Lanze und Licht von Kai Meyer
Reihe: Das Wolkenvolk Bd. 2
Rezension von Christian Endres
Mit »Seide und Schwert« hat Kai Meyer im Sommer des vergangenen Jahres den furiosen Auftakt zu seiner neuen Fantasy-Trilogie geschaffen. Dafür hat er die Karibik und seine Wellenläufer vorerst verlassen und sich ins alte China zur Zeit der Quing-Dynastie sowie das luftige Reich des Wolkenvolks begeben, um den jungen Niccolo auf seiner Suche nach dem mystisch-magischem Aether zu begleiten. Im Januar präsentierte Loewe den lange herbei gesehnten zweiten Band der Reihe – mit neuem Logo auf dem Buchrücken, aber vielen alten Bekannten und deren Abenteuern und Schicksalen in den Weiten Chinas zwischen den Buchdeckeln ...
»Lanze und Licht« macht da weiter, wo der erste Band der Trilogie aufgehört hat: Die schöne Mondkind ist nach wie vor im Auftrag des außer Kontrolle geratenen Aethers unterwegs, um die letzten der Xian zu töten und damit die Verbindung zwischen Himmel und Erde endgültig zu trennen, während Niccolo vom Volk aus den Wolken unschlüssig zwischen seiner unsterblichen Liebe zu Mondkind, seiner Pflicht gegenüber dem vom Absturz bedrohten Wolkenvolk und seinem eigenen Moralempfinden steht. Und während die von Drachen groß gezogene Nugua nach wie vor den kalten Todesgriff um ihr Herz spürt und dennoch weiter nach ihren schuppigen Ziehvätern suchen muss, erreichen auch der im Kostüm eines Rattendrachens gefangene und seiner Erinnerungen beraubte Feiquing und die gefährliche Schwertmeisterin Wisperwind den alten Drachenfriedhof, wo eine Überraschung auf sie wartet ...
Eine Überraschung erlebt indes auch Prinzessin Alessia vom Wolkenvolk, die vom intriganten Meister der Schatten ins Innere der großen Wolke gesperrt wurde und dort bald schon eine aufschlussreiche Begegnung mit dem Aether hat. Derweil kommt es zu ersten Kämpfen zwischen den Menschen aus den Wolken und den Raunen, dämonenhaften Baumgeistern aus den Wäldern am Boden. Niccolo und Mondkind treffen in der Zwischenzeit noch ein paar Mal aufeinander, und überhaupt fliegt plötzlich ein jeder durch die Lüfte, zumeist über zerklüftete Gebirgsketten oder Drachenskelette hinweg – auf Riesenkranichen, dem Rücken eines seelenfressenden Riesentausendfüßlers oder den gigantischen Luftschiffen der Geheimen Händler ...
Kai Meyers flotte Fortsetzung seiner neuen Saga ist nicht nur konsequent und qualitativ hochwertig – sie ist auch ungemein temporeich erzählt. Allerdings hätte es der Geschichte wohl ganz gut getan, wenn Meyer seinen Helden trotz aller Szenenwechsel und Schnitte ab und an eine Pause gegönnt hätte – und damit eben auch seinen Lesern. Mir fehlen in diesem tempo- und actionreichen Mittelband ein bisschen die Momente zum Luftholen und Verschnaufen, kurzum: Die Lagefeuerromantik und der passende Augenblick für einen Scherz, freiwillig oder nicht. Sicherlich hat auch die erhöhte Schlagzahl des vorliegenden zweiten Bandes ihre Vorteile und führt vor allem zu einem hohen Spannungsbogen über die gesamten 382 Seiten hinweg –der ein oder andere etwas ruhigere Augenblick hätte der Geschichte dennoch allemal gut getan.
Sieht man von der gelegentlichen Atemlosigkeit der Story einmal ab, überzeugt Meyers Stil aber einmal mehr auf ganzer Linie: Präzise, aber dennoch stets poetisch-ästhetische Beschreibungen der chinesischen Landschaft, trotz allem vorgelegten Tempos noch ausreichend (und ausreichend gute) Charakteristik der abwechslungsreichen Figuren sowie knackige Dialoge machen die Lektüre wieder einmal zu einem Genuss. Zwar fehlt das Zusammengehörigkeitsgefühl des Verbunds, den die Gemeinschaft noch im ersten Band verkörperte, doch kennt man die klassische Aufsplittung der Heldengruppe ja auch aus anderen Werken, sodass man hier nach kurzem Zögern der eigenen Begierde den Vortritt lässt und unbekümmert weiterliest – und sei es nur, um zuzusehen, wie die Handlung sich gleich einem chinesischen Seidenfächer vor einem ausbreitet und Facette um Facette gewinnt ...
Auch wenn das Logo des Loewe Verlags ein Redesign spendiert bekommen hat, knüpfen Aufmachung und Gestaltung des Mittelbands der Wolkenvolk-Trilogie nahtlos an den ersten Teil an: Ein robustes Hardcover mit schönem Papier und einem sauberen, großzügigen Druckbild, ein Schutzumschlag mit Prägung und einem recht ansehnlichen Covermotiv, eine Drachen-Vignette an jedem Kapitelanfang und natürlich ein Lesebändchen wissen abermals zu gefallen und steigern den ohnehin schon sehr hohen Lesegenuss zusätzlich, indem sie ihn um die bibliophile Komponente erweitern und diese vollauf zufrieden stellen.
Fazit: Kai Meyer legt den Turbo ein und präsentiert mit »Lanze und Licht« die vom Takt her deutlich gesteigerte Fortsetzung des brillanten »Seide und Schwert« – eine Fortsetzung, die ohne Wenn und Aber oder einen wie auch immer geartetem Stilbruch dort weiter macht, wo der Auftaktband begonnen hat; aber auch eine Fortsetzung, der aufgrund ihrer erhöhten Schlagzahl und -Kraft manchmal eben auch etwas die Luft und die Zeit für ruhige, vielleicht sogar lustige Momente fehlt, und die mir deshalb nicht ganz so stark erscheint wie der Vorgänger. Dessen ungeachtet gilt für alle, die bereits den ersten Band der Saga um das Wolkenvolk mochten: Zugreifen!
Mal zart wie eine Kranichfeder, mal hart wie eine Drachenschuppe – die deutsche Phantastik-Szene muss dankbar sein, Kai Meyer und seine Bücher zu haben.
Nach oben