Druckversion: Riesen sind nur große Menschen (Autor: René Frauchiger)

Riesen sind nur große Menschen von René Frauchiger

Rezension von Ralf Steinberg

 

Verlagsinfo:

Achilles hat ein besonderes Talent: Alles, was er wirft, trifft stets sein Ziel – doch nicht ohne vorher irgendwo abzuprallen. Deswegen ist Achilles weder Messerwerfer noch Fußballer geworden, sondern Pizzabäcker. Wenn die Zutaten unter den begeisterten Blicken der Gäste wild durch die Küche fliegen, ist er in seinem Element.

Als er sich in Lulu verliebt und diese noch vor ihrem ersten Date entführt wird, folgt er der Spur der Kidnapper bis in das abgelegene Grenzdorf Runzlingen. Dort gehen merkwürdige Dinge vor sich und Achilles benötigt bald mehr als nur sein besonderes Talent, um Lulu vor dem Schlimmsten zu bewahren …

 

Rezension:

Auf dem Buchrücken wird Riesen sind nur große Menschen von René Frauchiger als ein hinreißendes Erzählexperiment beworben. Und tatsächlich begegnen wir der ersten erzählerischen Besonderheit bereits auf der zweiten Seite, als der gerade ausführlich beschriebene Protagonist Achilles kommentierend in Aktion tritt. Dieses Durchdringen der Vierten Wand im Stil einer Mockumentary durchzieht den gesamten Roman und wird ein wesentlicher Bestandteil der Handlung. Denn die Kommentare der Figuren wenden sich irgendwann nicht nur an die Leserschaft, sondern auch an den Erzähler und dann direkt an die anderen Figuren. Sie überwinden damit selbst die räumliche und zeitliche Distanz der Handlung, ganz ohne Fußnotophon.

 

Seinen Höhepunkt erreicht dieses Spiel mit der Roman-Metaebene, als Achilles versucht, sich aus der Erzählung zu entfernen, da er als Figur meint, mit der Entführung seines Dates Lulu sei seine Geschichte erzählt und seine Anwesenheit nun nicht mehr erforderlich. Eine mehrseitige Sabotageaktion der Figur gehört mit zum witzigsten, was man sich in einem so düsteren Phantastikwerk um Rassismus und Demokratiezersetzung vorstellen kann.

 

Dann genau darum handelt es sich bei »Riesen sind nur große Menschen«. René Frauchiger siedelt seine seltsame Zivilisation auf einen bewegungslosen Riesen an. Entsprechend klein sind alle Lebewesen und Dinge, die in der Handlung eine Rolle spielen. Die größte Ortschaft ist ›Stirnstadt‹ und liegt wie der Name bereits verrät, auf der Stirn von Hephaistos. Für den Wintersport fährt man ins ›Nasenmasiv‹, hinter dem sich der gefürchtete ›Schnauzwald‹ verbirgt. Dort leben die wilden Bleichhaarigen, die die ›Grenzwacht‹ in ihre Schranken weist. Und dann gibt es noch ›Runzlingen‹. Ein inzestuöses Dorf, das sich mit der ›Friedli-Grenzwacht‹ eine ganz eigene private Schutztruppe leistet. Friedli ist der Clan, mit dem quasi alle Einheimischen in irgendeiner Art verwandt sind. Man liebt alte Traditionen und hasst alles Fremde, besonders natürlich die Bleichhaarigen.

Weil es Ungereimtheiten mit den Finanzen der Gemeinde gibt, wird die Büroassistentin Marja zur Finanzprüfung in die Gemeinde gesandt. Doch dann wird die Kaffee-Verkäuferin Lulu just an dem Tag entführt, da sie sich zu einem allerersten Date mit dem nigelnagelneuen Kunstpizzabäcker Achilles verabredet hatte. Als Köder für eine Menschenjagd soll sie eine finanzkräftige Meute zum Abschuss eines Bleichhaarigen verhelfen. Schon bald berühren sich die Leben der Fluchthelferin Jacquette, des frustrierten Dorflehrers Paul, Marjas, Achilles’ und Lulus …

 

Zwischen den kunstvollen Figureninteraktionen erschafft René Frauchiger ein bitterbös inszeniertes Spiegelbild dörflicher Ausgrenzung von Fremden. Die gar nicht abwegig erscheinende Möglichkeit von bezahlten Jagden auf Ureinwohner, Korruption und Geldwäsche bietet einen dicken Kaffeesatz Realität, der das phantastische Umfeld umso unheimlicher werden lässt. Trotz des durchweg vorhandenen Humors bleibt der düstere Grundton stets erhalten. Die Figuren begeben sich in lebensbedrohliche Situationen, der Autor bringt sogar Hunde um – ernster geht es kaum.

 

Diese Mischung aus politischer Satire und spannender Action gelingt wunderbar. Der mitunter lockere Plauderton der Figuren zwingt auch die Leserinnen und Leser immer wieder dazu, die Handlungen und Motivationen zu hinterfragen, oder mindestens zu überdenken.

 

Die Figuren leben durch ihre ungewöhnliche Charakterisierung. Zu Beginn lernen wir mit Achilles eine außergewöhnliche Fähigkeit kennen. Nicht das Um-die-Ecke-Denken, sondern Um-die-Ecke-Handeln. Achilles spielt alles über die Bande. Will er Mehl auf den Tisch schütten, fliegt es erst an die Wand. Was zunächst als Ursache ständiger Unfälle gilt, kann er sich in der Pizzabäckerei zu Nutze machen, als die Leute Vergnügen daran finden, ihn beim Backen und Kochen zuzusehen. Im Finale wird seine Fähigkeit eine weitere Seite offenbaren.

 

Marja ist die treibende Figur. Als emotionales Zentrum ihres Büros dargestellt, gibt sie nach kurzer Zeit eine Leitungsfunktion wieder ab, nicht weil sie ihn ihr versagte, ganz im Gegenteil. Marja will keine Macht ausüben. Dennoch wird bald klar, dass sie die Dinge in Bewegung setzt. Im Zusammenspiel mit der furchtlosen und pfiffigen Jacquette ergibt sich ein sehr aktives Team, das die wesentlichen Wendungen der Handlung definiert. Aber auch Lulu ist eine Offensivkraft. Als Entführungsopfer eigentlich in die Opfer-Rolle gedrängt, übernimmt sie ihre Rettung selbst. Auf der Flucht vor der jagenden Meute kümmert sie sich dann auch noch um das eigentliche Ziel der Hatz und hilft dem eigenbrötlerischen Klöm gegen dessen Willen.

 

Kein Wunder, dass diese Frauenfiguren auch das Ende des Romans bestimmen und dem Erzähler das Heft aus der Hand reißen. In ihrer Welt ist die Dystopie zu Ende. Und das ist neben dem experimentellen Stilelementen und den ausgefeilt ungewöhnlichen Figuren der dritte Bereich, in dem » Riesen sind nur große Menschen« punkten kann. Der Weltenbau entwickelt sich vom ungewöhnlichen Setting einer Zivilisation auf einem Riesen zu einem Science-Fiction-Narrativ. Auch wenn man gern noch mehr Einzelheiten erfahren hätte, entwirft René Frauchiger auf wenigen Seiten eine komplex erscheinende, hochspannende Postapokalypse, die zwar aufgrund der geringen Detailtiefe auch irgendwie märchenhaft wirkt, aber bei genauerer Betrachtung großes Potential besitzt. Nicht für eine direkte Fortsetzung, denn die Geschichte ist auserzählt, aber für eine Rückkehr auf oder in Hephaistos.

 

Die ungewöhnliche Note des Romans findet ihren Widerhall in der Covergestaltung von Joseph Reinthaler.

 

Fazit:

»Riesen sind nur große Menschen« von René Frauchiger fasziniert durch eigenwillige Figuren, die sich ihren Weg durch Diskriminierung, Hass und der Speiseröhre eines Riesen schlagen müssen. Der Debütroman des Schweizers brennt sich dabei mit feinem Witz und pointierter Action durch alle Bereiche der Phantastik. Ein erstaunliches Buch!

 

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Buch:

Riesen sind nur große Menschen

Autor: René Frauchiger

Gebundene Ausgabe, 259 Seiten

homunculus, 5. September 2019

Cover: Joseph Reinthaler

 

ISBN-10: 3946120296

ISBN-13: 978-3946120292

 

Erhältlich bei: Amazon

, zuletzt aktualisiert: 27.03.2024 19:50