Rezension von Torsten Scheib
Rezension:
La petite mort – »Der kleine Tod«. Nein, es ist keineswegs bizarr – oder belustigend – wie im französischen Sprachraum der Terminus für eine, eigentlich so wunderschöne Sache wie den Orgasmus lautet. »Geniestreich« trifft es wohl besser. Denn präziser kann die filigrane, delikate aber durchaus auf Wechselwirkung basierende Beziehung zwischen Liebe und Tod kaum definiert werden. Wo wir gleich bei der Schauerliteratur wären; dem Horror. Auch hier existierte stets eine solche Verbindung. Komplex, aber zugleich äußerst filigran. Ein Muster, das nur von höchst begabten Webmeistern gesponnen werden kann. Nichts für brachiale Zeitgenossen. »Balance« lautet das Zauberwort.
Meisterhafte Autoren wissen um das Gleichgewicht, wohingegen offensive, hitzköpfige Vertreter besagtes Muster brutal zerreißen und ihre Ansätze ins Unglaubwürdige und Lächerliche abdriften. Was dies mit John Everson zu tun hat? Recht viel. Denn das deutschsprachige Debüt des Bram Stoker Award-Preisträgers, Ligeia ist eine konstante Korrelation zwischen teils garstigem, teils auf leisen Sohlen daher kommendem Schrecken und ungezügelter, mitunter hilf- und wehrloser Leidenschaft. Ein schmaler Grat, welcher der Autor bereits mit seinem, im Jahre 1979 angesiedelten Prolog betritt und welcher die verhängnisvolle Ereigniskette schlussendlich in Gang setzt. Auch hier fängt es mit hemmungsloser, ungezähmter Leidenschaft an. Im Mittelpunkt: der noch unerfahrene Teenager Andy und die ältere, bedeutend erfahrenere Cassie. Was mit stürmischer Liebe beginnt, endet mit Tränen – und mehr. Am Strand und in den Überresten eines gesunkenen Schiffes. Schon hier erkennt man deutlich das außergewöhnliche Talent des Autors. Beinahe unmerklich kippt die Stimmung von sexy zu schrecklich, ist aber stets harmonisch und niemals erzwungen. Wie leicht sich diese Passage blitzartig in das literarische Gegenstück eines schwülstigen B-Movies hätte wandeln können, muss nicht weiter eruiert werden.
Doch damit fängt die Abwärtsspirale erst an. Die Gegenwart: Delilah, ein verschlafenes, überschaubares Hafenstädtchen an der US-Westküste, unweit von San Francisco. Eigentlich kein schlechter Ort zum leben, doch für Evan ist es zu einem Martyrium geworden – seit sein kleiner Sohn in den erbarmungslose Fluten des Pazifik ertrank und er es nicht hatte verhindern können. Denn seit Kindheitstagen ist Evan hydrophob. Wasserscheu. Und dennoch zieht es ihn Nacht für Nacht hinaus zum Strand und nach Gull’s Point, jener Landzunge, die eigentlich für Liebespärchen der geeignetere Ort ist. Fast scheint es, als würde etwas … jemand … nach Evan rufen. Oder ist es seine eigene, bleischwere Trauer, die ihn dorthin führt? Gut möglich, dass es auch eine Flucht nach vorne ist. Ein Ausblenden, dass sich seine Ehe mit Sarah in Wohlgefallen aufzulösen beginnt, seine Frau den Schmerz ob des unsagbaren Verlustes in Alkohol und Beinahe-One-Night-Stands zu ertränken versucht. Und Evans Job bei der Hafenbehörde? Steht freilich auch auf der Kippe.
Bis Evan eines Nachts in der Nähe zu Gull’s Point den verführerischen Gesang einer Frau wahrnimmt, ihm folgt – und auf ein makelloses, dunkelhaariges Wesen trifft: Ligeia. Schlagartig scheinen sämtliche moralische Restriktionen wie fortgewischt; ist Evan gleichermaßen fasziniert und besessen von dieser wunderschönen, geheimnisvollen Dame, aus deren Kehle solche herrlichen Klänge entspringen. Von Sarah unbemerkt, schleicht sich Evan in den darauf folgenden Nächsten aus dem Haus und eine verhängnisvolle und in höchstem Maße leidenschaftliche Affäre nimmt ihren Lauf. Bis Evan das Ganze brühwarm seinem Arbeitskollegen und Kumpel Bill über einem Feierabendbier beichtet. Jedoch wertet Bill die Story keineswegs als Quatsch ab, sondern nimmt sie ernst. Todernst sogar. Denn als Einheimischer kennt er die Mythen um jene rätselhafte Sirene, deren Auftreten stets von rätselhaften Toten umrahmt wurde. Bloß ist Ligeia kein Mythos; besteht ihr Lebensinhalt aus Gewalt, Furcht und unbändiger Lust, wurde Evan von ihr als neuestes Opfer auserkoren …
»Ligeia» wuchert mit einigen bemerkenswerten Pfunden. Beispielsweise mit der Ausrichtung des Romans. Erotischer Horror ist – siehe oben – stets eine gefährliche Gratwanderung, die im schlimmsten Fall zur Lächerlichkeit verkommen kann. Nicht so bei Everson, der den Leser förmlich an der Hand zu nehmen scheint und ihn raus auf eine düstere, raue See geleitet. Nahezu unmerklich, aber stets harmonisch wird aus Melancholie Begeisterung, aus Begehren blankes Entsetzen, aus Mythos Realität; einzig unterbrochen durch die heftigen Begegnungen Evans mit Ligeia, die trotz allem niemals plump wirken oder ihre Wirkung verfehlen. Beeindruckend. Dass die verführerische Antagonistin nur sehr langsam ihr wahres Geheimnis preisgibt, sorgt zudem für Spannung und Kurzweil, letzteres wird zudem von regelmäßigen Rückblenden verstärkt, die Ligeias Vergangenheit und das Schicksal eines Schiffskapitäns samt Crew im 19. Jahrhundert verstärkt. Auch hier gibt es keinerlei Abnutzungserscheinungen, hält Everson Spannung und wohlige Schauermomente konstant hoch. Wenngleich der Mann auch das blutigere Handwerk gut beherrscht beziehungsweise weiß, wann es angebracht ist, die Handbremse zu lösen. Jene garstigen Passagen erzielen dank der sorgfältig durchdachten Dosierungen stets den gewünschten Effekt und kommen zumeist unerwartet.
Es ist schön zu wissen, dass es Autoren von solchen Schrot und Korn gibt, welche die Tradition der klassischen Schauergeschichten mit der heutigen Form des Schreckens verbinden können – glaubhaft verbinden. In Ligeia trifft Edgar Allan Poe auf Guillermo del Toro, vereinigt sich das Lyrische mit dem Garstigen, komplettiert durch einen höchst originellen Ansatz und einem, stets den Umständen angepassten, dennoch gänzlich überwiegend einzigartigem Flair – der aber, und das vergisst Everson niemals, aus dem Momentum der Dramatis personae entspringt. Hohle Knalleffekte wird man in »Ligeia« nicht antreffen, dafür aber Personen, mit denen man leidet, trauert oder sie am liebsten auf möglichst kurzem Weg in die Hölle schicken möchte; mitunter auch den tragischen Helden des Romans höchstselbst. Einzig die Darstellung von Evans Kollegen und Kumpel, dem verschrobenen Bill schießt ein bisschen übers Ziel hinaus. So wird die vom Autor intendierte Wirkung eines Sidekicks, der für die Comic Relief-Passagen zuständig sein soll, mitunter ins Gegenteil verkehrt. Doch davon abgesehen, ist Ligeia ganz klar ein Pflichtkauf für Gruselfreunde jeglicher Couleur, da sowohl die Freunde des gepflegten Schauerns wie Anhänger der härteren Spielarten bestens bedient werden.
Fazit:
Mit »Ligeia« liefert John Everson nicht »nur« seinen deutschsprachigen Einstand, sondern auch einen bemerkenswerten Beweis seines beachtlichen Könnens ab, dessen Bandbreite von schaurig, hart, sexy, unheimlich und rasant nahezu jede Spielart des Genres bewundernswert abdeckt. Finsternis und Melancholie schmeckten selten so köstlich.
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