Vampirs (mittlerweile: des alten Vampirs) fest. Im Film zerfiel Dracula im Sonnenlicht zu Staub – seither hat Sonnenlicht den Glauben als Waffe gegen Vampire weitgehend ersetzt. In Stokers Buch konnte Dracula sich noch sehr wohl im Sonnenlicht aufhalten. Zwar ist vielen Leuten bewusst, dass das Buch klar älter als der Film ist und es vielleicht auch klare Unterschiede gibt, aber die Wirkungsmacht der bewegten Bilder macht dieses Bewusstsein meistenteils zu einem nicht angewandten.
Besiegelt wird die Dominanz Draculas allerdings erst mit dem neuen Vampir à la Rice, Brite, Somtow usw., denn sie alle formen das Motiv in ihren Geschichten gegen Stoker aus: Er ist quasi als der Übervater etabliert, von dem man sich absetzen muss, vor dem man sich beweisen muss.
Das ist der Hintergrund, vor dem die Frage gestellt wird: Der Erfolg des neuen Vampirs weckt das Interesse an dem Motiv, damit am alten Vampir – und die Geschichten mit dem neuen Vampir nennen vor allem Dracula als alten Vampir.
Bei normalen Lesern ist daher die Fixierung auf »Dracula« bei genauerem Hinsehen wenig überraschend, doch es kann allerdings schon ein wenig verwundern, dass auch von forschender Seite aus so wenige genauer hingesehen haben.
Fantasyguide: Gibt es wesentliche Unterschiede zwischen dem Vampir des 19. Jahrhunderts und dem von Heute?
Oliver Kotowski: Einen: Sie sind banaler geworden. Die frühen Vampire sind untote Monstren, vielleicht charmant und clever, aber definitiv ohne komplexe menschliche Psychologie. Die kommt erst mit den liebenden Vampiren – besonders mit Gautiers Die liebende Tote, Le Fanus Carmilla und Ulrichs’ Manor – zögerlich und eher passiv-reflektierend hinzu. Mit diesen Monstern konnte man keine Kompromisse eingehen, sie hatten als unnatürliche Dinge keinen Platz in der Gesellschaft. Um ein lebenswertes Leben wiederherzustellen, mussten die Vampire wieder aus der Gesellschaft verschwinden. Heute haben Vampire sehr komplexe Charaktere und Psychologien. Sie können edle Gutmenschen – wie etwa Saint-Germaine aus Yarbros Hotel Transylvania – fiese Sadisten wie Zillah und Gang aus Poppy Z. Brites Lost Souls – oder sehr häufig etwas dazwischen sein – wie Anne Rices Louis aus Interview mit einem Vampir. Mit ihnen kann man leben und Kompromisse eingehen, wie Charlaine Harris’ True Blood-Trinker zeigen.
Kurzum: Sie sind in der Gesellschaft angekommen, ja gelegentlich ist das Vampirdasein sogar etwas Erstrebenswertes – wer hat nach der Lektüre von Meyers Bis(s) zum Morgengrauen daran gezweifelt, dass Bella früher oder später den rechtmäßigen Platz als strahlende Vampirprinzessin neben Edward einnehmen würde?
Das spiegelt sich auch im Kontext wieder: Aus dem Stegreif fällt mir mit Alexej Tolstois Die Familie des Vampirs nur eine Prä-Dracula-Geschichte ein, in der mehr als ein Vampir auftritt. Mittlerweile werden wir von Vampirwellen überschwemmt. Zumeist sind sie in Parallelgesellschaften organisiert – wie etwa bei Barbara Hamblys Jagd der Vampire oder Matt Haigs Die Radleys; den Höhepunkt fand sie wohl mit Richard Mathesons Ich bin Legende, in der das Monster der letzte Mensch unter Vampiren ist. Und damit nicht genug: Beinahe standardmäßig werden sie mit Werwölfen verpaart, Hexen, Geister und Feen haben seit White Wolves World of Darkness auch regelmäßig ihren Auftritt.
Das düstere Wunder, das der Vampir einst darstellte, ist fort.
Fantasyguide: Glaubst Du, dass sich aktuelle Autoren noch mit den Fundamenten ihrer Gattung, wie etwa den Autoren aus Deiner Anthologie beschäftigen?
Oliver Kotowski: Zum Teil. Ich habe jetzt kein gutes Beispiel präsent, aber mir fällt gelegentlich auf, dass auf Details der Vampirgeschichten Bezug genommen wird, die eigentlich nicht mehr aktuell sind. Kim Newman lässt in Anno Dracula etwa eine Reihe von Blutsaugern der frühen Stunden auftreten – von Klatka ist etwa dabei. Eine breite Beschäftigung mit den frühen Vampirgeschichten lässt sich (abgesehen vom nicht mehr ganz aktuellem Newman) daraus nicht ableiten; umgekehrt lässt sich auch nicht behaupten, dass sie es nicht täten – ein argumentum ex nihilo zieht selten – denn das verwendete Detail muss ja auch zur Geschichte passen und vielleicht beim kundigen Leser etwas zum Klingen bringen.
Fantasyguide: Gibt es bereits weitere literaturarchäologische Ausgrabungen, an denen Du arbeitest?
Oliver Kotowski: Nein, aber ich bin ein bisschen versucht – ein paar Möglichkeiten gäbe es schon. Allerdings – ich bin ja Historiker/Philosoph – bin ich gerade mit einem Projekt beschäftigt, dass sich auf reale archäologische Ausgrabungen, klassische Philologie und antike literarische Quellen bezieht. Ob dass irgendwann mal für Freunde der Phantastik interessant wird, weiß ich nicht.
Fantasyguide: Was genau gräbst Du da aus?
Oliver Kotowski: Einfach gesagt: Lydien. Lydien war, grob gesagt, ein Kulturraum in der Antike. Krösus ist vielleicht der bekannteste Lyder, der war nicht nur extrem reich, er hat auch das lydische Imperium in die endgültige Niederlage gegen die Perser geführt; danach ist es bis zur Eroberung durch Alexander dem Großen eine persische Satrapie gewesen. Ich finde das soziale Umfeld in der Perserzeit sehr spannend: Herren waren die Perser zusammen mit einigen lydischen Adligen, die Landbevölkerung bestand aus sehr konservativen Lydern, in den Grenzregionen allerdings mit Mysiern, Phrygiern und Karern gemischt. Gelegentlich fanden sich Militärsiedlungen aus anderen Teilen des Perserreiches – etwa aus Ägypten. Im kosmopolitischen Sardes, der Hauptstadt, fanden sich all diese Ethnien, dazu noch Griechen, Skythen, Judäer, phoinikische Händler, thrakische Söldner in persischen Diensten etc. pp. Dann war die Stadt nicht nur wirtschaftlich bedeutend – und damit sehr reich – sondern auch der relevante persische Machtfokus in der Auseinandersetzung mit den Griechen Europas. Kurzum: Wenn man eine Spionagegeschichte in der Zeit kurz vor dem Alexanderzug schreiben wollte, dann wäre Lydien der ideale Schauplatz.
Ob ich einfach nur den Wikipedia-Artikel überarbeite oder mehr daraus wird, weiß ich noch nicht.
Fantasyguide: Vielen Dank und weiterhin phantastische Träume!
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