Es ist schon eine ganze Weile her, dass Philip Krömer mit seinem Debüt-Roman ymir oder aus der hirnschale der himmel für Aufsehen sorgte. Neben Erzählungen und der Arbeit als Herausgeber blieb offenbar wenig Zeit für einen weiteren Roman. Doch nun erschien sein zweiter Roman Kumari im Septime Verlag.
»Kumari« ist der Titel für ein als Kindgöttin verehrtes Mädchen in einigen Religionen. Philip Krömer wählte die nepalesische Variante als seine zentrale Figur, sie dient als allwissende Erzählerin, bietet Außen- und Innensicht zugleich, um uns in eine Geschichte mitzunehmen, deren historische Ereignisse und Hintergründe vielen Leser·innen unbekannt sein dürfte.
Die Vorbemerkung des Autors weist uns auch gleich darauf hin, dass hier zwar real existierende Personen und ihr Schicksal eine Rolle spielen werden, die konkreten Ereignisse im Spiegel literarischer Fiktion reflektiert werden sollen. Die Lebensdaten der historischen Persönlichkeiten lassen dann auch gleich stutzen, enden doch alle, bis auf die Kumaris, im Jahr 2001. Dem Jahr der Handlung.
Nepal ist 2001 ein armes Land unter einer typischen Monarchie im Schatten zweier riesiger Nachbarn, unterliegt jedoch mit seinen Bergen, besonders dem Himalaja, einer großen touristischen Anziehungskraft, was viele ausländische Einflüsse mit sich bringt.
Diese Bandbreite spiegeln auch die drei vorangestellten Zitate von Mao Tsetung, aus dem Devi Mahatmya und aus einem Songtext der Talking Heads wider.
Das Buch ist in drei Tage des Opferfestes Dasain unterteilt und beginnt mit Fulpati, dem Tag der Blumen. Kumari beschreibt uns, wie sie in ihrem Audienzsaal die Gläubigen empfängt, die sich mit Geschenken an die reinkarnierte Göttin zumindest keine negative Beachtung zu erkaufen hoffen. Denn Taleju ist keine nette Hindugöttin, auch wenn sie in Form eines Mädchens verehrt wird. Der stilistische Kniff des Autors besteht nun darin, dass er hier tatsächlich die uralte Göttin selbst als Erzählerin zu Wort kommen lässt. Im Präsenz erklärt sie was und warum es passiert, denn sie ist allwissend und vermag in die Köpfe aller Menschen zu schauen. So kennt sie die Vergangenheit und kann die Gegenwart überall gleichzeitig verfolgen. Allein die Zukunft sieht sie nicht voraus. Eines nur ist gewiss. Mit der ersten Menstruation endet die Reinkarnation und die Mönche müssen den neuen kindlichen Körper der Göttin anhand von 32 Merkmalen finden.
Bis dahin lebt Kumari in einem engen Klosterumfeld. Da sie allwissend ist, lehrt man sie nichts. Da die Inkarnation mit dem ersten Blut endet, wird alles getan, dass sich die Kumari nie verletzt, sie darf kaum irgendwohin laufen und wenn, stets dick verpackt. Aufgezogen von einer speziellen Amme, bewacht von Mönchen. Kumari hält geheim, was sie alles von ihrem Umfeld weiß. Liebschaften, Laster, Betrug – die Göttin interessiert sich kaum wirklich dafür.
Es gibt zwei Ausnahmen: Der Kronprinz Dipendra und die Maoistin Rupa Rana sind die beiden Menschen, denen Kumari in ihren Gedanken folgt und deren Erlebnisse an den drei Tagen wir nun teilhaben.
Nepal steht vor entscheidenden gesellschaftlichen Veränderungen. Das Volk leidet unter der Armut, Gewalt und Korruption. Ideologien wie die von Mao Tsetung finden ihren Weg in die Köpfe. In den Grenzgebieten kommt es zu Aufständen, Dörfer werden »befreit«, das alte Kastensystem abgeschafft, die alte Elite getötet oder verjagt. Rupa Rana ist eine der Befreiten. Von ihren Eltern wegen Schulden des Vaters an den Großgrundbesitzer verkauft, schließt sie sich nur all zu gern den Maoisten und ihren Ideen an. Nach einem Angriff auf einen Grenzposten wird sie in die Hauptstadt gesandt, eine Botschaft zu überbringen. So zieht sie zu Fuß los.
Dipendra hingegen ist heimlich zum Maoisten geworden und hofft, seinem Vater, dem König, Reformen abringen zu können, um dem Volk zu helfen.
Das System brodelt von oben wie von unten.
Philip Krömer lässt seine Hauptfiguren Wege zueinander finden und beschreibt dabei viele Schichten und Strukturen Nepals. Wir lernen die Gewalt in den Vierteln Kathmandus kennen, den Hass der Gruppen aufeinander, das komplizierte System aus Religion und Macht. Wir verstehen, warum sich die Handlung und damit das Land auf blutige Ereignisse zu bewegt. Die symbolträchtige Verquickung von religiösen Mythen und den Ereignissen fesselt und fasziniert zugleich. Das Finale ist eine stilistisch begeisternde Darstellung ohne dass man je vergisst, hier eine fiktionale Sicht darauf zu erhalten. Selbst in den brutalsten Szenen bleibt der Autor poetisch und erreicht damit, dass wir nicht plump verurteilen, sondern die fremde Dynamik akzeptieren.
Aber es geht Philip Krömer nicht nur um die Bebilderung des Anfangs vom Untergang der Monarchie, ihm sind auch die Figuren wichtig. Ihre Käfige und die jeweiligen Wege hinaus, das Menschliche steht unbedingt im Vordergrund. Selbst wenn sich zum Schluss der Kreis schließt und die Göttin aus einer neuen Kumari heraus zu uns spricht, wissen wir um das Eingesperrtsein, dass sich das Kleinkind und die Göttin teilen.
Verleger Jürgen Schütz selbst veredelt das Buch durch ein elegantes Cover, auf dem eine Zeichnung der Kumari in Tracht zu sehen ist und das wohl nicht ohne Grund in leuchtendem Rot gehalten ist. Wie das im Roman so wichtige Rote Buch Maos und wie frisch vergossenes Blut.