Kolumne: Erst krieg ich dich, dann fress ich dich
 
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Erst krieg ich dich, dann fress ich dich

Kolumne von Karin Reddemann

 

Diese Erinnerung an meinen Großvater ist nicht meine liebste. Ich fürchtete mich, wenn er das sagte und lachte und nach mir griff. »Erst krieg ich dich, dann fress ich dich.«

Meist entkam ich. Er war uralt und müde. Das war mein Glück.

Ich hatte schon als Kind immer Angst davor, nicht schnell genug zu sein. Zu langsam für den schwarzen Mann. Den Bi-ba-butzemann. Den Bullemann. Buhmann. Kornmann. Wassermann. Ich hatte auch Angst davor, auf der Aschenbahn überholt zu werden. Dass ich beim Völkerball auf dem Feld erstarren und tödlich getroffen würde. Als Letzte eine Treppe hinauf zu steigen. Zu stolpern, wenn andere schreiend fliehen.

Beim Laufen strengte ich mich an, ich war nicht die Sportlichste, aber flinker als die Kurzbeinigen und Fetten, und zu wissen, dass sie es wären, die gepackt würden, wenn da irgendwas hinter uns her käme, beruhigte mich.

Ich hasste den Plumpsack, der urplötzlich hinter mir stand und mich zwang, ihn zu jagen, um zu verlieren und in seine grausige Rolle zu schlüpfen. Wer hat sich das vor über hundert Jahren ausgedacht, um mich zu quälen?

»Dreht euch nicht um, der Plumpsack geht herum. Und wer ihn ansieht oder lacht, dem wird der Buckel blau gemacht.«

 

Später hörte ich von der Bloody Mary, und wie hypnotisiert stand ich vor dem Spiegel und flüsterte mir zu, es doch zu versuchen. Dreimal hintereinander den Namen aussprechen. Dann kommt sie. Hässlich wie die Hölle. Blutrünstig. Böse.

Mein Spiegelbild zeigte eine weiße Frau mit riesigen roten Augen, vielleicht war ich das, sie nickte mir zu und lächelte. Fremde Zähne, schwarze Lippen.

Bloody Mary. Bloody Mary. Noch ein einziges Mal. Sag’s schon.

 

Ich habe es nie getan. Ich bin vorsichtig. In Hotelzimmern sehe ich in jede Schrankecke, schau unter dem Bett nach, lasse die Tür zum Bad offen stehen, damit niemand in der Nacht die Klinke herunter drücken kann, um mich durch ein Geräusch unbeweglich zu machen. Ich trage dicke Socken, während ich schlafe, weil ich nicht barfuß in Scherben treten darf. Das würde meine Flucht blockieren, irgendjemand könnte das beabsichtigen. Irgendwas. Ich bin erwachsen, aber nicht blöd, ich hüte mich.

 

In Russland gibt es einen alten Mann namens Babajka, der vor dem Haus lauert und die Frechen in einen Sack stopft. Er schleppt sie fort, vermutlich frisst er sie. Das ist keine deutlich schlimmere Vorstellung als die, in einem Sack zu ersticken oder darin tot gedrückt zu werden.

Kleiner Schelm bist Du, weißt Du, was ich tu´?

Ich steck Dich in den Hafersack und bind ihn oben zu.

Und wenn Du dann noch schreist: »Ach bitte, mach doch auf!«,

dann bind ich ihn noch fester zu und setz mich obendrauf.

Die Melodie hat mir immer erstaunlich gut gefallen. So beschwingt. Das verniedlichte den Gedanken aber nicht, dass meine Großmutter mich platt sitzen könnte, wenn sie es wollte.

Beim russischen Babajka, neckisch kurz Baba, was sympathisch klingt, charakterlich aber irrelevant ist, fällt mir mein alter Bekannter Babadook ein. Ich nenne ihn so, weil er mich begleitet, seitdem ich die Angst vor dem kenne, der nicht sein sollte. Er wartet irgendwo, er ist ungeduldig, und mit seiner Unruhe wächst seine Wut. Wenn er da ist, muss ich schnell sein. Das bin ich aber nicht. Ich bin aus Stein. Tausend Jahre alt. Ich bin aus Eis. Da ist keine Sonne. Ich schmelze nicht.

Der Babadook kommt zu Besuch und bleibt einfach als ewig währender, mordshungriger Alptraum wohnen. Meine Eltern hätten niemals über ihn gesprochen. Sie haben den Namen des schwarzen Mannes nicht genannt, von dem ich immer gewusst habe, ohne ihn erklärt zu bekommen. Wie heißt er?

Nachtkrabb. Nachtgiger. Nachtbock. Hakemann. Vermummter Mann. Böser Mann. Hakemann. Boogeyman. El Coco. Mumus. Fremder. Angst. Schmerz. Tod. Vermutlich.

 

Märchen schüchterten mich nicht sonderlich ein. Mir war früh klar, dass Vögel Augen aushacken, Hexen brennen dürfen und hässliche Mädchen am Ende verlieren. Wirklich furchtbar fand ich einzig den Gedanken, bei jedem Schritt das Gefühl ertragen zu müssen, über spitze Messer zu laufen. Ich hätte keinen Prinzen gewollt.

Ich sage jetzt etwas Grundsätzliches über Kinderschreckfiguren, die es angeblich gar nicht gibt. Es genügt nicht, mit ihnen zu drohen. Man muss Beweise liefern. Wahre Geschichten erzählen. Wie die vom ungehorsamen Tom, der mal in dem gelben Haus schräg gegenüber gewohnt hat und plötzlich verschwunden war.

Weil der Wassermann ihn mit einem banalen Geschenk in den Ententeich gelockt hat, um ihn erbärmlich ertrinken zu lassen und seine kleine dumme Seele zu schlucken. Oder weil der Wolf ihn im Tannenwald gepackt, zerrissen, zerfetzt hat. Weil der böse Onkel ihn beim Spielen auf dem Hof hinter dem gelben Haus in verbotener Dämmerung geholt hat, um ihn lebendig zu häuten. Oder weil der Serienmörder aus dem Nachbarsort sein Grab verlassen hat, da es dort unten kein frisches Menschenfleisch gibt.

Die Auswahl ist groß. Wichtig ist, dass derjenige, dem von Toms verdientem Schicksal berichtet wird, Haus, Teich und Wald kennt. Das ist die halbe Miete, wenn man nicht als Lügner ausgelacht werden will.

Ich selbst kenne so manche Fälle, die tatsächlich passiert sind. Da muss man stets noch kräftig einen drauf geben, sonst wird man nicht ernst genommen. Egal auch. Selbst Schuld. Sollen sie sagen, das sei alles Unsinn. Sollen sie ungläubig glotzen. Ich glaube auch nicht.

Ich weiß.

Und halte mir die Ohren zu, wenn es flüstert:

Bloody Mary. Bloody Mary. Noch ein einziges Mal. Sag’s schon.

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Erstellt: 18.03.2017, zuletzt aktualisiert: 26.06.2022 18:51, 15433