Druckversion: Kleine freie Männer (Autor: Terry Pratchett; Scheibenwelt)

Kleine freie Männer von Terry Pratchett

Hörbuch

Rezension von Oliver Kotowski

 

Die neunjährige Tiffany Weh lebt im Kreideland. Dort sind die Dinge geordnet: Man hütet Schafe, macht Käse – und ärgerlicherweise muss Tiffany sich vermehrt um ihren Bruder Willwoll kümmern. Der kleine Quengler interessiert sich hauptsächlich für Süßigkeiten; doch selbst wenn er keine bekommen sollte, wird er immer und überall klebrig. Zwar ist es nicht so, dass Tiffany ihn hasst, doch um eine Jenny Grünzahn, ein gefährliches Feenwesen, zu vertreiben verwendet das Mädchen ihren Bruder als Köder. Als die Feenkönigin Willwoll entführt, beschließt Tiffany dennoch ihn zurückzuholen. Bei diesem beinahe aussichtslosen Unterfangen kann sie auf wenig Hilfe bauen: Die Hexe Fräulein Tick hat ihre sprechende Kröte zurückgelassen, die manchen Rat weis. Und dann sind da noch die kleinen freien Männer, ein tollkühner Haufen von Raufbolden. Aber um sich deren Unterstützung zu versichern, gilt es einige knifflige Rätsel zu lösen: So muss sie als Übergangskelda einen der Kobolde heiraten – Fiona, die Tochter der alten Kelda, lauert auf einen Fehler von Tiffany, damit sie selbst Kelda werden kann.

 

Das Kreideland ist auf dem ersten Blick eine Pastorale, wie sie in der Fantasy üblich ist: Die Schäferfamilien leben im den malerisch-schönen Hügeln ein friedliches und glückliches, wenn auch arbeitsames Leben; der Landesherr, der Baron, schützt die Bewohner vor fremden Feinden und hält sich selbst an die guten alten Traditionen. Doch nicht erst mit der Feenkönigin kommen Übel ins Land. Der Baron ist nicht nur sehr feindlich gegenüber Hexen, sondern er ist auch bereit, die Regeln zu brechen, wenn es ihm passt; es braucht dann eine starke Persönlichkeit, wie Oma Weh es war, um ihn zur Raison zu bringen – und Oma Weh ist jetzt seit einigen Jahren tot. Die Dorfbewohner sind Fremden gegenüber nur bedingt freundlich und in ihrer Dummheit lassen sie sich sogar zu Schandtaten hinreißen.

Es heißt, dass es auf dem Kreideland keine Hexen geben könne, da die Magie guten, festen Stein braucht und das Kreideland auf den Resten von Milliarden toter Meerestiere liegt: Kalk. Kalk aber ist weich. Dennoch ist da Magie: Es gibt die kleinen freien Männer und Tore zum Reich der Feenkönigin. In ihrem Reich liegt immer Schnee, seit sie sich im Streit von ihrem Mann Oberon, dem Elfenkönig, getrennt hat. Dort sind die Dinge vage und unbestimmt; wenn man sich nicht auf einen bestimmten Baum konzentriert, dann hat er weder Rinde noch einzelne Blätter. Dort ist alles von Träumen abhängig; es ist das Märchenland – allerdings sind die Märchen in den Märchenbüchern stark verdrehte und verharmlosende Geschichten: Die Feenkönigin ist eine harte und eiskalte Frau, die ihre Langeweile mit bizarren Veranstaltungen vertreiben will. Dort leben die Trome; diese sind Wesen, die Menschen in ihre Träume versetzen um sich dann von deren Seele zu nähren. Im Märchenland verschmelzen die Grenzen von Realität und (Alp-)Traum.

Die kleinen Männer haben allesamt flammend rote Haare und eine blaue Haut. Sie tragen einen Kilt, manche eine Weste oder einen Mäuseschädel auf dem Kopf: Es sind Rob Irgendwer Größter, der Doofe Wullie, der Mittelgroße Jock und die übrigen "Wir-sind-die-Größten!" Einst waren die Kobolde Untertanen der Feenkönigin, doch sie lehnten sich auf und einige siedelten sich im Kreideland an. Sie streifen umher um zu raufen und zu stehlen. Dazu sind sie trinkfreudig und außerordentlich respektlos – nur ihrer Kelda, einer Art Koboldkönigin, gegenüber nehmen sie sich zusammen. Und Hexen flößen ihnen Ehrfurcht ein; nur gut, dass der Kalk keine Hexen trägt!

Aber halt: Oma Weh war eine richtige Hexe – und ihre Enkelin Tiffany ist ebenfalls eine; es fehlt ihr nur noch die Ausbildung. Sie hat den ersten Blick und die zweiten Gedanken: Tiffany kann sehen, was wirklich ist, und allgemein akzeptierte Vorstellungen hinterfragen. Außerdem hat sie einen starken Willen und ist bereit sich mit ganzer Kraft für das richtige einzusetzen. Aber sie ist auch jung und unerfahren; manchmal sind die Ereignisse überwältigend und drohen das Mädchen zu überfordern – und ist sie nicht auch an der ganzen Misere schuld, weil sie Willwoll nicht liebt?

Tiffany ist die Hauptfigur. Sie ist durchaus rund und gut ausgearbeitet; sie entwickelt sich zu einer exzentrischen Figur, ohne ihre zentrischen Züge völlig zu verlieren. Die anderen Figuren sind sehr viel weniger entwickelt und im Rahmen der Scheibenwelt zentrisch (was bei den Kobolden nicht viel heißt); sie sind ein wenig typenhaft, haben jedoch alle eine Überraschung parat.

 

Der Plot ist für Fantasy-Geschichten, besonders für Kinder- und Jugendliteratur, recht üblich: Es geht einerseits um Tiffanys Entwicklung, die hier ihre ersten Schritte macht und in späteren Geschichten fortgeführt wird, und andererseits um eine Queste ins Märchenland um eine geliebte Person zu hohlen. Nun ja, Willwoll gehört aber zur Familie und es ist falsch, wenn ihn irgendjemand mitnimmt. Dieser Aspekt ist selbstverständlich eine Abspielung auf die bekannte Entführung in Feenreich, von der man vielleicht durch William Shakespeares Mittsommernachtstraum oder W. B. Yeats' Gedicht Das gestohlene Kind gehört hat – doch wer die Feenkönigin schon in Pratchetts Lords und Ladies kennen gelernt hat, der weiß, dass mit ihr nicht gut Kirschen essen ist. Diese Geschichte weicht markant von der humorvollen Fantasy ab, für welche die Scheibenwelt berühmt geworden ist. Zwar gibt es wieder parodistische und groteske Brüche mit der Norm, doch insgesamt ist es deutlich stärker eine Mischung aus Kunstmärchen und Abenteuer-Fantasy. Anknüpfpunkte mit den älteren Scheibenwelt-Geschichten gibt es nur wenige, daher eignet sie sich gut zum Einsteigen.

 

Das Hörbuch ist eine inszenierte Lesung, die von Boris Aljinovic trefflich vorgetragen wird. Es gelingt ihm jeder Figur eine eigene Stimme zu verleihen und je nach Situation angemessen zu variieren; der Running Gag ist Willwoll, der den Kobolden überraschend viel Interesse entgegenbringt: "Kleine, kleine Männer!" kommentiert er. Noch überraschender ist, wie sehr Aljinovic die Bedeutung davon durch Nuancierung der Betonung wandeln kann. Untermalt wird das Vorgelesene durch Musik und bisweilen Geräusche, wie knirschende Schritte im Schnee. In dieser Hinsicht ist die Inszenierung routiniert, aber nicht überragend.

Die Geschichte wurde wie üblich gekürzt; wer allerdings das Buch nicht gelesen hat, dem wird dieses kaum auffallen.

 

Fazit:

Tiffany und die "Wir-sind-die-Größten!" machen sich auf ins Märchenland um den klebrigen Willwoll vor der Feenkönigin zu retten. Ein guter Auftakt zu einer neuen Reihe von Scheibenweltgeschichten, die sich mit der Entwicklung der jungen Tiffany und Märchen befassen. Nun werden sich zweifellos zahlreiche erwachsene Hörer begeistern lassen, doch in erster Linie richtet sich das Hörbuch an jüngere Fantasy-Freunde – indes wird Aljinovics Stimmgabe alle gleichermaßen ins Feenreich entführen.

Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202404181039098b2c4ac2

Buch:

Kleine freie Männer

Autor: Terry Pratchett

Reihe: Scheibenwelt/Tiffany Weh

Original: The Wee Free Men (2003)

Sprecher: Boris Aljinovic

Random House Audio, März 2006

280 Minuten– Gekürzte Lesung

ISBN-10: 3866040946

ISBN-13: 978-3866040946

Erhältlich bei Amazon

, zuletzt aktualisiert: 09.01.2024 15:42