Druckversion: Interview: Wolfgang Neuhaus

Interview mit Wolfgang Neuhaus

geführt von Ralf Steinberg

 

Seit 1991 verfasst Wolfgang Neuhaus Sachtexte für das Science Fiction Jahr, einem zunächst im Heyne Verlag und seit 2015 bei Golkonda erscheinendem Jahres-Band zur Science-Fiction.

Angeregt durch Hardy Kettlitz versammeln sich nun 18 dieser Texte aus den Jahren 1995 bis 2014 in Die Überschreitung der Gegenwart – Science Fiction als evolutionäre Spekulation. Wir sprachen mit dem Autor über das Buch und seine Themen:

 

Fantasyguide: Hallo Wolfgang, 1991 begann Deine Mitarbeit am »Science Fiction Jahr«. Wie kam es dazu?

 

Wolfgang Neuhaus: Ich bin damals regelmäßig zur Ars Electronica nach Linz gefahren. Dort habe ich Günther Luxbacher kennengelernt und der hatte in den Jahrbüchern über das Festival geschrieben. Er hatte 1990 den Auftrag von Wolfgang Jeschke für das Jahrbuch, musste aber früher nach Wien und da hat er mich gefragt, ob ich nicht Lust hätte, den Teil über Cyberpunk zu machen bzw. die Pressekonferenzen von Gibson, Sterling und anderen zu besuchen. Das war also eine Kooperation. Damals lief das ja alles postalisch. Ich hab den Text dann geschrieben auf meinem Rechner – einem Atari. Ich musste das Manuskript ausdrucken und habe es nach Wien geschickt. Er hat das ergänzt und den ganzen Text weitergeleitet. Das war mein Einstieg ins Jahrbuch. Dann gab es erstmal eine Pause.

 

Fantasyguide: Warst Du zu dieser Zeit schon vom Cyberpunk angefixt?

 

Wolfgang Neuhaus: Ich kannte den Cyberpunk schon. Um den Dreh gab es eine Zeitschrift, die ich damals gesammelt habe, die hieß Mondo 2000. Die beschäftigte sich mit den Werten der Gegenkultur, nahm Themen wie die möglichen Gesellschaftsveränderungen durch den PC auf und verband das allerdings auch mit Aspekten, die mich persönlich jetzt nicht so interessierten wie der Drogenkultur. Das war so eine ganz eigene kulturrevolutionäre Mischung. Und in der hatte ich schon über Cyberpunk gelesen.

 

Ich bin 1988 bei der Ars Electronica gewesen und habe einem Gespräch gelauscht, in dem jemand Günther Luxbacher gefragt hat, was denn Cyberpunk sei. Ich weiß nicht, welche Erklärung er damals gegeben hat, aber es war etwas Neues mit Cyberspace und diesen ganzen Themen. Ich bin sofort in den Buchladen gestürmt, als ich nach Berlin zurückkam, und habe Gibsons Kurzgeschichtenband gekauft und Neuromancer. 1990 war dann die Cyberspace-Konferenz in Linz und da ich war vorbereitet, also ich wusste um welche Namen es geht.

 

Fantasyguide: Also prädestiniert für den Artikel.

 

Wolfgang Neuhaus: Ja, klar, ich hatte ein ernsthaftes Interesse hin zu fahren und es war auch sensationell. Es war, was die Anwesenheit von Berühmtheiten der Cyber-Kultur betrifft, wahrscheinlich die erfolgreichste Ars Electronica überhaupt. Marvin Minsky war da, der KI-Pionier. Jaron Lanier war da, der damals die Virtual Reality gepusht hat – er hat ja 2014 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommen; er ist ja heute eher ein Warner oder Kritiker vieler Internet-Phänomene. Gibson und Sterling waren vor Ort und dann eine ganze Reihe von unbekannteren Leuten: Brenda Laurel, die Virtual-Reality-Theoretikerin, Scott R. Fisher, das war ein Ingenieur und verschiedene andere, ich zähle die im Cyberspace-Artikel auf.

 

Von der Atmosphäre her hatte man das Gefühl, ganz weit an der Front zu sein. Und Minsky hat sich ja den Scherz erlaubt, überhaupt nicht über Virtual Reality zu reden, weil ihm das ja viel zu banal war. Das war für ihn schon wieder out. Das war das erste Mal, dass ich etwas über die Maschine-Gehirn-Verbindung gehört habe. Darüber hat Minsky ausführlich geredet, weil das für ihn eigentlich die einzig erstrebenswerte Stufe war.

 

 

Fantasyguide: Wie ist es denn dazu gekommen, Deine Artikel und Aufsätze in einem Buch zusammen zu fassen?

 

Wolfgang Neuhaus: Oh, ich bekam ein wunderbares Angebot von Hardy Kettlitz. Letzten Endes ist das alles sein Verdienst. Ich habe eine ganze Weile damit gehadert, weil ich sehr skeptisch war, was meine älteren Texte betraf, da ich doch das Gefühl hatte, dass ich sie überarbeiten muss. Ich habe mich aber entschieden mit der Überarbeitung der Essays sehr sparsam umzugehen bzw. sie im Großen und Ganzen eigentlich so zu lassen wie sie waren, weil ich sie als Dokumente meiner eigenen Entwicklung sehe.

 

Mir war klar, dass es stilistische Schwierigkeiten im Max Headroom-Artikel gibt, das ist ja der älteste. Der Text ist ein bisschen chaotisch, man hätte ihn mehr ordnen können. Ich habe ja Überarbeitungen vorgenommen beim Text zu Walter Jon Williams und beim »2001«-Text.

 

Fantasyguide: Stehst du denn noch inhaltlich dazu? Es ist ja ein Riesenlob auf die Serie …

 

Wolfgang Neuhaus: Ich hab sie lang nicht mehr gesehen, aber ich finde, »Max Headroom« ist eine absolut geniale Erfindung. Die Serie »Max Headroom« ist ja mehrfach im deutschen Fernsehen gesendet worden. Etwas unbekannter ist die britische Original-Episode. Die dauerte eine Stunde und wurde für Channel Four produziert. Das war ein innovativer Fernsehsender in England. In Deutschland gab es nie ein Pendant, vielleicht das frühe Vox. Diese Musikvideoproduktionen mit Max liefen bei Channel Four in England und die haben eben überlegt, wie man eine fiktive Sendung baut, in der die Erfindung von Max Headroom dargestellt wird. Der Hauptdarsteller der Serie, Matt Frewer, war auch schon dabei, und Amanda Pays, die die Operatorin spielt, und zwei, drei andere Schauspieler. Offensichtlich hat ABC Interesse gezeigt und die haben 14 Folgen produziert. Allerdings war die Serie ja kein Erfolg, es blieb bei zwei Staffeln.

 

Es waren weitere Folgen in der Produktion. John Shirley war eingeladen, George R. R. Martin auch, aber die von ihnen verfassten Folgen sind nicht mehr produziert worden. Ich habe in dem Artikel ja geschrieben, dass »Max Headroom« seiner Zeit voraus war und ich finde, dass man nach wie vor ein Remake machen könnte. Ich wundere mich, dass es niemand versucht. Vielleicht liegt es daran, dass »Max Headroom« durchaus sehr medienkritisch war, so wie ich die Serie interpretiere. Für mich war es wirklich eine große Überraschung, damals »Max Headroom« zu sehen und einige dieser Szenen beschreibe ich ja in meinem Artikel wie diese Intrigenspiele zum Thema Politik. Das war ja auch die Absicht der Macher. Michael Cassutt zitiere ich ja – das war ein beteiligter amerikanischer Autor, der auch für Twilight Zone geschrieben hat und für »Max Headroom« engagiert war.

 

Um es zusammenzufassen: Da zeigt sich die Leistungsfähigkeit der amerikanischen Fernsehindustrie. Die englische Originalepisode war auch schon gut, aber das ist wirklich Fernsehen, das auch in der Lage ist, die eigene Machart oder die eigenen Produktionsbedingungen zu reflektieren. Also mich hat das sofort angefixt. Aber ich hab nie davon gelesen, dass jemand versucht hat, ähnlich wie bei RoboCop ein Remake davon zu machen.

 

Fantasyguide: Vielleicht ist die Serie auch nicht so in der Öffentlichkeit präsent?

 

Wolfgang Neuhaus: In Deutschland saß ich ja auch auf dem Trockenen, was die Moderation bei Sky betraf. Das hatte nichts mit dem heutigen deutschen Sky zu tun. Irgendwie hab ich mal Aufnahmen davon gesehen, aber nur wenige ((Anm.: Das kann man heute bei Youtube nachholen). Aber das war der große Hit in England. Mir fällt in Deutschland nichts Vergleichbares ein. Die Abstraktion, die man bei »Max Headroom« vorgenommen hatte, hat man im deutschen Fernsehen später übernommen mit künstlichen Moderator Traugott Vocks. Es gab Ende der Neunziger auch einen Abklatsch von Max Headroom, das war eine Figur, die für T-Online Werbung machte: Robert T-Online. Es gab also solche Versuche, aber die hatten keinen Einfluss auf die deutsche Popkultur, weil sie einfach zu umständlich und einfach zu wenig originell waren.

 

Um darauf zurückzukommen, um was es bei Max Headroom ging. Diese Musikvodeomoderation muss wirklich eine Sensation in ganz Großbritannien gewesen sein. Weil Max eben sehr frech war. Er hat David Bowie auf seine Socken angesprochen. Max Headroom war eben unkonventionell, er hat eben auch provozierende Fragen gestellt, weil er sich hinter dem Puppeneffekt versteckt hat. So ähnlich wie »Hurra Deutschland«. Man kann mit Puppen frecher oder anders sein als mit menschlichen Moderatoren – es ist ein Verfremdungseffekt. Dieser ermöglicht einen größeren gestalterischen Freiraum und das haben die Gestalter bei Max Headroom total ausgenutzt. Die jungen Leute mochten das. Der hatte keine Ehrfurcht vor den großen Stars. Der hat einfach nach irgendwas gefragt, ganz anders gefragt als die normalen Moderatoren. Max Headroom war versehen mit englischem Humor, mit Anarchismus. Und da muss man ganz klar sagen, dass dieser Effekt in Deutschland nicht vorhanden war, weil man Max Headroom hier gar nicht kannte.

 

Fantasyguide: Insofern könnte es dort ja ein Remake geben.

 

Wolfgang Neuhaus: Aber dieses müsste eine vergleichbare Gestaltungsintelligenz auch mitbringen. Das war damals absolute Fügung. Es war ein Werbetexter beteiligt, ein Drehbuchautor und zwei Computeranimationsspezialisten. Diese spezielle Mischung hat auch die Erfindung möglich gemacht. Wenn man diesen Anarchismus nicht mehr hochhalten oder verstehen kann, dann produziert man ein ganz plattes Remake, nur eine ganz platte Kopie.

 

 

Fantasyguide: Das wird schwierig. »Max Headroom« ist ja der Avatar einer KI. Die Visualisierung einer KI bietet heute wenig innovativen Spielraum, man kann jeden alles machen lassen. In Altered Carbon etwa ist die KI Edgar Allan Poe nachempfunden.

 

Wolfgang Neuhaus: Wenn ich »Max Headroom« als künstlerisches Produkt sehe, ist es zusammengesetzt aus ganz unterschiedlichen Facetten und die Machart bzw. die visuelle Gestaltung ist ja nur eine Ebene. Und diesbezüglich ist es richtig, dass man heute viel mehr Möglichkeiten hat. Man könnte mit Motion Capture die Gesichtsmimik eines realen Schauspielers direkt auf eine Animation übertragen. Da sind die Möglichkeiten enorm vervielfältigt. Und es ist richtig, dass diese Art von Avatar-Repräsentation sich auch ausgeweitet hat – als Erzählmittel.

 

Was ich jetzt aber nicht einschätzen kann, ist eben, inwieweit man das Cyberpunk-mäßige noch aufrecht erhalten wollte, und das ist für mich ja das alles entscheidende Element gewesen, worauf ich in dem Artikel ja ausführlich eingegangen bin. Im Grunde war ja »Max Headroom« eine satirische Variante. Das heißt, man hat den Cyberpunk ernstgenommen und sich gleichzeitig auch darüber lustig gemacht. Und dazu muss man das Cyberpunk-mäßige einfach noch mal besprechen. Für mich hat es viel zu tun mit dem Eindringen der neuen Technologien in die Gesellschaft. Und das war symbolisiert einmal über die ganzen Cyborg-Technologien und dann auch natürlich über den Cyberspace.

 

Fantasyguide: Du zitierst ja William Gibson: »[…], nämlich die Welt mit beißemdem Spott zu überziehen und alle positiven futurologischen Prophezeihungen infrage zu stellen; […]« (S. 252).

 

Wolfgang Neuhaus: Das hieß bei »Max Headroom«: Die Leute leben teilweise im Müll. Da war ja die berühmte Redewendung von Sterling: »High Tech und Low Culture«. Es wurde ja eine zugespitzte Klassengesellschaft gezeigt. Eine extreme Verarmung, wo die Leute in Slums, auch in der ersten Welt, gelebt haben. In der nahen Zukunft eben, gar nicht so weit von der heutigen Zeit entfernt. Gleichzeitig durften die Fernseher keinen Ausschaltknopf mehr haben. Die Leute wurden gezwungen zu permanenter Berieselung und Unterhaltung.

 

Die Erfindung des Privatfernsehens kam ja Anfang der Achtziger mit RTL 1984 in der Bundesrepublik. Insofern sind viele Phänomene, die man an den amerikanischen Medien kritisieren kann, übertragbar auf das deutsche Fernsehen. Also »Brot und Spiele«. Und das hat »Max Headroom« zum Thema gemacht und das fand ich sehr gut. Das ist wirklich sehr treffend gewesen, was die da versucht haben. Das kritische Element, das Punkige ist für mich das Anarchische gewesen. So übersetze ich Cyberpunk für mich. Das ist einmal die Aufnahme der ganzen neuen technologischen Tendenzen und zum anderen, das ist auch ganz klar, die Gesellschaftskritik.

 

 

Fantasyguide: Eine Erklärung dafür, warum Cyberpunk heute so wenig Erfolg hat, ist, dass der Punk fehlt.

 

Wolfgang Neuhaus: Da kann man sicherlich auch innerhalb der Cyberpunk-Autorenriege natürlich unterschiedliche Schwerpunkte ausmachen. Ich hab das für mich persönlich sehr stark darauf konzentriert, dass ich eben sage, dass es nicht nur um die anarchische Wirkung der Technologie geht. Es geht nicht nur um »die ungeregelten Spielfelder«, wie Gibson das nennt, in denen neue Technologien erprobt werden. Sondern meiner Meinung nach geht es auch um diesen Aspekt des Widerstands gegen gesellschaftliche Verhältnisse durch Technologie, also dass man Technologien auch dafür benutzt, um eben einen Widerstand zu organisieren. Das war für mich das Punkmäßige, das kann man anders sehen, aber für mich persönlich war das das Allesentscheidende. Das hab ich in »Max Headroom« gefunden. Gibson ist da neutraler, oder sagen wir bei Gibson stellen das einzelne Figuren dar. Wenn man an an den dritten Teil seiner »Neuromancer«-Trilogie denkt – da gibt es so Kunstkollektive. Er hat das modelliert nach Survival Research Laboratories, das war ein Künstlerkollektiv, das mit Robotern gearbeitet und die in Kunstperformances aufeinander gejagt hat. Das war für mich eher der Bezugspunkt. Oder Walter Jon Williams eben, der für mich ganz klar eher ein linker Cyberpunk-Autor gewesen ist und dann sicher auch John Shirley. Das waren eher die Autoren, die da vielleicht für diese Art Punk gestanden haben.

 

Und so kann es sein, dass der Cyberpunk zu einem Klischee auch geronnen ist und dass man eher bei einer bestimmten Cyborg-Literatur bleibt, in der die Leute mit Maschinen verbunden sind, dass es nur um die Mensch-Maschine-Verbindung geht. Und dass es technizistisch beschränkt bleibt und tatsächlich andere Dimensionen, die für mich im ursprünglichen Cyberpunk vorhanden sind, dann eben wegfallen.

 

Fantasyguide: Wie bist Du eigentlich grundsätzlich dazu gekommen, über SF nachzudenken und dann darüber zu schreiben? Also zum Essay-Autor zu werden.

 

Wolfgang Neuhaus: Darüber habe ich tatsächlich auch viel privat nachgedacht. Im Grunde sind das ja Entfremdungseffekte. Das ist etwas, das für mich damit zu hat, dass ich in jungen Jahren irgendwann einfach die großen Dimensionen realisiert habe. Das mag in frühester Teenager-Zeit gewesen sein. Also ich bin nicht derjenige gewesen, der mit Dreizehn, Vierzehn auf ein Teleskop gespart hat und ich bin auch niemand gewesen, der eigene Computer zusammengesetzt oder sonstwie mit Chemikalien experimentiert hat.

 

Also ich bin eher jemand gewesen, was man wohl einen Tagträumer nennt. Der also auch stark im Sinne eines Eskapismus ein Medium gesucht hat, um nicht eine Interpretation, aber um irgendeine Art der Fantasiereflexion zu finden, die völlig unbewusst ein Ausdrucksmedium sein konnte für das, womit man langsam konfrontiert wurde, nämlich mit einer doch ziemlich brutalen und ziemlich unverständlichen und auch ziemlich unangenehmen Wirklichkeit. Das beginnt mit den ersten Bildern, die man als Kind sieht, von dem ausgehenden Vietnam-Krieg und das endet bei der Erkenntnis, dass es Atombomben gibt.

 

Und für mich war Science-Fiction sehr schnell ein Medium, erstmal andere Zeiten kennenzulernen und zwar die Welt der Zukunft, die eben besser ist. Eigentlich bin ich über die visuellen Medien zur Science-Fiction gekommen. Und ich bekenne mich: Ich bin tatsächlich Trekkie der ersten Stunde. Ich saß 1972 vor dem Fernseher und habe die ersten Folgen gesehen. Und das hat mich gefesselt, ohne dass ich es verstanden habe; ich hatte nicht die Mittel, das zu reflektieren, also keinerlei Begriffsverständnis oder keinerlei weltanschauliche Ebene um überhaupt auf solches zu sprechen zu kommen, weil die Menschheit ja vereint war in den Folgen. Auf der einen Seite bekam man den Ost-West-Gegensatz mit, also 1972 war das Breschnew gegen Nixon.

 

Das Gegenmodell war Star Trek. Man nahm es nur so diffus auf. Ich sah, dass ein Asiate und ein Amerikaner, ein Russe offensichtlich prima zusammenarbeiten können. Ohne große politische Konflikte, zwischenmenschliche vielleicht, aber das war für mich also schon beeindruckend. Ich will das im Nachhinein jetzt gar nicht neu interpretieren, aber ich war daran sehr interessiert. Und dann natürlich dieser berühmte Vorspann »Unbekannte Welten […] die nie ein Mensch zuvor gesehen hat« – das brennt sich in das Gehirn eines Elfjährigen einfach ein. Ich wurde Trekkie, weil es mich noch mehr begeistert hat als Raumpatrouille Orion.

 

Gut, die Zeit der Teenager-Jahre ist eine sehr schnelle Entwicklungszeit und mein nächster Serienfavorit war das Das blaue Palais von Rainer Erler. Die Erstausstrahlung 1974 habe ich nicht gesehen, aber die Wiederholung Ende der Siebziger und da war ich ziemlich angetan. Auch da wundert es mich, dass niemand ein Remake versucht. Genügend Fragen gibt es eigentlich, die man in dieser Art behandeln könnte.

 

Fantasyguide: Und warum hast Du angefangen, darüber zu schreiben?

 

Wolfgang Neuhaus: Es gibt wahrscheinlich verschiedene Antriebskräfte in dem Fall, weil sich die Ausgangssituation, die ich Dir gerade kurz beschrieben habe, wesentlich gar nicht verändert hat, weil es ein gewisses Unverständnis gibt über die Zusammensetzung dieser Welt, beziehungsweise von einer ganzen Reihe von Phänomenen, das heißt, ich hatte als Überlebenstechnik auf jeden Fall immer den Antrieb, mich damit auseinander zu setzen. Um es zu verstehen und vielleicht auch zu Veränderungen beizutragen. Also ich hab schon früh angefangen, mich auch mit politischen Fragen zu beschäftigen. Ich habe mich auch im Studium mit Sprache beschäftigt oder mit Spracheffekten. Es geht nicht nur um Rhetorik, sondern auch um Fragen der Sinnproduktion, also wie Sinn produziert wird. Weil ich Kulturwissenschaftler bin und mit den technischen oder naturwissenschaftlichen Aspekten der Science-Fiction gar nicht so vertraut bin. Diese Frage nach Sinn ist für mich einfach eine, die lebenswichtig ist und das fand zunehmend im Medium Science-Fiction statt.

 

Und die andere Sache ist eine gewisse Unzufriedenheit vielleicht auch mit Meinungen, die andere geäußert haben. Ich erwähne das am Anfang dieser Cyberpunk-Montage. Es gab ja Texte, die ich im Internet oder in den Heyne-Bänden als Nachworte zum Thema Cyberpunk gefunden habe. Cyberpunk ist für mich zusammengesetzt aus verschiedenen Elementen. Also es gab die Front der Cyberkultur, also diese massiven Veränderungen, die eben auf die Menschheit insgesamt zukommen. Das geht ja weiter. Dann eben diese ganze Frage der Globalisierung und auch der politischen oder ökonomischen Ungerechtigkeiten, die damit verbunden sind. Und dann war es eben die Frage, mit der ich auch schon im Studium konfrontiert wurde: Inwieweit man über das Menschliche hinausdenken kann. Inwieweit verändert es sich und inwieweit wird es überschritten.

 

Anfang der Achtziger Jahre gab es eine große Welle mit französischer Philosophie an den kulturwissenschaftlichen Fakultäten. Da wurde darüber nachgedacht, inwieweit DER Mensch eine Konstruktion ist. Der Humanismus ist eine Denkformation, die es seit 500 Jahren gibt, ganz flapsig verkürzt gesagt. Und dann ist die große Frage: Wie kann man die reformulieren, kann etwas danach kommen? Und das sind eben Fragen, die habe ich persönlich mit der Popkultur verbunden. Das war auch eine Motivation, mich mit dem Cyberpunk zu beschäftigen. Das ist nicht nur eine philosophische Frage, sondern auch eine Frage der ganz praktischen, technologischen Dimension, die sich ja fortlaufend entwickelt. Fortschritte in der Medizin, Fortschritte bei den Materialwissenschaften, Fortschritte in der Informatik – das geht ja immer mehr zusammen und verstärkt sich gegenseitig.

 

Fantasyguide: Meinst Du, dass Du mit Deinen Texten etwas veränderst, oder verändern musst? Du steigst ja auch in Diskurse ein oder eröffnest welche. Irgendwie hast Du ja auch das Gefühl, nicht nur zu beschreiben, sondern auch voran zu bringen.

 

Wolfgang Neuhaus: Dabei gibt es natürlich auch verschiedene Ebenen. Es ist so, dass ich mir keine Illusionen mache. Ich sehe das mehr als einen kleinen Beitrag. Dass man versucht, zu Kulturprozessen, wie man sie selbst versteht oder erlebt, einen Beitrag zu leisten. Das ist auch eine Überlebenstechnik. Zugleich empfindet man ja die Notwendigkeiten, weil wir ja alle geworfen sind in ein gigantisches Geschehen, das auch über unsere Köpfe hinweggeht und uns auch zu Opfern der Geschichte machen kann.

 

Fantasyguide: Woran machst Du es für Dich fest, wenn ein Artikel misslingt? Im Buch hast Du es auch erwähnt, dass Dir Texte nicht gelungen sind oder nicht zum Abschluss gebracht hast.

 

Wolfgang Neuhaus: Manche Texte haben sehr lange gedauert, bis ich den Dreh gefunden hatte. Es ist eine Frage, ob man selber merkt, dass man etwas zu sagen hat zu einem Thema. Und ob es reif genug ist, um wirklich veröffentlicht zu werden. Es gibt viele angefangene Texte, die ich auf meiner Festplatte habe, die nie einen bestimmten Reifegrad erreicht haben. Wo ich das Thema nicht genügend durchdrungen habe, wo ich mir in dem Sinne auch keine Meinung gebildet habe. Wo mir auch teilweise Lektürekenntnisse fehlen, wo ich dann für mich jetzt keinen Zugang finde, der ein Essay rechtfertigen würde. Ich erwähne das zum Beispiel bei der Auftragsproduktion, dem Space-Opera Text. Der ist, naja nicht improvisiert, er war nur nicht zu Ende gebracht. Also ich hätte viel mehr lesen müssen. Ich war kein Space-Opera Kenner. Es war ein bisschen heikel, dass ich den Auftrag übernommen habe. Ich hatte damals mit Sascha Mamzcak telefoniert und am Telefon redet man sich den Text plausibel und man sagt: Ja, ist eine gute Idee.

 

Wo soll man jetzt anfangen mit einem Thema, zu dem man keinen persönlichen Bezug hat? Den hatte ich zum Beispiel beim Cyberpunk oder bei Philip K. Dick, dieser »Pop-Epistemologie« (Thomas M. Disch), die hat mich seit Anfang der Achtziger geflasht. Das war genau der Kick, weshalb ich Science-Fiction gelesen habe, das Mindblowing, dass man einfach total aus der Wirklichkeit herauskatapultiert wurde und einfach mit einer seltsamen, fremden literarischen Welt zurechtkommen musste.

 

Fantasyguide: Dick findet in Deinem Buch gar nicht statt.

 

Wolfgang Neuhaus: Ja, das liegt daran, dass ich ihn schon lange nicht mehr gelesen habe. Aber Dick war sehr wichtig für mich.

 

Aber zurück zur Frage. Man merkt, wenn man viele offene Fäden im Text hat. Ich habe eine Schreibweise, die nicht zur Nachahmung empfohlen ist. Ich schreibe sehr viel mit Bruchstücken, also mit Fragmenten. Ich arbeite mit Exzerpten. Alles, was ich durchdenke oder was ich an Ideen habe, schreibe ich sofort auf und ich fertige auch Exzerpte von gelesenen Werken an, also Primär- und Sekundärliteratur. Wenn ein gewisses Maß der Lektüre nicht vorhanden ist oder ein Maß an Spielideen nicht da ist, dann kann ich nicht darüber schreiben. Also meine Schreibweise besteht darin, dass ich meine Exzerpte durchgehe, meine Notizen, und dann eben die Texte baue. Das ist ungeheuer aufwändig. Daran bin ich auch schon gescheitert.

 

 

Fantasyguide: Der Artikel über Singularität ist ja aus Notizen aufgebaut.

 

Wolfgang Neuhaus: Genau. Das war eine Notlösung. Es ist aber nicht so, dass da nichts drinsteht. Ich habe es auch nicht geschafft bei dem Cyberpunk-Text einen durchgehenden Text zu schreiben. Das war zu viel Material. Anders bei dem Cyberspace-Text. Da hatte ich meine Materialien und die konnte ich dann aufnehmen und so daraus einen Text bauen. Insofern geht das manchmal auf und manchmal klappt es dann eben wieder nicht.

 

Fantasyguide: Es war schwierig zu erkennen, ob die Artikel überarbeitet wurden.

 

Wolfgang Neuhaus: Wenn man anfängt alles zu überarbeiten, hätte das seine Zeit gedauert. Weil man hätte sich erstmal wieder in »Max Headroom« reindenken müssen. Dann hätte man die neuere Sekundärliteratur lesen müssen. Es gibt ja auch immer noch neue Bücher zum Cyberpunk, die Reflexionen gehen ja immer weiter und dann wär es zu aufwändig geworden. Und da ist eben die Frage, ob es sich für diese Veröffentlichung gelohnt hätte.

 

Ich habe es an zwei Stellen gemacht, also das Buch ist ja überarbeitet. Auch dank Erik Simon, der mir einige Dinge angekreidet hat, die tatsächlich grammatikalisch falsch waren. Es waren einige Dinge zudem ungeschickt formuliert und darauf hat er mich aufmerksam gemacht. Und das hab ich ja in allen Texten verbessert. Also eine Überarbeitung hat stattgefunden, aber ich wollte mich nicht darauf einlassen, es inhaltlich zu überarbeiten, weil ich viele Monate damit beschäftigt gewesen wäre.

 

Fantasyguide: Das bringt mich zur Frage: Kommt da noch mal ein vierter allgemeiner Kommentar zu SF?

 

Wolfgang Neuhaus: Es gibt ja noch weitere Kommentare. Das ist einmal der Text fürs SF-Jahr 2013, in dem ich mich mit dem sekundärliterarischen Werk von Stanisław Lem auseinandergesetzt habe. Lem bezeichnete die SF als »die endgültige Art der Phantastik«.

 

Und die Auseinandersetzung mit dem Buch zu Philosophie und Science Fiction von Hans Frey im SF-Jahr 2015 war auch ein Kommentar zur Science-Fiction, weil ich das Verhältnis zur Philosophie hineinbringe. Dann habe ich ein Jahr später über Olaf Stapledon geschrieben; der Essay hat auch allgemeine Aspekte, die für mich von Bedeutung sind.

 

 

Fantasyguide: Liest Du denn neuere SF? Oder bist Du so mehr in dem Alter, in dem Du denkst: Da kommt nichts mehr?

 

Wolfgang Neuhaus: Generell neige ich dazu, das ist wahrscheinlich eine Altersfrage, im Moment die Klassiker wieder zu lesen. Das ist vielleicht auch eine Form von Eskapismus. Ich habe mich in den letzten Jahren auch mit den Strugatzkis beschäftigt, die für mich auch in den Achtzigern sehr wichtig waren, und habe einen Text für das Jahrbuch geschrieben (2017). Es ist eben keine Retro-Angelegenheit, man merkt nur, dass da ein gewisser Teil der Science-Fiction in einem historischen Loch verschwindet, nämlich die ganze Ost-Science-Fiction. Was man sehr kontrovers diskutieren kann. Der Strugatzki-Text war für mich ein Versuch, ein für mich doch sehr wichtiges Kapitel oder eine wichtige Entwicklung, eine Seitenlinie der Science-Fiction vor dem Vergessen zu bewahren. Das ist sehr wichtig nach meinem Dafürhalten, da die Strugatzkis eine Referenz waren – über die Verbindung mit der Utopie.

 

Die Science-Fiction ist im Grunde ein so eine Art Zwitter-Genre aus ganz verschiedenen Einflüssen, weitaus mehr als andere Genres, denn es gibt eben untergründige Verbindungen zur Philosophie, zur Wissenschaft, zu Utopien und vielleicht auch zu anderen Kunstrichtungen und das ist in anderen Genres nicht der Fall wie Krimi oder Liebesroman. Die Science-Fiction ist eben für mich auch deshalb so reizvoll, weil sie – mir fällt kein schöneres Wort dafür ein – ein kaleidoskopisches Genre ist in gewisser Weise, weil es ist ein Splitter-Genre ist, das sich aus unterschiedlichen Bestandteilen zusammensetzt, was es auch so schwierig macht, es zu definieren. Ich dachte, Du würdest mich fragen, wie ich Science-Fiction definiere, da hätte ich verzweifelt überlegt.

 

Fantasyguide: Das hast Du im Text sehr ausführlich getan …

 

Wolfgang Neuhaus: Es ist ein Genre, was auch eine gewisse Aufnahmefähigkeit voraussetzt, es sei denn, man bleibt bei einer bestimmten Art von Space-Opera stehen. Für mich war der spezielle Kick der Science-Fiction einmal die utopische Projektion, also die Strugatzkis, dann das Gedankenexperiment, was am besten Lem kann, weil er am konsequentesten alles durchdenkt, und eben die Pop-Epistemologie und das war besonders Philip K. Dick. Und das sind eigentlich drei unterschiedliche Dinge. Das kann man nicht richtig zusammenrühren.

 

Mit Peter Kempin zusammen habe ich spekulative Dialoge geschrieben und näher bin ich an die Science-Fiction ja nicht herangekommen. Ich bin kein Literat, sondern ich habe ja eher diese Philosophie-Fiction mitverfasst, was Science-Fiction eben auch sein kann. Das habe ich für mich doch erobert. Wir haben uns an Lem orientiert. Aber es ist eine andere Art von Science-Fiction, als wenn man jetzt die Textur einer Cyberpunk-Welt beschreibt oder wenn man galaktische Kriege mit den Xsor beschreibt, wofür ich nie so ganz große Begeisterung hatte. Science-Fiction in ihren ganzen Facetten ist wohl nicht für jedermann und es gibt verschiedene Zugänge, gerade weil es ein Splittergenre ist. Man kann sich den Philosophiefragen à la Lem nähern, man kann sich auch über das reine Vergnügen annähern – sie sei jedem gegönnt, die Weltraumschlacht …

 

Fantasyguide: Du schreibst ja in Deinem Lem-Artikel auch ziemlich ausführlich über den Widerspruch zwischen dem Theoretiker Lem, der sich mit der SF beschäftigt hat und dann in seinen eigenen Werken da nicht unbedingt herankommt.

 

Wolfgang Neuhaus: Ja, er hat ja zum Teil strenge Kriterien entwickelt, wie die Plausibilität oder die Ableitungswahrscheinlichkeit sehr hoch sein soll der Phänomene, die man in einem SF-Roman beschreibt. Aber wenn man sich sein bedeutendes Werk Solaris anschaut, das für mich neben der Zeitmaschine der wichtigste Science-Fiction Roman überhaupt ist, da wird er dem Urteil oder dem Kriterium ja selber gar nicht gerecht. Wie auch? Weil er nicht beschreibt, was der Planet Solaris im Einzelnen tut oder wie er funktioniert – das kann er auch gar nicht. Das ist ja eine Fiktion. Das gestehe ich ihm zu, dass er nicht als Literat das umsetzen muss, was er als Theoretiker beschreibt. Obwohl ich die Theorie dann schwach finde, ehrlich gesagt. Also das habe ich ja auch in dem Artikel gesagt. Wenn er diese empirische Notwendigkeit formuliert, dann müsste er liefern. Das kann nur ein Teil der Hard-Science-Fiction.

 

 

Fantasyguide: In dem Artikel ging es ja auch um die Widerspruch zwischen dem Anspruch zur Wissenschaftlichkeit und dem Willen der AutorInnen zur Kunst. Ist das nicht auch ein Problem beim Essayschreiben? Den Anspruch, eine ausführliche Antwort auf ein Thema zu geben, aber gleichzeitig auch philosophisch-literarisch zu sein. Und gerade Deine Texte sind ja doch sehr philosophisch.

 

Wolfgang Neuhaus: Ja, ich bin sicherlich jemand, der die literarische Seite eines Essays etwas stiefmütterlich behandelt, weil für mich schon die Inhalte die Hauptsache sind. Ich bemühe mich schon um Sachaussagen. Der Essay ist ja eine Zwischenform. Im Grunde gehen wissenschaftliche Elemente ein und dann geht es ja um eine eher populäre Vermittlung wie im Journalismus. Zugleich ist man aber so frei, auch literarische Elemente einbauen zu können. Man kann in einem Essay alles machen, wie mal jemand gesagt hat, er muss halt nur gut geschrieben sein. Und darum bemühe ich mich schon.

 

Also man ist nie zufrieden. Aber der Essay ist für mich eine Form einer relativ hohen Freiheit, in der ich sowohl über sachliche Probleme, aber eben in der Form einer relativ lockeren Darstellung reden kann. Was in wissenschaftlichen Texten nicht möglich wäre, da wäre ich weitaus mehr gezwungen, mich an Diskurs-Regeln zu halten.

 

Mein Lieblingstext, um es mal so zusagen, der mir am besten gelungen ist, ist der Kommentar von 2014, in dem ich auf »Die Zeitmaschine« eingehe (Anm.: online als Der ganz große Wurf unter:). Der hat den besten Drive, der ist irgendwie mir am besten von der Hand gegangen. Den hab ich relativ schnell geschrieben.

 

Fantasyguide: Welche Bedeutung haben denn für Dich die Gatherlands, die monatlich stattfindenden Abende in der Berliner Buchhandlung Otherland? Wo Du gelegentlich Vorträge hältst und die sind ja ein wenig anders strukturiert als Essays.

 

Wolfgang Neuhaus: Ja, die Motivation ist genau dieselbe. Der Grund ist einfach ein Versuch, einen Beitrag zu leisten, weil ich nicht der Fan bin, der zu Conventions geht. Wenn man andere Leute trifft, die teilweise die Science-Fiction sogar besser kennen oder andere Sachen kennen, dann kann man auch besser diskutieren. Und Science-Fiction lebt für mich nur von der Diskussion, gerade auch aufgrund dieser Splittereigenschafften, das ist ganz wesentlich ein Genre, das die Beteiligung verlangt. Das sieht man ja auch an der Sekundärliteratur und der Fanaktivität. Das gibt es in dem Ausmaß in keinem vergleichbaren Genre. In der Fantasy oder beim Horror ist es anders strukturiert, vermute ich. Die Science-Fiction verlangt noch das Quäntchen Rationalität oder Reflexion, das bei anderen Genres doch eher fehlt. Für mich lebt die Science-Fiction auch von der engen Kopplung von Autor und interessierten Fans. Dass neue Ideen kommentiert werden und dass nach Fehlern gesucht wird, weil das eine relativ komplexe Literatur ist.

 

Science-Fiction ist sehr stark integriert in Lebensweisen und man kann sie nicht so einfach ablegen wie die Lektüre eines Krimis oder eines Liebesromans, die auf eine gewisse Weise viel näher an der eigenen Wirklichkeit sind, und das muss sie auch gar nicht. Sondern Science-Fiction wirkt durch diesen Anspruch, den sie hat, durch die Komplexität ihres Aufbaus und die Vielfalt ihrer Themen und die Vielfalt ihrer Gestaltungsmöglichkeiten wie ein »Kristall« im Alltag – im Sinne von Jean Paul Sartre: »Die Produkte der Kunst sind eine hermetische Fülle, die in der Alltagswelt funkelt«. Man kann sich von ihr nicht so freimachen. Das birgt auch Gefahren, das habe ich ja am Anfang auch angedeutet.

 

Wenn man die Science-Fiction als Überlebenstechnik benutzen möchte, bedeutet das auch, das man sich der Gefahr bewusst sein muss, dass sie vereinnahmen kann, dass sie einen auch verschlingen kann. Die Erfahrung der Fremdartigkeit, aus der heraus man zur Science-Fiction kommt, kann umschlagen in eine zweite Fremdartigkeit, in der man sich selber einkapselt, um zu überleben, in der man aber dann immer fremder in seiner eigenen Umwelt wird. Also man produziert seine eigene Fremdartigkeit aus Ärger, Verzweiflung und Traurigkeit vielleicht über die wirklichen Fremdartigkeiten. Nur das ist eben keine Lösung in einer Welt, die entweder mit den Fremdartigkeiten nicht umgeht oder andere Lösungen dafür hat.

 

Ich habe mir auch einen Schutz aufgebaut. Der Schutz setzt sich bei mir nur anders zusammen. Ich meine, auch Liebesromane werden aus genau den selben Gründen gelesen, das ist schon richtig. Als eine Art Betäubung auf dem Weg zur Arbeit oder sonst wie. Diese Gebrauchsweisen von Trivialliteratur sind auch sicherlich vielfach untersucht worden. Ich sehe aber schon, dass es eben auch die Möglichkeit gibt, sich auf einer höheren Ebene genauso zu schützen, indem ich mich meinetwegen mit Lem beschäftige.

Der »Golem« ist schon eine schwierige Lektüre, dann ist das für mich ein Schutz. Ich beschäftige mich mit dem, womit sich die anderen nicht beschäftigen und ziehe daraus den Kick. Das ist ganz banal. Insofern nutze ich den Abgrenzungseffekt der Science-Fiction auch. Ich beschäftige mich mit etwas, was die anderen nicht begreifen und sehe mich dann auch als überlegen an. Ich suche etwas, was mir eine Identität gibt. Das mache ich genauso, wie Jüngere Superhelden-Comics lesen.

 

Fantasyguide: Aber Du würdest Dir jetzt kein Golem-Cape überwerfen?

 

Wolfgang Neuhaus: Das nicht, aber der Golem ist ein mentales »Cape«. Es gibt allerdings keine Zusammenhänge, wo ich damit auftauchen könnte, außer beim Gatherland.

 

Aber SF ist ein Medium, in dem ich eben auch eine Identität finde, die mich vor dem Unbill des Lebens bewahrt. Vor dem, was für mich problematisch ist. Also das sind die Dinge, dich am Anfang genannt habe. Das sind vielleicht auch noch persönliche Dinge. Und dann funktioniert das genauso. Es ist reflektierter. Ich weiß, dass es so ist. Aber es schützt nicht vor dem ganz banalen Effekt, dass ich es brauche. Also das Thema ist unerschöpflich. Die Science-Fiction ist für mich ein absolutes Denk- und Lebenselixier.

 

Fantasyguide: Das ist ein schönes Schlusswort, vielen Dank für das Gespräch!

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Buch:

Die Überschreitung der Gegenwart

Science Fiction als evolutionäre Spekulation

Autor: Wolfgang Neuhaus

Taschenbuch, 360 Seiten

Memoranda (Golkonda), 9. März 2018

Cover: s.BENeš

 

ISBN-10: 3946503349

ISBN-13: 978-3946503347

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B07B7Q2RLY

 

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Inhalt:

  • Meine Affäre mit dem SCIENCE FICTION JAHR

  • »Das Raumschiff zerstört die klassische Lebensform«

  • Ein Genre vor der (Selbst)Auflösung?

  • Im Banne des Hyperraums

  • Fremdheit ist schwer zu ertragen

  • Am Vorabend der Singularität

  • Fantasieren auf der großen Skala

  • Am Nullpunkt der Posthumanität

  • Ein Realismus der höheren Art

  • Die Geschichte des Shrike

  • Zukunft als Farce

  • Ein Instrument der Sehnsucht

  • Wider den Empirismus der fantastischen Vernunft

  • Cyberface Max Headroom

  • Auf der Suche nach einer »Meta-Dramaturgie«

  • Simulation mit System

  • 2001 und die Frage der Transzendenz

  • Der Sturz in den Cyberspace

  • Das Posthumane in der Popkultur

Rezension zum Buch:

Die Überschreitung der Gegenwart

, zuletzt aktualisiert: 16.10.2023 21:13