Nova (Autor: M. John Harrison)
 
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Nova von M. John Harrison

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Saudade! Diese Stadt zieht zahllose Touristen – vor allem Touristinnen – und Schmuggler an, denn vor etwa 20 Jahren fiel ein Stück des mit allen Naturgesetzen brechenden Kefahuchi-Trakts auf den Planeten, so dass Teile der Stadt in der Aureole, dem Ereignis-Gebiet liegen. Die Touristen, die mit ihrem langweiligen Leben unzufrieden sind, wollen in das Gebiet in der Hoffnung dort etwas zu finden, was eine positive Veränderung bewirkt – denn im Gebiet ist alles anders: Das Wetter, die Zeit, die Entfernungen. Und es heißt, dort würden Träume erfüllt. Es ist sehr gefährlich im Gebiet etwas zu suchen, meint Vic Serotonin, ein Entradista, der Auswärtige ins Gebiet schmuggelt. Aber er schmuggelt außerdem auch die bizarren Artefakte hinaus – und das, meint die Gebietskripo, ist höchst gefährlich. Der ermittelnde Fahnder Aschemann, ein Mann der aussieht wie der ältere Albert Einstein, ist darüber hinaus beunruhigt, weil es scheint als kämen menschenhafte Wesen aus dem Gebiet nach Saudade, die nie hinein gegangen waren…

 

Radio Bay und der Kefahuchi-Trakt, also der weitere Raumsektor, spielen nur insofern eine Rolle, wie sie von Saudade aus bewertet werden – das Geschehen selbst trägt sich vollständig in der Stadt zu. Saudade ist auch ohne Aureole eine sehr sonderbare Stadt. Riesige mit Drogen voll gepumpte Frauen kutschieren ihre Fahrgäste per Rikscha in der Stadt herum, Schattenoperatoren, lebende Algorithmen, huschen über Wände und Decken und bei illegalen Kämpfen werden Cultivare – aufgemotzte Wegwerfkörper mit Riesenpimmeln – von vergnügungssüchtigen Zuschauern mit lebenden Tattoos, die vom ständig sich wiederholenden Retro-Schick gelangweilt werden, angefeuert. Einen Staat jenseits der Polizei scheint es nicht zu geben.

Das Gebiet ist noch bizarrer. Es dehnt sich aus und schrumpft wieder zusammen – eben noch stand man im warmen Sonnenschein und dann fällt plötzlich Schnee vom wolkenlosen Himmel, der kurz vor dem Boden verschwindet. Katzenhorden strömen wie eine Flutwelle die Straint entlang und nicht ganz menschliche Wesen versuchen hinter den Bars Sex mit einander zu haben. Die Artefakte aus dem Gebiet sind wandelbare, halb metallische, halb knöcherne Kreaturen, die gleichzeitig Geräte sind; sie können entsetzliche Dinge mit ihren Besitzer anstellen. Im Gebiet werden die herkömmliche Physiken aufgehoben – dort herrscht Chaos.

Es ist vor allem das Setting, welches an Harrisons Roman Licht anknüpft: Rikschagirls, K-Trakt, Schattenoperatoren und Cultivare. Doch das Setting in Nova ist wesentlich irrealer und surrealer; es wirkt so, als solle eine bizarre, futuristische Traumlandschaft beschrieben werden und keine plausible und konsistente Sekundärwelt. Das Setting, welches eine relativ große Rolle spielt, wird generell als atmosphärische Untermalung verwendet.

 

Die spannenden Figuren gehören zu den Glanzlichtern des Buches. Zwar sind Vic Serotonin und Lens Aschemann die zentralen Figuren, doch es kommt noch eine ganze Reihen weiterer relevanter Figuren hinzu. Der etwa vierzigjährige Vic ist ein Entradista: Er schmuggelt Touristen in das Gebiet hinein und Artefakte hinaus, die er dann dem lokalen Mafiosi Paulie DeRaad, einen ex-Militär mit guten Kontakten zum EMC, verschachert. Er gibt sich gerne klug und erfahren, doch tatsächlich ist er ziemlich planlos. Seine naive und leidenschaftslose Haltung zu den Mysterien des Lebens und des Gebiets lassen ihn (für sich) akzeptabel über die Runden kommen – bis Die Frau, eine rätselhafte Touristin, in sein Leben tritt. Lens Aschemann ist Vics Gegenspieler. Aschemann ist ein Fahnder der Gebietskripo. Wenn Vic hin und wieder eine Touristin mit ins Gebiet nimmt, stört ihn das wenig – leben und leben lassen ist seine Devise. Doch wenn Vic Artefakte mit hinausbringt, dann hört für den Mann, der aussieht wie der ältere Einstein, der Spaß auf. Ist das Gebiet mit den seltsamen Frauenmorden verknüpft – ist es mit dem Tod seiner Frau verknüpft? Was hat es mit den menschenartigen Wesen auf sich, die aus dem Gebiet kommen? Aschemann versucht mit seiner irritierend nachsichtigen Art den Dingen auf den Grund zu gehen. Die anderen Figuren seien hier nur kurz angerissen: Aschemanns Assistentin ist eine massiv modifizierte Frau und ein echter Profi. Doch ihren Boss versteht sie nicht – wagt sie sich zu weit vor? Fat Antoyne, ein ausgebrannter Raumfahrer, und Irene, eine Mona der Sexindustrie, träumen gemeinsam von einer glänzenden Zukunft – doch woher das Startkapital nehmen? Die frustrierte Liv Hula, Besitzerin der schlecht gehenden Bar Black Cat White Cat, sinniert über ihre ruhmreiche Vergangenheit nach, da sie mit Chinese Ed in den K-Trakt vorstieß. Ebenso träumt Edith Bonaventura von Zeiten, da sie als dreizehnjährige mit dem Akkordeon die Massen verzauberte – jetzt pflegt die Vierzigjährige ihren sterbenden Vater Emil, einst ein berühmt-berüchtigter Entradista und bis zum Kern des Gebiets vorgestoßen war; heute erkennt er seine Besucher nicht mehr. Diese wollen sein Tagebuch, in dem es eine brauchbare Karte vom Gebiet geben soll. Vics Kundin schließlich, Die Frau, ist anscheinend die Inkarnation des zentralen Motivs der Figuren: Sie ist auf der Suche nach sich selbst.

Obwohl nicht alle Figuren ihrer aufregenden Vergangenheit nachtrauern, sind doch alle mit der gegenwärtigen Situation unzufrieden und sehnen sich nach etwas anderen: Vielleicht nach den schönen Momenten der Vergangenheit, vielleicht dem Glanz der Zukunft, den Abenteuern der Ferne oder der Geborgenheit der Heimat. Dieses Sehnen nach kaum Erreichbaren, verbunden mit dem Wissen um diese Schwierigkeit heißt im Portugiesischen saudade.

Verwirrt von der befremdlichen Umwelt, gelangweilt vom Altbekannten, aber zu ausgelaugt für Neues und geplagt von unverstandenen Sehnsüchten und Wünschen sind die Figuren in einem komplizierten Beziehungsgeflecht verstrickt. Die Stadt Saudade reflektiert diese unsichere Haltung.

 

Der Plot ist schwer zu beschreiben. Es scheint um das Gebiet zu gehen, um Emils Tagebuch, welches den Schlüssel zu dessen Geheimnissen enthalten soll. Die Geschichte enthält zahlreiche Elemente aus dem Schwarzen Krimi und Cyberpunk, doch eigentlich ist es eine Reflexion auf saudade – es ist damit am ehesten als psychologischer Roman im SF-Gewand zu begreifen.

Die Spannungsquellen sind entsprechend in erster Linie die Entwicklung der Figuren und das Beziehungsgeflechts, aber auch die Stimmung, die in den eigenwilligen Wundern Suadades eingefangen wird. Dazu ist es oftmals notwendig die Symbolik des Roman zu entschlüsseln, was nicht immer leicht ist: Ist das Black Cat White Cat eine Anspielung auf Schrödingers Katze und die Quantenphysik oder ist es eine Anspielung auf das Raumschiff Seria Maús aus Licht bzw. den Roman im Allgemeinen? Es gibt viele Bezüge auf jenes Werk – ist Nova vielleicht gar eine Fortsetzung? Sicherlich nicht, doch was ist es dann? Spielt es überhaupt im selben 'Universum'? Harrison würde sich sicherlich über solche Fragen wundern – schließlich ist es eine Fiktion. Ähnlich wie bei der Viriconium-Reihe spielt er auch hier mit Bezügen: Ist Ed Chianese aus Licht der Chinese Ed aus Nova? Ist der Onkel Sip aus dem einen Roman mit dem aus dem anderen 'identisch'? Es ist sicherlich nicht notwendig Licht zu kennen um Nova zu verstehen, doch einige Spielereien gehen dann verloren.

Aber nicht nur die z. T. widersprüchlichen Bezüge erinnern an Viriconium; das sonderbare Verhalten der menschenartigen Fremden und die eigenartige Stimmung Saudades erinnern ebenfalls daran.

Der Plot fließt mal schneller, mal langsamer, er ist jedoch weder jemals rasant noch stockend.

 

Erzähltechnisch ist Harrison nicht sonderlich originell, allerdings ungewöhnlich straff – die meisten Szenen dienen nicht nur einem Zweck, sondern gleich zweien oder dreien. Die Handlung ist progressiv aufgebaut, Entwicklung und Desillusionierung halten sich die Waage. Die Zahl der Stränge ist schwer zu bestimmen aufgrund der vielen relevanten Figuren; Vics und Aschemanns Stränge sind allerdings dominant. Die Erzählperspektive ist auktorial.

Der Stil variiert sehr; zwar ist er meist neutral, doch kann er sich zum Ironischen oder zum Empathischen neigen. Ebenso sind die Sätze sehr unterschiedlich: Sie reichen von kurzen, prägnanten Sätzchen bis hin zu komplizierten Schachtelsätzen. Der Satzfluss passt dabei immer zur Szene. Die Wortwahl tendiert zum Exzentrischen, wobei Harrison in der direkten Rede vor Vulgärem nicht zurückschreckt.

Ein Wort zur Übersetzung: Sie ist z. T. sehr eigenwillig. Auch ist mir unklar, warum Sätze herausgestrichen werden, obwohl es im Buch einige leere und halb gefüllte Seiten gibt. Außerdem haben sich einige Fehler eingeschlichen, was den verwirrenden Text auch nicht erhellt.

 

Fazit:

Während Vic Touristen ins Gebiet und Artefakte herausschmuggelt, kommen auch nicht ganz menschliche Wesen hinaus – der Fahnder Aschemann will den Dingen auf den Grund gehen. Anscheinend ist der Roman eine Mischung aus Schwarzen Krimi und Cyberpunk, doch im Zentrum stehen die zerrissenen Figuren mit ihren Sehnsüchten und das komplizierte Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren. Die surreale Stadt Saudade spiegelt diese Aufgeschlissenheit, Zerrissenheit und die unverstandenen Wünsche wieder – Harrison visualisiert saudade. Der ungewöhnliche Inhalt verbunden mit der schwer zugänglichen Symbolik und dem straffen Stil machen dieses Buch wohl zu einem so genannten Kritikerroman – Leser müssen schon einiges an Erfahrung mit Literatur einbringen um hieran Freude zu haben.

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 2024042519302323c1b9fa
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Nova

Autor: M. John Harrison

Verlag: Heyne (August 2007)

Broschiert: 347 Seiten

ISBN-10: 3453522915

ISBN-13: 978-3453522916

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 08.09.2007, zuletzt aktualisiert: 28.01.2024 19:17, 4874