Druckversion: Picknick am Wegesrand (Autoren: Arkadi & Boris Strugatzki)

Picknick am Wegesrand von Arkadi & Boris Strugatzki

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Es gab Besuch von Außerirdischen: Ohne dass jemand sie beobachtete, haben sie an sechs Orten auf der Erde Artefakte hinterlassen. Diese Objekte sind seltsam und unverständlich – eine Null besteht aus zwei fünf Millimeter dicken Kupferscheiben mit einem Durchmesser von etwa zehn Zentimetern. Zwischen diesen Scheiben ist ein stets gleich bleibender Abstand von vierzig Zentimetern – was die Scheiben an Ort und Stelle hält ist unklar, denn zwischen ihnen scheint nur leerer Raum zu sein. Sinn und Zweck des Artefakts liegt völlig im Dunkeln. Damit diese Gegenstände nicht unkontrolliert die menschliche Gesellschaft kontaminieren, patrouillieren lokale Polizisten und UNO-Soldaten um die entsprechenden Orte herum. Das ruft die "Schatzgräber" auf den Plan – Individuen, die diese Artefakte – in ihrem Jargon Ramsch – an den Wachen vorbei schmuggeln. Doch die Patrouillen sind das geringste Problem der Schatzgräber – in dem kontaminierten Gebiet, der Zone, gibt es allerlei tödliche Phänomene. Einer dieser Schatzgräber ist Roderic Schuchart, genannt "Rotfuchs". Er arbeitet als Laborant für das Internationale Institut für außerirdische Kulturen, das gegründet wurde um die Zonen zu erforschen. Wenn Rotfuchs knapp bei Kasse ist, dann macht er einen Abstecher in Richtung Ramsch. Sein direkter Vorgesetzter ist der Wissenschaftler Dr. Kirill. Der befasst sich seit einiger Zeit ziemlich fruchtlos mit Nullen. Um seine Laune zu heben erzählt Rotfuchs ihm von einer vollen Null – Kirill setzt eine Fahrt in die Zone durch.

 

Die Zonen entstehen im späten 20. Jh. (also in der nahen Zukunft zum Zeitpunkt des Verfassens). Die sechs Zonen sind anscheinend über der ganzen Welt verstreut; aufgrund eines Vergleichs einer der Figuren scheinen fünf davon fernab von der Zivilisation zu liegen, nur die sechste erfasst Teile der Stadt Harmont. Wo genau diese Kleinstadt zu verorten ist, bleibt unklar, aber während des Lesens entstand bei mir der Eindruck, sie sei nahe der nordamerikanischen Westküste gelegen. Ausgeführt wird dieses Setting nicht sonderlich – dem Leser wird weder explizit mitgeteilt, wo die anderen Zonen sind, noch wie sich das Leben jenseits von Harmont gestaltet. Auch die Darstellung des tatsächlichen Schauplatzes ist eher knapp. Insgesamt hat sich die Gesellschaft technisch nicht weit von den Möglichkeiten der siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts entfernt, obwohl es einige geringere Entwicklungen gibt. Kulturell ändert sich auch wenig – die Schatzgräber nehmen einigen Raum in der Gesellschaft Harmonts ein; sie erinnern deutlich an die Goldgräber der amerikanischen Pionierszeit. Diese Normalität, die sich vielfach als Alltagsrealismus manifestiert, ist eine der zentralen Aussagen der Geschichte: Die Menschen werden die Ereignisse sich aneignen und dann weiter machen – schließlich kommen Touristen und besichtigen die Zone, wenn auch nur von Außen.

Das primäre phantastische Element sind natürlich die außerirdischen Artefakte und die damit verbundenen Phänomene. Die Artefakte sind alle seltsam: Neben Nullen gibt es Armreife, Geprickel, schwarze Spritzer und dergleichen mehr. Manchmal kennt man sogar Anwendungsmöglichkeiten; ein Geprickel zum Beispiel löst heftige negative Emotionen aus: Angst, Apathie, Zorn. Wer besonders empfindlich ist, bekommt sogar Nasenbluten. In der Zone gibt dann noch die Phänomene, deren Wirkung bekannt sind, aber die Ursache völlig unklar ist: Eine Fliegenklatsche beispielsweise scheint ein leeres Gebiet zu sein, doch was sich dort hinein begibt, wird zerquetscht. Die meisten Phänomene sind auf die Zone beschränkt – wenige wirken darüber hinaus: Die auferstandenen Toten etwa sind Verstorbene nachgebildete Phantome, die zu ihrem früheren Lebensmittelpunkt zurückkehren und etwas seltsam verhalten. So unverständlich die Artefakte und Phänomene auch sind, so wird nie bezweifelt, dass sie mit der Zeit erklärbar werden – trotz Namen wie Hexensülze und Anklänge an russische Märchen gehören sie nicht ins Reich des Übernatürlichen.

Sekundär sind ein paar geringfügige Weiterentwicklungen irdischer Technologien wie Fahrzeuge mit Autopiloten oder Roboter um die Zone sicherer erforschen zu können.

 

Es gibt relativ viele Figuren, die allerdings nur selten weiter charakterisiert werden, sondern eher die verschiedenen Herangehensweisen von Menschen an den Besuch veranschaulichen sollen. Da sie für sich genommen bloß geringe Rollen spielen, ist der Mangel an Vielschichtigkeit nie ein Problem.

Die zentrale Figur ist Roderic Schuchart. Der rothaarige Mann ist zu Beginn der Geschichte dreiundzwanzig, hatte schon als Schatzgräber gearbeitet und dafür einige Zeit im Knast gesessen. Wieder draußen hatte er seine Erfahrungen dem Institut zur Verfügung gestellt und arbeitet dort als Laborant für Dr. Kirill, den er durchaus leiden kann. Illegal ist er nur selten in der Zone – wenn das Geld knapp wird und er seine Freundin Gutta ausführen möchte. Später ist er arbeitslos und besorgt regelmäßig Ramsch um Frau und Kind zu ernähren. Er ist gierig – er bricht das Gesetz und geht Risiken ein um nicht knausern zu müssen – aber nicht maßlos – er scheffelt nicht haufenweise Kohle und wenn ihm etwas zu gefährlich erscheint, dann lässt er es liegen. Dieses zeigt seinen Sinn für Verantwortung, doch da er eher spontan ist und sich von seinen Gefühlen leiten lässt, durchdenkt der die Probleme nicht – was nicht immer zu glücklichen Resultaten führt. Außerdem ist er rachsüchtig und reagiert leicht gewalttätig, wenn man ihn verspottet oder betrügt. Menschen, die er mag, ist er loyal gegenüber. Gier, Rachsucht, Verantwortungsbewusstsein und Loyalität werden den Bauchmenschen vor eine Zerreisprobe stellen.

 

Der Plot ist einigermaßen eigenwillig: Einerseits ist es eine Wundergeschichte, bei der die Wunder nur selten direkt gezeigt werden, und andererseits eine Art Entwicklungsgeschichte Schucharts, wobei es längere Abschnitte gibt, in denen er keine Rolle spielt.

Entsprechend sind die Spannungsquellen angelegt: Zentral sind weniger die Wunder selbst, sondern vielmehr das Rätsel um die Wunder – da gibt es einiges zu erschließen – und die Reaktionen der Figuren auf die Wunder. Auch das Schicksal des Protagonisten ist auf lange Sicht interessant – zwar gibt es auch kurzfristige Bedrohungen, wenn Rotfuchs sich mit Patrouillen oder Phänomen der Zone auseinandersetzen muss, doch diese werden selten actionreich aufgelöst – Action führt in der Regel zum vorzeitigen Ableben – es gilt die Probleme frühzeitig zu erkennen und zu umgehen.

Dem Leser mag die große Nähe zu M. John Harrisons Nova aufgefallen sein. Dort war ein Teil des Kefahuchi-Trakts auf die Stadt Saudade gefallen und die Aureole, ein Ereignis-Gebiet, entstanden, in dem allerlei Seltsames geschieht. Während der Entradista Vic Serotonin Touristen hinein und gefährliche Artefakte hinaus schmuggelt, versucht der Ermittler Lens Aschemann eben dieses zu verhindern – und den seltsamen Geschöpfen, die von der Aureole entlassen werden, auf die Schliche zu kommen. Allerdings handhabt Harrison das Thema nicht besser oder schlechter, sondern in erster Linie anders: Bei den Stugatzkis geht es um einen rätselhaften, kaum verständlichen Erstkontakt mit Außerirdischen und besonders den realistischen Reaktionen der Menschen darauf, und bei Harrison geht es um die halbbewussten Sehnsüchte der Protagonisten, die sich in den unverständlichen und surrealen Ereignissen spiegeln.

 

Ungewöhnlich an der Erzähltechnik ist der Handlungsaufbau. Es gibt fünf Episoden, von denen die erste ein kurzes Interview mit Dr. Pillman ist; da es nur aus Dialog besteht, ist die Erzählperspektive objektiv. Es folgt eine Episode mit dem jungen Schuchart als Ich-Erzähler und darauf drei Episoden aus personaler Perspektive, zwei aus des älteren Schucharts Sicht, eine aus des zwielichtigen Richard Nunnans Sicht.

Der Stil ist den unterschiedlichen Episoden angepasst: In der zweiten Episode ist die Wortwahl wesentlich derber und vulgärer als in den folgenden, neutraler formulierten Episoden; es gibt jedoch einen leichten Hang zur technischen Akkuratheit, besonders in den mittleren Episoden. Ähnliches gilt für die Satzkonstruktionen. Insgesamt ist zu konstatieren, dass der Stil nie vom Inhalt ablenkt.

 

Ein langes Nachwort von Stanislaw Lem schließt das Buch ab. Lem erläutert zunächst allgemein wie die SF den Kontakt mit Außerirdischen darstellt und geht dann Stärken und Schwächen erörternd auf Details der Geschichte selbst ein.

 

Die Geschichte wurde 1979 von Andrej Tarkowski unter dem Titel Stalker verfilmt.

 

Fazit:

Nach dem Besuch gibt es in Harmont eine Zone, die wertvolle Artefakte und gefährliche Phänomene birgt – beide können weder von Schatzgräbern noch von Wissenschaftlern befriedigend erfasst werden. Rotfuchs Schuchart gleitet immer weiter in die damit verbundene Kriminalität ab und muss lernen mit den mysteriösen Dingen umzugehen. Dieser Episoden-Roman besticht durch seinen interessanten Umgang mit dem Thema "Kontakt mit Außerirdischen" und die sorgfältige Konstruktion der Geschichte.

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Buch:

Picknick am Wegesrand

Original: ПИКНИК НА ОБОЧИНЕ (1972)

Autoren: Arkadi und Boris Strugatzki

Übersetzer: Friedrich Griese

Suhrkamp, Februar 2002

Taschenbuch, 216 Seiten

 

ISBN-10: 3518371703

ISBN-13: 978-3518371701

 

Erhältlich bei: Amazon

, zuletzt aktualisiert: 27.06.2023 19:37