Magic Potion (Autor: Walter Diociaiuti)
 
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Magic Potion

Autor: Walter Diociaiuti

 

Aus der Anthologie Zwielicht II.

 

Die psychedelische Note von “Magic Potion”, einem Song der englischen Band “Open Mind”, verzweifelte den blonden Gitarristen dermaßen, dass er vor Frustration schier platzte, der bedrückende und glanzlose Raum tat sein Übriges.

Hansi spielte eine wundervolle “Gretsch–Tennessee–1959” in der Hoffnung, diese Gitarre würde sein Blut dermaßen in Wallung bringen, dass er vor lauter Lust einen Ständer bekam.

Diese sagenhafte orange Gitarre brachte absolut keinen Sound hervor, sie war ein hartes Brett und die Saiten gaben keinen Millimeter nach. Es war unmöglich, ihr auch nur den leisesten Ton zu entlocken.

Hansis eigentliches Problem bestand nicht darin, dass es nicht möglich war, ein Feuerwerk auf den Saiten abzubrennen. Einzig seine Hände waren nicht in der Lage, sein gottgegebenes Talent wie einst einzusetzen, als er die Massen reihenweise verzückte. Es sah so aus, als sei es genau in dem Moment verkümmert, als er ins Koma gefallen war.

Nein, er konnte es wirklich nicht mehr. Er hatte gehofft, seine Lieblingsnummer würde seinen Kopf frei blasen und ihm die alte musikalische Ader zurückbringen, die im Nirgendwo verschwunden war.

Aber es war einfach nicht sein Tag.

Die gleiche Geschichte wiederholte sich jede Nacht und das schon exakt ein Jahr lang. Genau seit dem Zeitpunkt, als eine Überdosis LSD, aufgelöst in einer Tasse Kaffee und versetzt mit einem Schuss Heroin, ihn in eine Schockstarre versetzt hatte, aus der er sich bis heute nicht mehr befreien konnte. Ein unscharfes Bild voller lebhafter Lyrik materialisierte in seinem Geist; seine verlorenen Erinnerungen trugen den sauren Geschmack vergangenen Ruhmes und kämpften gegeneinander, um wieder aktuell zu werden. Sie waren noch da, unsterblich, tief in ihm, und malträtierten seinen Kopf und seine Seele.

Ein Jahr der Passivität waren genug für jemand wie ihn, der gewöhnlich seine Gitarre mit ins Bett nahm und selbst im Traum noch an neuen Songs feilte. Die bittersüßen Geister der Vergangenheit jagten ihn in Form von Traumbildern, in denen er sich samt seiner Band vor Tausenden von feiernden Menschen spielen und brillieren sah, bejubelt von jungen, hysterischen Mädchen, die nur darauf warteten, die Nacht mit ihm zu verbringen, dem blonden, launigen Gitarristen der Orange Skies. Hansi und Brian Jones, der Rolling Stone, der weniger Monate vorher gestorben war, glichen sich wie ein Ei dem anderen. Er wurde „Der blonde Engel“ genannt.

Hansi beobachtete, wie seine blonde Pagenfrisur im Wind der Bühne verwirbelt wurde, wie die Luft von mächtigen Peitschenhieben durchschnitten wurde. Die Gitarre hing über seinem Becken, drückte an der samtweichen Kordhose und er entlockte ihr mit wildem und geschicktem Zupfen einen Sound, der das Publikum mit offenem Mund staunen ließ.

Eine wilde Version des Krautrock, der die Meute in Ekstase versetzte. Hans Meier, der neue Saitenvirtuose am Firmament des Swinging Augsburg, war das Idol aller aufstrebenden jungen Gitarristen und der Schwarm aller weiblichen bayrischen Teenager. Überdies hatte die Band gerade einen Vertrag mit einer der großen Plattenfirmen unterschrieben und ihre erste Langspielplatte aufgenommen. Wirklich nicht übel für einen Jungen, der noch nicht einmal zwanzig Jahre alt war.

Die Welt schien nur auf seine Wünsche zu warten, sie gingen umgehend in Erfüllung. Es schien keine Grenzen für ihn zu geben. Die Begegnung mit Ruth Wolken, einem berühmten und attraktiven deutschen Model, konnte man nur als Liebe auf den ersten Blick bezeichnen.

Und diese Begegnung war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Wenig später war die verhängnisvolle Party anlässlich des Erscheinens ihrer neuen Single “Gimme Mary Jane/Ride the Rainbow”, die als Vorabveröffentlichung zu ihrer LP auf den Markt kam.

Es war soweit. Sie hatten den Olymp des Rocks erklommen.

Karl Königs luxuriöse Villa lud all die führenden Persönlichkeiten der deutschen Undergroundszene ein: Musiker, Künstler, Dichter und angesagte Stars und Sternchen, alles Anhänger der Krautrockbewegung. Die Cremè de la Cremè der deutschen Szene gab sich die Klinke in die Hand.

Orange Skies spielten ihre beiden Singles live und alle fühlten sich vorschnell als die neue High Society, welche die Welt aus den Angeln heben konnte. Fast jeder nahm Spacecakes zu sich oder einen tiefen Zug aus der Wasserpfeife, welche die Runde machte, bis sie zu Captain Trip zurückkehrte, der sie umgehend wieder füllte und auf die Reise schickte.

Die Avantgardisten tranken Kaffee mit einer Handvoll bunter Pillen und magischer Pilze und schwebten rittlings auf Wild Horses in den weiten Sphären einer inneren ekstatischen Welt, dem weißen Mann begegnend.

Madam Hero kam ohne Einladung.

Hansi ritt natürlich an der Spitze. Der Ruhm kam zu schnell für ihn. Über Nacht zum Star. Die Speichellecker um ihn herum. Das exzessive Leben. Drei Pillen anstatt einer. Das Bedürfnis, zu den anderen dazugehören und dabei immer die Nummer Eins sein zu wollen, immer einen Schritt weiter als die anderen zu gehen. Seine übersteigerte Eitelkeit.

Plötzlich gingen ihm die Lichter aus. Es folgte eine Melodie, die Melodie einer Krankenwagensirene und der lange Weg zum Hospital. Der Anfang vom Ende. Das Ende von allem.

Er verbrachte endlose Tage, den Körper auf dem verwahrlosten Bett fixiert. Um ihn herum ein einziges Gedränge: Seine Familie, die Jungs von der Band und Ruth, die immer öfter mit dem gleichen Kerl rum hing, dessen Haare länger als die eines Mädchens waren. Es machte ihn glücklich, die Jungs aus seiner Band um sich herum zu haben.

 

Endlich konnte Hansi die Klinik verlassen und den Krankenhausblues abschütteln. Mittlerweile hatte er nur eine vage Erinnerung an die Zeit, die er im Krankenhaus verbracht hatte.

Inmitten allgemeiner Apathie kehrte er zurück. Jeder schien ihn vergessen zu haben. Selbst seine Eltern ignorierten ihn. Sein Vater hatte angefangen zu trinken und die Flasche war sein einziger Freund und Gesprächspartner geworden.

Hansi dagegen vegetierte nur noch vor sich hin. Er sprach mit niemandem mehr und zeigte an nichts Interesse.

Er hatte seine Fingerfertigkeit verloren und seine Bewegungen hatten die Grazilität eines Elefanten. Seine Freunde hatten ihn Fallen lassen und die Mitglieder seiner Band Ersatz für ihn gefunden. Sie hatten ihn ausgerechnet durch den Typen ersetzt, der den Platz in Ruths Herz eingenommen hatte. Sie hatte er selbstverständlich ebenfalls verloren. Seit er die Klinik verlassen hatte, ließ sie sich nicht mehr blicken. Sie hatte sich noch nicht einmal dazu herabgelassen, ihn anzurufen, auch wenn er ihr niemals antworten könnte. Einmal noch ihre Stimme hören, das wäre der Himmel für Hansi.

Jeden Tag las er Vaters Zeitung, er versuchte das Beste, um wenigstens auf dem Laufenden zu bleiben. Orange Skies machten ihren Weg. Und das ohne ihn. Dabei war er es gewesen, der den Weg gebahnt hatte. Es waren seine Lieder, sein Talent und seine Ausstrahlung gewesen. Sein Name.

Aber selbst seine Wut schaffte es nicht, den alten Spirit zurückzubringen, der ihn zum aufstrebenden Star gemacht hatte. Er hatte nur noch zwei große Wünsche: Seinen Platz in der Band zurückzugewinnen. Und Ruths Herz. Aber die Vergangenheit schien unwiderruflich vorbei zu sein. Während er verzweifelt ihren Weg in den Zeitungen verfolgte und gleichzeitig versuchte, seiner Gitarre einen vernünftigen Ton zu entlocken, fand nur wenige Straßen weiter eine Party statt, die seine ehemalige Band schmiss.

Der Zorn brach aus ihm heraus wie heiße Lava.

Sie feierten das Erscheinen ihrer zweiten Langspielplatte. Er versuchte die Gitarre gegen die Wand zu schmettern, doch die Kraft, die er in den Stoß legte, reichte gerade dazu aus, dass sie zu Boden fiel und damit die unheimliche Stille unterbrach.

Sein Vater stürmte in Hansis Zimmer, schaute sich mit gehetztem Blick um, ein wildes Funkeln in den Augen. Fast zärtlich nahm er die Gitarre und legte sie wieder auf das Bett seines Sohnes zurück. Es kam kein Wort des Trostes. Kopfschüttelnd verließ der Vater den Raum. Nach einiger Zeit hörte Hansi ihn jämmerlich Schluchzen.

Er spürte förmlich, wie der Wahnsinn nach ihm Griff. Seine verzweifelten Eltern. Verzweiflung war auch die Triebfeder, die ihn zu der verdammten Party gehen ließ. Seine alten Kumpels würden ihn schon reinlassen, auch wenn er keine Einladung erhalten hatte. Sie schuldeten ihm diesen Gefallen einfach.

Er erreichte die Eingangstür und wartete, bis andere Gäste kamen, damit er mit ihnen hineinspazieren konnte, ohne die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und er hatte Glück. Nach drei Minuten traf er Conny Burckhardt und Andy Bogerle, die mit ihren jeweiligen Verlobten um die Ecke des Hauses kamen. Conny und Andy waren Gitarrist beziehungsweise Sänger der Gruppe Die magische Lampe. Der richtige Moment, um unbemerkt hineinzuschlüpfen.

Sie kamen an Axel, dem Schlagzeuger seiner ehemaligen Band, vorbei, der ihn nicht bemerkte, da er gerade seine neue schwarzhaarige Freundin abknutschte. Hansi nahm in einer Ecke des riesigen Raumes Platz, in der jeder nur auf den eigenen Partner oder sein Getränk achtete.

Sein Blick wanderte in der Hoffnung umher, einen Bekannten zu entdecken. Plötzlich fiel ihm auf, dass alle zum Eingang strebten.

Und da waren sie.

Die neue deutsche Berühmtheit des Krautrocks wurde von der Menge frenetisch gefeiert. Kein Zweifel, Adrian Steiner, der neue Sänger und Gitarrist von Orange Skies, war die Attraktion des Abends. Und dann blieb sein Herz stehen. Ruth Wolken betrat den Raum und hatte niemals attraktiver ausgesehen.

Er wartete, bis sich das Paar aus der Menge löste, dann trat er näher heran, direkt in Ruths Blickfeld. Sie sah verblüfft aus und rieb sich die Augen. Sie legte den Arm um den Nacken ihres langhaarigen Freundes.

Das war zuviel für ihn. Hansi stürzte aus dem Raum. Sein Herz blutete, seine Seele war erschüttert. Er weinte bitterlich. Jetzt war er sich sicher, sie verloren zu haben. Er war ein Außenseiter in dieser Gesellschaft, niemand wollte ihn mehr. Die Frau, die er liebte, und die Band, die sein Halt gewesen waren, hatten sich von ihm abgewandt. Und das für immer.

Die Wand hinunterrutschend, die Arme auf den Knien, beobachtete er weitere vertraute Gesichter. Urplötzlich verstand er, warum es jeden zu Adrian Steiner zog. Er selbst war der Captain Trip gewesen, gerade mal ein Jahr war seitdem ins Land gegangen. Instinktiv stand er auf, folgte dem Strom und ließ sich gedankenlos treiben. Er hatte Recht. Alles war wie vorher, nichts hatte sich geändert. Leuchtend gefärbte Wasserpfeifen und lange Joints wurden von den Kiffern zur Schau gestellt. Eine Menge Tassen Kaffee standen majestätisch auf dem runden Tisch, nur darauf wartend, getrunken zu werden. Ein paar Zoll weiter standen die orientalischen Gefäße gefüllt mit den bunten Pillen, die all die guten Gefühle versprachen und das süße Vergessen.

Hansi fühlte sich entsetzlich. Vergangenes wirbelte in seinem Kopf herum wie Marionettentheater. Jede Erinnerung schnitt wie ein scharfes Schwert in seine Seele. Er heulte erneut auf, doch keine Tränen rannen seine Wangen hinunter. Hier gab es nichts mehr für ihn zu tun. Er war entschlossen zu gehen.

Sofort!

Doch bevor er ging, wollte er einen letzten Blick auf Ruth werden.

In der einen Hand hielt sie ihre Zigarette, während sie mit der anderen Hand Adrian streichelte und mit hemmungslos knutschte. Hansi musterte eine zeitlang jede ihrer Bewegungen. Sein Ersatz sah nicht so aus, als würde er irgendeine Art von Drogen zu sich nehmen. Er war der Typ Schwiegersohn, dem man seine Tochter anvertraute, auch wenn das Äußere das genaue Gegenteil versprach.

Die Show, die das Pärchen abzog, bannte ihn an seinem Platz. Dass seine geliebte Ruth mit einem anderen Mann herum turtelte, brachte sein Blut zum Rasen.

Er wandte den Blick ab, doch genau in diesem Moment sah er den kleinen Tisch zu Füßen des Sofas, auf dem Ruth und Adrian saßen.

Eine Tasse Kaffee.

Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Seine Gedanken waren mit einem Mal klar. Hansi griff eine Handvoll dieser Glückseligmacher und schaute sich vorsichtig um. Niemand nahm Notiz von ihm.

Erneut schaute er auf Ruth und ihren neuen Freund, die sich immer mehr von der Show gefangen nehmen ließen. Ihr Glück kotzte ihn an.

Ein Funkeln, das niemand wahrnahm. Und die Hand, die niemals jemand sehen konnte, ließ die verheißungsvollen Pillen in die Tasse fallen.

Ein Schrei folgte. Von Hansi. Jeder hörte ihn. Niemand sah das, was gerade geschah und woher das Gebrüll kam. Sie konnten es nicht. Dann der Sturz in ein Schwarzes Loch, das nur von höllischen Flammen erhellt wurde.

Ein Donnerschlag ertönte.

Alle Gäste sprangen auf. Nichts Ungewöhnliches. Ausgenommen Hansis ewige Verdammung, die selbstverständlich keiner mitbekam. Hansis Limbus war zu Ende.

Wenige Minuten später reckte Adrian voller Begeisterung seine Glieder und trank den Kaffee in einem Zug aus.

 

Diese Geschichte erschien 2005 in der von Sarah Crabtree herausgegebenen Antho “Café Olé – Too hot to handle”.

Übersetzt aus dem Englischen von Michael Schmidt

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 2024032817582109b6f67a
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Erstellt: 23.01.2011, zuletzt aktualisiert: 26.07.2019 10:10, 11479