Druckversion: Legenden im Exil (Fables Bd. 1)

Legenden im Exil

Reihe: Fables Bd. 1

Rezension von Christian Endres

 

Als Panini im Spätsommer passend zur Comic Action 2006 verkündete, die Lizenzen von Wildstorm und Vertigo für den deutschen Markt erstanden zu haben, stand für viele Comicleser zweierlei fest: Zum einen, dass mit diesen beiden Sublabels von DC (sprich: Detective Comics), der verlegerischen Heimat von Batman, Superman und Co., nach dem leider eher sang- und klanglosen Ende von Speed wieder eine Vielzahl gut bis sehr gut gemachter Erwachsenencomics nach Deutschland kommen dürften. Zum anderen murrte man hie und da aber auch, dass Panini – die mit den Lizenzen von DC und Marvel sowie neuerdings auch erfolgreichen Einzelserien wie beispielsweise Spawn von Infinity oder Conan von Dark Horse – mit diesem Schachzug einen weitern Vorsprung für seine bedenkliche Monopolstellung gesichert hat.

 

Ich persönlich kann beide Seiten verstehen, sehe es aber wie folgt: Der »bedenklichen Monopolstellung« Paninis stellt sich eben auch der nicht von der Hand zu weisende Vorteil für die deutsche Leserschaft entgegen, fortan wieder in den Genuss der interessanten, vielseitigen und anspruchsvollen Vertigo-Titel zu kommen, was zumindest für mich vieles von dem unwichtig erscheinen lässt, was sich hinter den Kulissen der Verlagslandschaft abspielt – erst Recht, wenn ich eine schön aufgemachte Ausgabe eines vielgelobten Comics aus den Staaten oder eine lange herbei gesehnte Neuauflage von innovativen, modernen Klassikern wie Gaimans Sandman oder Ennis’ Preacher in den Händen halten kann.

 

Ein weiterer dieser modernen, frischen Vertreter der Vertigo-Palette ist ohne Frage die interessante Fantasy-Serie Fables, deren erster Sammelband – »Fables: Legenden im Exil« – die US-Hefte eins bis fünf versammelt und kürzlich als eine der ersten Panini-Vertigo-Veröffentlichungen erschienen ist ...

 

Fabletown ist das Refugium der Fables – also die Zufluchtsstätte der Gestalten und Wesen aus Märchen, Fabeln und Sagen, die ihre Heimat nach der Invasion des Märchenlandes durch den im Moment noch recht namenlosen großen Feind haben verlassen und sich nun irgendwie im New York unserer Zeit zu Recht finden müssen. Dabei werden sie nicht nur von dem Feind ihrer Vergangenheit bedroht, sondern scheinbar auch von innen, als ein Mord die Gemeinde der Fabelwesen kurz vor deren Gedenktag an die alte Heimat erschüttert. Nun liegt es am findigen Sheriff Bigby, einstmals der böse Wolf des Märchenlandes, und der schönen Snow White, stellvertretende Bürgermeisterin von Fabletown, den Mord an Snow Whites Schwester Rose Red aufzuklären und die labile Zweckgemeinschaft der Fabelwesen vor dem zerspringen zu bewahren ...

 

Lord Beast und Lady Beauty, die mit Eheproblemen und einem Fluch zu kämpfen haben und eine Bemerkung über Zwerge zu viel machen? Prinz Charming, der auf unnachahmliche Weise eine Kellnerin bezirzt? Rose Red, getötet und in blutige Stücke gerissen? Der junge Jack (Riesentöter, Bohnenzauberer) als dringlichster Tatverdächtiger? Der böse Wolf und Mörder von Großmüttern und Schweinen, nun der strenge Gesetzeshüter und Hard-Boiled-Ermittler von Fabletown im Trenchcoat? Schneeweißchen, die rechte Hand des Bürgermeisters, und eine nach außen hin starke, innerlich aber zahme, weiche und verletzliche Karrierefrau? Lord Bluebeard, der in all den Hunderten von Jahren nichts im Umgang mit Frauen gelernt hat? Diese und andere mehr oder weniger vertraute Komponenten aus dem volksmythologischen Background unserer Kultur sind es, die den Leser von Fables auf den ersten Seiten begrüßen und im Verlauf der spritzigen Geschichte quasi ständig begegnen (vielleicht an dieser Stelle gleich ein kleiner Tipp: Es lohnt sich durchaus, vorneweg die Charakterübersicht am Ende des Trades zu überfliegen, damit man die Gesichter und Figuren den jeweiligen Originalen zuordnen kann und auch gleich jede Anspielung mitbekommt und richtig interpretieren kann – weiß der Kuckuck, wieso man diese Übersicht hinter die Stories gepackt hat und nicht als dramatis personae an den Anfang, wo diese Aufstellung eigentlich sinnigerweise hingehört).

 

Nachdem er die ersten Fables kennengerlernt und vorgestellt bekommen hat, genießt der Leser einen schönen, undurchsichtigen Krimi mit skurrilen Figuren und im wahrsten Sinne des Wortes phantastischen Begebenheiten und Entwicklungen, angereichert mit einer Reihe interessanter, abgewandelter und großartig interagierender Märchenfiguren im New York unserer Zeit, die viele ihrer »märchenhaften« Züge bewahrt, aber eben auch gewandelt und an die heutige Zeit angepasst haben.

 

In den ersten beiden Kapiteln positioniert Willingham seine Figuren und füttert und lockt seine Leser sowohl mit den ersten Indizien im mutmaßlichen Mordfall (zu denen er im letzten Kapitel klug und in Tradition großer Krimiautoren eine Brücke schlägt – aufmerksam lesen lohnt sich also, wenn Bigby den Tatort sichtet!), während er auch immer mal ein paar Brocken dazu fallen lässt, weshalb die Märchengestalten denn überhaupt ins Exil mussten. Dann gibt es ein bisschen wohldosierte, schön in Szene gesetzte Action, und nach einer kleinen Geschichtsstunde, in der wir endlich mehr zum Grund des Exils der Fabels erfahren, spendiert uns Mr. Bigby Wolf höchstpersönlich auch noch eine Salon-Szene, die eines Sherlock Holmes zu besten Arthur Conan Doyle-Zeiten ohne Frage würdig gewesen wäre (die hier aber sogar ein bisschen augenzwinkernd durch den Kakao gezogen wird, aber das ist okay und passt zum Setting und dem restlichen aufgeschlossenen Umgang mit den Märchen und Mythen). Und dann ist da natürlich noch das märchen-archetypische Happy End, das bei genauerer Betrachtung allerdings gar kein echtes »Gutes Ende« ist – oder eben die Quintessenz aller Happy Ends, je nachdem.

 

Getragen wird Bill Willinghams Story vor allem von Bigby Wolf – vor der großen Amnesie (also dem Setzen eines neuen status quo für alle Märchenwesen, denen die Flucht in unsere Welt gelungen ist) und der Flucht der Fabelwesen aus ihrer Heimat einstmals der große Schurke des Märchenlandes –, passenderweise einem Musterbeispiel eines zynischen, schwarzhumorigen Ermittlers von der Marke »Einsamer Wolf«. Doch auch sexy Karrierefrau Snow White, der durchtriebene Jack oder gar der galante Prinz Charming sind markige Charaktere, mit deren Hilfe man trotz unterschiedlich starker Präsenz im ersten Band eine Geschichte schön zu Papier bringen kann, wie Willingham beweist.

 

Der Charme von Fables lässt sich am einfachsten erklären, wenn man die Reihe auf die wesentliche Frage reduziert, die Willinghams Gedankenspielen und dem außergewöhnlichen Setting seiner Idee zu Grunde liegt: Was würde passieren, wenn man die uns allen seit Kindesbeinen bekannten Figuren aus Märchen und Sagen aus ihrer Heimat, der Märchenwelt, vertreiben würde und sie sich fortan – mehr recht denn schlecht organisiert – in unserer Welt, unserer modernen Gesellschaft zurecht finden müssten?

 

Darüber hinaus ist Willingham ein begnadeter, trickreicher und pointierter Erzähler. Ein Beispiel gefällig? Bitte sehr: Prinz Charming legt eine junge, hübsche Kellnerin flach, die er nachmittags im Café unter Einsatz seines Charmes aufgerissen hat. Dieser Szene spendiert Willingham eine Seite – ohne stupide Softporno-Ambitionen, wohlgemerkt, sondern mit feinem Humor und der tollen Unterstützung ästhetischer Bilder von Lan Medina. Es ist einfach lustig anzuschauen, wenn Prince Charming, der ach so edle Prinz und Kavalier zum großen Verführer und Liebhaber mutiert, während der Action im Bett einen Vergleich zwischen gutem Sex und dem Fechten zieht – und seine momentane Herzensdame dabei reklamiert, dass sie zwar nicht wisse, was eine Riposte sei, er aber auf keinen Fall zurückziehen sollte ...

 

Eine Seite, meine Damen und Herren, liebe Kinder. Eine Seite ...

 

Um das Artwork von Lan Medina zu beschreiben, genügen zwei Worte: Märchenhaft. Klassisch. Das erste umschreibende Wort ist hierbei klar ein [verdienter!] Superlativ, das zweite eine objektive Einschätzung und Einordnung von Medinas Zeichenstil. Märchenwesen in New York kann man nur auf zwei Arten darstellen – cartoonhaft und vollkommen übertrieben (ich denke hier an einen Bill Sienkewicz oder an einen Humberto Ramos), oder aber mit einem klaren, feinen Strich. Medinas Zeichnungen fallen sehr zu meiner Freude in die zweite Kategorie, haben den Touch und den Charme goldener(er) Zeiten und harmonieren großartig mit der Story. Detail- und abwechslungsreich, ansprechende Perspektiven, gute Mimiken und Proportionen, aber eben auch gut in Szene gesetzte phantastische Elemente und Eigenheiten – hier stimmt einfach alles. Dazu kommt die sehr schöne Farbgebung und kleine Gimmicks wie Bigbys Wolfsschatten oder Rückblenden im Märchenspiegel oder mit Schriftrollen-Rahmen, sodass am Ende unterm Strich ohne Frage die optische Höchstnote steht.

 

In Sachen Aufmachung reiht sich auch der erste Band um die märchenhafte Exilgesellschaft optisch wie verarbeitungstechnisch in die Reihe bisheriger DC- oder Marvel-Titel bei Panini ein, was heißt: Gutes Papier, guter Druck, schmucke Klappenbroschur und ein sehr hübsches, zu Recht mit einem Eisner-Award prämiertes Cover von James Jean (selbstverständlich mit der mittlerweile so beliebten und bewährten Oberflächenveredelung via Drucklack). Als Extras finden sich im Anschluss an die ersten fünf Comic-Abenteuer der Fables noch eine Übersicht der in diesem ersten Storyarc vorgekommenen Märchenfiguren und ihrer heutigen Gestalt (die man, wie weiter oben schon erwähnt, am besten vor Lektüre des Bandes liest,), und zum Schluss gibt es dann noch eine sehr hübsche Kurzgeschichte von Fables-Erfinder Willingham höchstpersönlich, die dieser sogar mit zwei sehr schönen, künstlerischen Schwarzweiß-Tafeln illustriert hat. Darin erzählt er, wie Bigby Wolf zu den Exilanten nach New York kam, rückt die Fables-Geschichten darüber hinaus in einen zeitlich-historischen Kontext und greift auch noch mal das auf, was schon in der Gedenktag-Rede des Bürgermeisters von Fabletown angerissen wurde – also die böse Macht, welche die Märchenfiguren und Sagengestalten aus ihren Heimatländern vertrieben hat. Sehr schön!

 

Fazit: Fünf Eisner-Awards sprechen eine deutliche Sprache, und im Fall von Bill Willinghams phantastischem Fables sprechen sie nicht nur das Lob einer Reihe avantgardistischer Kritiker aus, sondern tatsächlich die reine Wahrheit. Zumindest die ersten fünf Kapitel der innovativ-unterhaltsamen Serie, die wir im vorliegenden Auftaktband bestaunen durften, werden ihrem gigantischen Vorschuss an Lorbeeren und guten Kritiken vollauf gerecht und wissen sowohl was den Inhalt, als auch die Zeichnungen oder die Aufmachung und Extras angeht, vollauf zu überzeugen.

 

Wer diesen märchenhaft guten Comic verpasst, ist also höchstens selbst Schuld. Ich würde auf einer Zauberbohne in den Himmel aufsteigen, einen Riesen bekämpfen und zur Not auch das Rudel böser Wölfe zurückschlagen, das mich bei meiner Rückkehr auf die Erde erwartet, wenn ich im Anschluss nur diesen Comic lesen könnte ...

 

Ach ja, für alle Ungeduldigen und wolfshungrigen da draußen im finstren Märchenwald: Im März 2007 geht’s weiter mit Fables: »Farm der Tiere« ...

 

 

 

Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 2024041909115927585ab1

Comic:

Legenden im Exil

Reihe: Fables Bd. 1

Autor: Bill Willingham

Zeichnungen: Lan Medina

Paperback, Klappenbroschur

132 Seiten

Panini, November 2006

ISBN: 3866072694

Erhältlich bei Amazon

, zuletzt aktualisiert: 09.04.2024 09:36