Quintana Roo (Autor: James Tiptree, Jr.)
 
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Quintana Roo von James Tiptree, Jr.

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Als einzigen Hinweis auf seine Verlässlichkeit kann ich kaum greifbare Nuancen in den Bemerkungen des Besitzers eines kleinen Restaurants anführen, und die ganze Geschichte wird allein dadurch gestützt, dass ein Anglerführer, der weder lesen noch schreiben kann, sie anscheinend glaubt. Wenn ich alle Gründe aufführen wollte, warum ein vernünftiger Mensch sie keinesfalls ernst nehmen sollte, dann wären wir morgen noch nicht fertig. Also will ich nur kurz erwähnen, dass ich mich heute dabei ertappt habe, vor Grauen zu zittern, als beim Schnorcheln ein völlig harmloses, vom Salzwasser zerfressenes Stück Plastikscheibe über das Riff geglitten kam, wie schon dutzende in den Jahren zuvor – und dann die Geschichte erzählen.

James Tiptree Jr. , Hinter dem toten Riff

 

Quintana Roo ist eine Sammlung von drei zwischen dreiunddreißig und dreiundsechzig Seiten langen Kurzgeschichten, die zwischen 1981 und 1983 in den Zeitschriften Isaac Asimov's Science Fiction Magazin und The Magazine of Fantasy and Science Fiction erschienen waren. Die Autorin ist zwar Alice B. Sheldon, jedoch wurden die Geschichten unter ihrem Pseudonym James Tiptree Jr. veröffentlicht. Hinzu kommen noch zwei Sekundärtexte. Sheldons vierseitiges Vorwort Kurze Vorbemerkung zu den Maya des Quintana Roo, in dem sie ein paar Worte zu der abseitigen Region Quintana Roo, die damals noch weitgehend unerschlossen war, den Maya der Region, die niemals richtig zu Mexiko gehörten, und dem Verhältnis der Autorin zum schönen, aber auch gefährlichen Küstenstrich macht. Dann gibt es noch Struck by Mayaphilia, ein siebzehnseitiges Nachwort von Anna Koenen. Koenen ordnet die drei Geschichten in Sheldons Oeuvre und dem übergeordneten literarischen Kontext ein. Ob man Koenen nun folgen mag oder nicht, ihre Argumente für die Zuordnung zum Magischen Realismus sind stichhaltig. Der klare Horroraspekt, der sich zumindest in zwei Geschichten findet, verweist allerdings eher auf die caillois'sche Phantastik. Da alle Geschichten aus Rahmen- und Binnenerzählung bestehen, bei denen einerseits das phantastische Element in der Binnenerzählung liegt, andererseits der Erzähler derselben zumindest ein wenig unzuverlässig ist (sei es durch Trunkenheit, Dehydration oder auch nur die Struktur der Geschichte – es ist eine Tall Tale a la Lord Dunsanys Jorkens borgt sich einen Whisky. Zehn Clubgeschichten), kann man sie auch der todorovschen Phantastik zuordnen.

Die Geschichten haben als gemeinsames Setting das Quintana Roo, das zwischen lebendiger, wilder Natur und dem gewaltsamen Vordringen der Zivilisation in Form von Touristik, Schnellstraßen und Abfällen zwischen Vergangenheit und Zukunft steht. Es gibt stets zwei Protagonisten: In der Rahmenerzählung ist es ein namenlos bleibender, alter US-Amerikaner, ein Maya-affiner Gringo, und in der Binnenerzählung ein völlig naturalisierter Gringo, ein Maya-Mestize, der sich meistens als Spanier begreift, oder ein britisch wirkender Südamerikaner – Wandler zwischen den Welten, die dem Unmöglichen begegnen. Damit zu den einzelnen Geschichten.

 

Was die See bei Lirios anspülte (63 S.): Der alte Psychologe genießt den Abend an der Küste. Dort spült die Strömung die seltsamsten Beutestücke der See ans Land zurück. Da meldet der Vorarbeiter einen Fremden: "Gringo", tut er verächtlich kund. Wie der Alte selbst. Man sieht es dem Fremden jedoch keineswegs an: Er ist völlig verdreckt und trägt nur wenig, dafür geflickte Kleidung. Das Alter ist schwer zu schätzen – vielleicht vierzig, vielleicht fünfzig, doch die Stimme zeigt einen jungen Mann aus dem Mittleren Westen der USA an. Er bittet zunächst nur um etwas Wasser, und so kommen die beiden ins Gespräch. Der Fremde ist ein Aussteiger; eigentlich ist er Swimmingpooldesigner, doch das Geschäft lief so gut, dass er einfach raus musste. Seither wandert er jedes Jahr die mexikanische Küste herauf und hinunter. Und letztes Jahr hatte er etwas höchst Sonderbares erlebt. Es begann damit, dass die See eine seltsamerweise im Wasser aufrecht stehende Stange zur Küste spülte und das ganz in der Nähe des Anwesens, am "El Paso de los Muertos" – dem Pass der Toten.

Die Geschichte ist nicht leicht zu beschreiben. Die Binnenerzählung des Fremden könnte man als Gruselgeschichte mit klassischem Abenteuerplot verstehen. Der Rahmen kommt ohne Handlung (im Sinne von Action) aus – es sind im Wesentlichen nur zwei Männer, die sich unterhalten. Dennoch geht vom Fremden eine unterschwellige Bedrohung aus – man könnte dieses als Thriller-Element verstehen. Hinzu kommt die Frage, ob die Erzählung des Fremden wahr ist oder nicht. Damit lässt sich die Geschichte auch als todorovsche Phantastik lesen. Zudem spielt das seltsam unwirkliche Setting eine große Rolle – man könnte die vielen situativen Momente als eine Art "Sittengemälde" begreifen. Schließlich ist noch die wahrlich engmaschige Verknüpfung von Rahmen- und Binnengeschichte zu erwähnen – die beiden lassen sich kaum trennen.

Der Junge, der auf Wasserskiern in die Ewigkeit fuhr (33 S.): Der alte Mann ist ein begeisterter Taucher. Er liebt das Meer und seine Bewohner. Ein insgesamt tragischer Umstand ermöglicht es ihm, eine eher abgelegene Lagune zu erkunden – eine Küstenstraße wurde gebaut. Beim Schnorcheln sieht er zahlreiche Meerestiere, sogar eine Wanderung von Karibik-Langusten, doch er will zu den Korallenköpfen, bei denen er ein Lager von Schlafhaien vermutet. Bevor ihm das gelingt, taucht jedoch sein Freund, der Fischer Manuel, auf. Die beiden kommen ins Gespräch und so erfährt der Alte, dass Lorenzo dringend Geld für seine schwerkranke Frau braucht. Schweren Herzens zeigt er Manuel die Langusten-Wanderung. Zum Ausgleich erzählt der Fischer eine Geschichte über einen alten Freund: K'o, einen reinen Maya. K'o war ein großartiger Kerl: Stark, schön und dazu die nötige Kaltblütigkeit – als einmal ein Taucher große Probleme hatte, wechselte er sich mit ihm beim Gebrauch des eigenen Tauchgeräts ab, ohne das Auftauchen gefährlich zu beschleunigen; der Aufstieg dauerte fast eine Stunde und das bei rauer See und einbrechender Nacht. Dennoch waren beide diese Nacht heil nach Hause gekommen. Aber K'o hatte gelegentlich auch Flausen im Kopf – die Geschichte endete übrigens ganz in der Nähe, in der Lagune unter den Ruinen von Tulu'um.

Dieses Mal sind die Verknüpfung zwischen Rahmen und Binnenerzählung eher locker. Überhaupt bereitet der Rahmen nur vor: Es wird eigentlich nur die Lagune geschildert, die allerdings – mehr oder minder – stellvertretend für den übrigen, undifferenzierten Küstenstreifen stehen kann. Der Rahmen spielt dabei ein wenig mit den Attraktionen der Abenteuergeschichte, doch der Clou liegt in der Binnenerzählung. Die wiederum ist sehr seltsam: Es ist eine Mischung aus Entwicklungsgeschichte, Tall Tale mit 'Anekdoten' versehen und einer möglichen Apotheose am Ende. Während der Rahmen eher nüchtern die Umgebung schildert, schildert die Binnenerzählung wieder ein Stück weit die rauen Sitten, in denen eine Vergewaltigung eine komische Episode sein kann.

Hinter dem toten Riff (35 S.): In Cozumel ist der Tourismus eingezogen; Marcials El buzo ist vollgestopft mit tauch- und harpunierwütigen Yankees. Glücklicherweise hat Marcial ein Hinterzimmer für die Stammgäste. Dort trifft der alte Schriftsteller einen mysteriösen Gentleman. Beim Essen kommt man ein wenig ins Gespräch und findet sich sympathisch. Der Schriftsteller erwähnt, dass er am morgigen Tag am toten Riff tauchen wolle, was den Gentleman sichtlich beunruhigt. Der will Einzelheiten erfahren, und schließlich begeben sich die beiden zum Schiffsführer Jorge Chuc, denn dieser scheint etwas im Schilde zu führen. Der Schriftsteller indes fragt sich, was einen gesetzten und erfahrenen Taucher wie jenen Gentleman wohl derartig erschrecken könnte – er ahnt, dass sich am toten Riff etwas Grausiges abgespielt hatte.

Der Rahmen dient wiederum nur der Vorbereitung: Der Schriftsteller und der Gentleman plaudern gepflegt über die Situation in der Region. Dadurch erfährt der Leser einerseits etwas über den Vandalismus der Touristik und andererseits wird ein Gefühl der Banalität erzeugt. Dieses wird dann in der Binnenerzählung radikal gebrochen – der Gentleman erzählt von seinem albtraumhaften Erlebnis am Riff; es ist eine Mischung aus Unterwasserabenteuer und Horrorgeschichte, die China Miéville gefallen dürfte.

 

Fazit:

In drei Geschichten bringt Sheldon die verschiedenen Aspekte des Quintana Roo dem Leser näher – das wechselhafte Meer, Menschen zwischen Herzlichkeit und Grobheit und die in diese urwüchsige Region eindringende westliche Zivilisation, die ihre Spuren vor allem als Müll hinterlässt. Ein übernatürliches Ereignis verweist dann jeweils auf die magische Vergangenheit des Quintana Roo. Man würde gerne mehr davon lesen – auf jeden Fall hat die Sammlung ihren Platz neben Jorge Louis Borges Bibliothek von Babel verdient.

 

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Buch:

Quintana Roo

Original: Tales of the Quintana Roo (1986)

Autorin: James Tiptree Jr.

Übersetzer: Frank Böhmert

Septime Verlag, Januar 2011

Gebunden, 159 Seiten

Titelbild: Jürgen Schütz

 

ISBN-13: 978-3-902711-04-5

 

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 03.03.2011, zuletzt aktualisiert: 18.06.2022 17:35, 11597