Peace (Autor: Gene Wolfe)
 
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Peace von Gene Wolfe

Rezension von Thomas Jeenicke

 

Ein alter Mann an der Schwelle zum Tode erinnert sein unauffälliges Leben in einer Provinzstadt – und erzählt dabei einen außergewöhnlich phantastischen Roman.

 

Peace erschien erstmals 1975, damals noch unter keinem spezifischen Genre-Label wie »Fantasy« oder vielleicht »Horror«, und fand entsprechend keinerlei Echo. Nachdem Gene Wolfe in der Phantastik zu einem bekannten Namen geworden war, wurde dieses Frühwerk neu entdeckt, blieb aber weitgehend im Schatten vor allem der großen Zyklen (Das Buch der Neuen Sonne, Das Buch der Langen Sonne, die Soldiers-Serie). Immerhin ist der Roman regelmäßig wiederaufgelegt worden und bis heute (Stand April 2017) weiterhin erhältlich, wenn auch nur im englischen Original, denn eine deutsche Übersetzung gab es nie. (Obwohl vergleichsweise viel dieses doch eher »schwierigen« Autors übertragen wurde – ein Indiz, wie sehr das deutschsprachige Lesepublikum von F/SF-Literatur wenigstens in der Vergangenheit immer wieder auch mit interessanten Werken jenseits eines engen Mainstreams bedacht worden ist – wir haben hier wohl vor allem Wolfgang Jeschke zu danken.)

 

»Peace« präsentiert sich als die Memoiren von Alden Dennis Weer, der im (hohen?) Alter zurückblickt. Er schildert, angefangen mit seinem fünften Geburtstag und dann prinzipiell in chronologischer Reihenfolge weiter, einzelne Episoden aus seinem Leben, während er durch das Labyrinth seiner Erinnerungen irrt – buchstäblich, denn, soweit man seinen Aufzeichnungen trauen kann, hat er offenbar, als er zu Geld gekommen war, ein großes Domizil bauen lassen, in dem die Zimmer Räumen, die ihm in der Vergangenheit wichtig waren, nachgestellt wurden (z. B. die Küche in seinem Elternhaus oder sein Firmenbüro). Nun wandert er, ausgerechnet auf der Suche nach seinem alten Pfadfindermesser, orientierungslos durch das menschenleere Haus, manchmal in Zimmer kommend, an die er sich überhaupt nicht mehr erinnern kann. In den Pausen dieser Streifzüge schreibt er in einen Notizblock, den er zufällig gefunden hat, seine Lebenserinnerungen nieder – eben das »Peace« betitelte Buch.

 

Neben der räumlichen Desorientierung – auch die des Lesers (man wundert sich zwangsläufig, an was für einen sonderbaren Ort sich der Ich-Erzähler befindet) –, ist Weers Verhältnis zur Zeit ebenfalls eigentümlich, hier freilich den Anschein nach freiwillig. Immer wieder »projiziert« er (das ist jetzt mein Wort bzw. meine Interpretation – Weer selbst beschreibt nicht sehr klar, was er dabei genau macht, falls es sich nicht generell um Halluzinationen handelt) sein Bewusstsein zurück in bestimmte vergangene Situationen, nämlich Arztbesuche, um dann, beispielsweise als kleiner Junge, den Doktor um Rat zu fragen wegen eines Schlaganfalls, den er »gehabt haben wird«.

 

Eingebettet in diese räumlich-zeitlichen Distorsionen ist nun ein im Grunde unspektakulärer Lebenslauf. In gewisser Weise ist »Peace« nicht bloß, in seiner doch wenigstens latent immer vorhandenen und stellenweise sich aufdrängenden Infragestellung erzählter Realität, der phantastischste Roman Wolfes, sondern zugleich auch sein gleichsam »geerdetster«, schließlich hat er hier viele persönliche Erinnerungen einfließen lassen, ohne dass man aber deshalb von einem autobiographischen Roman sprechen könnte. Weer wird irgendwann zwischen den beiden Weltkriegen in einer Provinzstadt des amerikanischen Mittleren Westens geboren und verbringt dort praktisch sein gesamtes Leben. Die Suche nach einem vermeintlichen Schatz aus der Bürgerkriegszeit bringt immerhin einen Hauch von Abenteuer in die Lebensbeschreibung, die ansonsten arm ist an in einem konventionellen Sinne »spannenden« Ereignissen. Phantastische Episoden gibt es dennoch in größerer Zahl, nämlich durch Geschichten, meist unheimlichen Inhalts, die Weer gehört oder gelesen hat und nun wiedergibt. Dieses Stilmittel von »Erzählungen innerhalb der Erzählung« nutzt Wolfe generell häufig, und gerade hier, in »Peace«, ist es von besonderer Bedeutung – allein schon deshalb, weil diese Binnengeschichten großen Raum einnehmen.

 

Die vermeintlichen Abschweifungen in Weers Lebensbeschreibung tragen natürlich zum traumhaft-irrealen Charakter des Romans bei. Insgesamt durchzieht ein gewisser melancholischer Ton die Memoiren, und das liegt nicht bloß daran, dass es sich halt um eine Rückschau am Lebensende handelt. Der Leser merkt bald, dass im Titel des Werkes auch eine traurige Ironie liegt – hat Weer doch ganz offenkundig keinen Frieden (peace) gefunden. Es ist nicht Sentimentalität, die den Ich-Erzähler umher- und antreibt, sondern ein unausweichliches Bedürfnis existenzieller Selbstbefragung (»What went wrong? That is the question, and not ›To be or not to be‹, for all that Shakespear«).

 

Weers Erinnerungsarbeit folgend – und seinem Kreisen um den dunklen Punkt, den er sich nicht eigestehen kann oder will –, wird der Leser, wie so oft bei diesem Autor, in einem fein gesponnenen intellektuellen Netz gefangen, das zu entwirren es gewiss mehrerer Lektürevorgänge bedarf. Darüber hinaus aber vermag dieser Roman wie sonst kaum ein Werk Wolfes ebenso emotional zu berühren (und vielleicht auch ein wenig zu erschrecken, wenn man zu ahnen beginnt, was wirklich mit Weer los ist). Wolfe selbst bezeichnet »Peace« als sein Lieblingsbuch unter den eigenen Werken und viele oder doch zumindest die klügsten seiner Kritiker halten es für sein bestes. Dieser geballten Autorität wage ich nicht zu widersprechen. Für mich ist »Peace« (und ich spreche jetzt gar nicht von einem bestimmten Genre) einer der großartigsten Romane des 20. Jahrhunderts.

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Buch:

Peace

Autor: Gene Wolfe

Taschenbuch, 320 Seiten

Verlag: Starscape, 14. Januar 2013

Sprache: Englisch

 

ISBN-10: 0765334569

ISBN-13: 978-0765334565

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B008S0E5ZA

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition


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Erstellt: 25.05.2017, zuletzt aktualisiert: 18.06.2022 17:35, 15687