Kleiner Drache (Autor: Norbert Stöbe)
 
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Kleiner Drache von Norbert Stöbe

Rezension von Marianne Labisch

 

Das Titelbild stammt von Andreas Schwietzke und kann mich nicht begeistern, obwohl ich sonst die allermeisten Bilder von Andreas Schwietzke toll finde. Hier hängt es daran, dass beim Lesen des Romans komplett andere Bilder vor meinen Augen gestanden haben. Aber das wird sicher auch ein Stück weit Geschmackssache sein.

 

Xialong, eine junge Frau, leitet einen Laden, in dem es unter anderen Dingen auch Androiden gibt, die von echten Menschen kaum noch zu unterscheiden sind. Da dieser Laden dem Konzern gehört, den ihre Mutter leitet, macht sie sich berechtigte Hoffnung auf deren Nachfolge. Ihr Leben besteht aus Arbeit mit wenig Freizeit. Dennoch nimmt sie sich die Zeit, Onkel Wu auf dem Weg zur Arbeit zuzuwinken.

 

Eines Tages gerät ihre Welt durcheinander, als ein wichtiger Termin aus ihrem Kalender gestrichen wird, ihre Ansprechpartner nicht erreichbar sind und ihr Androiden-Assistent nichts mehr weiß. Glaubt sie zuerst noch an ein Versehen, erkennt sie das Gegenteil am nächsten Tag, als eine Person, die ihr aufs I-Tüpfelchen gleicht, ihren Platz einnimmt. Nun ist sie sicher, dass sie einen illegalen Klon hat, der sie ersetzt. Als die Polizei sie festnehmen will, ahnt sie, dass sie aus der Öffentlichkeit verschwinden würde, wenn man sie fasste. Sie nimmt einen Sexbot der neusten Generation mit und wendet sich Hilfe suchend an einen Hacker, den Onkel Wu ihr empfohlen hatte, als sie die Nacht zuvor bei ihm verbrachte. Diesen Hacker bittet sie, ihre Androidin Litse so umzuprogrammieren, dass sie autonom ist und begibt sich mit beiden zur großen Mauer, die mit Todesstreifen geschützt wird.

 

Sie erkennt, dass ihr bis dahin geführtes Luxusleben im Rest des Landes nicht stattfindet. Es hat ganz den Anschein, als sei die Landbevölkerung sich selbst und Verbrecherbanden überlassen worden. Abhauen sollen die aber tunlichst nicht, dann lieber beim Versuch getötet werden.

 

Xialong muss sich arrangieren, um zu überleben. Sie duldet, dass ihr Sexbot Litse allen dreien mit Sexdiensten das Überleben sichert und auch für das Ticket in die Freiheit sorgt. Der Leser erfährt mehr als Xialong: Dass sie drauf und dran war, den falschen Leute zu vertrauen, sich aber rechtzeitig an einen unerfahrenen aber zuverlässigen Schleuser wendet, der ihr die Flucht ermöglicht. Der Hacker bleibt auf der Strecke.

 

Im zweiten Teil macht Xialong eine weitere Wandlung durch. Obwohl Litse bei der Flucht ein Bein verlor, es keine Möglichkeit gibt, sie aufzuladen, will sie sich nicht von ihr trennen und versteckt sie in einem Müllberg.

 

Hier in Bangladesch in einem Arbeitslager muss Xialong sich selbst missbrauchen lassen, um zu überleben. Auch mit dieser Situation arrangiert sie sich und sucht sich einen »Beschützter«, der halbwegs erträglich ist und sie nicht schlägt. Sie arbeitet und kümmert sich ums Überleben. Indem sie vier teure Arbeitskräfte mit ihrer Geistesgegenwart vorm sicheren Tod rettet, verdient sie sich einen Passierschein für einen Tag in Freiheit. Den verbringt sie in einem Einkaufscenter, das mit futuristischen Hologrammen über die Armseligkeit hinweg täuscht. Hier kann sie endlich ihr auf einem Chip gespeichertes Geld zu barer Münze machen und sich freikaufen. Einer der von ihr geretteten Kollegen hatte sich zu ihrem neuen Beschützer gemacht und nie gegen ihren Willen mit ihr geschlafen. Diesen Mann kauft sie auch frei. Sie übernimmt einen Laden im Einkaufscenter und kann aufgrund ihres Erfolges und der Vorkenntnisse einen zweiten eröffnen. Sie schlägt die dort herrschende Verbrecherbande und findet einen Weg nach Peking zurück zu kehren, um sich ihre Identität zurück zu holen.

 

Im dritten Teil kehrt sie inkognito zurück und verschafft sich über Umwege Zugang zum eigenen Laden und kann ihren Klon ausschalten.

 

Hier habe ich zwar die Handlung gekürzt wieder gegeben und den Schluss verraten, aber um das Buch so besprechen zu können, wie ich das gerne möchte, muss der Leser dieser Rezension wissen, wovon ich spreche.

 

Ich habe einige andere Rezensionen gelesen und im Prinzip wird der Roman auch positiv aufgenommen, aber es scheint meiner Meinung nach auch ein paar Missverständnisse zu geben.

 

Ich glaube, dass der Autor in seinem Roman aktuell existierende Missstände kritisiert, die sich in Zukunft nur unwesentlich verschlechtert haben. Es gibt Länder auf dieser Welt, die ihre Bürger eher erschießen, als sie ausreisen zu lassen. Immer noch. Nur, wer sich wohl verhält, bekommt ein Visum. Wobei es in diesen Ländern häufig so ist, dass der, der reisen darf, schon privilegiert ist, denn die Landbevölkerung kämpft häufig in Armut ums Überleben. Das ist der erste Missstand der kritisiert wird.

 

Dann gibt es auch heute schon Länder, in denen die arme Bevölkerung davon lebt, dass sie unseren Müll auseinandernimmt und verkauft und dabei Gift einatmet. Dort, wo so viel Armut herrscht, kann es nicht lange dauern, bis die Arbeit auf den Halden von Kriminellen organisiert wird. Dort, wo Kriminelle die Organisation übernehmen, arrangiert man sich, oder man stirbt. Das Xialong so viel Verstand hat, sich hier im Sumpf anzupassen, ist eine Stärke. Sie hat einen unbedingten Überlebenswillen.

 

Die ausgesprochen harmlos beschriebenen Sexszenen werden häufig kritisiert, aber für mich gehören sie unmittelbar dazu, um diese Gesellschaft real zu spiegeln. Ohne sie wäre dieser Ort unglaubwürdig. Männer sind die dominanten Personen. Solchen Männern ist die Gleichberechtigung, sofern sie jemals davon gehört haben sollten, vollkommen egal. Der Stärkere bestimmt über den Schwächeren.

 

Dass Xialong es schafft, dieser Hölle zu entkommen, zeugt von ihrem Willen und ihrer Kraft. Sie hat sich hier Freunde gemacht, die sie aber gleich darauf aus Eigennutz ausnimmt. Das ist der Teil, der meiner Meinung nach nicht ganz stimmig ist. Xialong, die einsame Frau, hat sich endlich Freunde gemacht, sie lebt in Wohlstand und hier könnte ein Märchen enden, aber der Autor lässt sie all das zurücklassen, um in ihrer Heimat weiter das Leben zu führen, das sie längst als Scheinwelt durchschaut hat. Zu Beginn des Romans hätte man noch argumentieren können, dass sie nichts anderes kennt und es eben ungerecht wäre, einfach gegen eine andere Person ausgetauscht zu werden, aber nach allem, was sie erlebt hat, dürfte das nicht mehr gelten.

Sie hat zwar ihr Leben zurück, aber es zeichnet sich ab, dass sie darin nicht glücklich werden wird.

 

Sollte Norbert Stöbe Xialongs Weg allerdings in einem zweiten Band weiter verfolgen, würde ich das sehr begrüßen, denn dann könnten auch ihre Weggefährten wieder wichtige Rollen übernehmen. Hier sind sie Nebenfiguren, deren Verschwinden auch kritisiert wird, aber auch das sehe ich persönlich nicht kritisch. Eine Nebenfigur begleitet den Hauptcharakter immer nur ein Stück des Weges. Wie gesagt, ich würde mich freuen, wenn wir sie in einer Fortsetzung noch besser kennenlernen dürften.

 

Im Großen und ganzen hat der Roman mir sehr gut gefallen und ich hätte fünf Sterne vergeben, wenn der Autor mir besser erklärt hätte, was sie an ihrem Leben in China gereizt hat, und warum sie dort bleibt, obwohl sie sich nichts sehnlicher wünscht, als Freunde, die sie an anderer Stelle zurückgelassen hat.

 

Der Roman ist flüssig und gekonnt geschrieben, Langweile kam an keiner Stelle auf und das beschriebene Bangladesch beflügelte meine Fantasie bis in meine Träume, was ich als äußerst positives Zeichen werte.

 

Vier von fünf Sternen

 

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Buch:

Kleiner Drache

Autor: Norbert Stöbe

p.machinery, Oktober 2020

Taschenbuch, 376 Seiten

Cover: Andreas Schwietzke

 

ISBN-10: 3957652200

ISBN-13: 978-3957652201

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B08M4BZ9ZF

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition


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Erstellt: 13.06.2021, zuletzt aktualisiert: 23.02.2023 19:40, 19818