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Das Glück Saramees

erschienen in der Anthologie Das Glück Saramees
Autor: Stephan R. Bellem

sowie in der eBook-Reihe Geschichten aus Saramee Band 09: Das Glück Saramees

Inhalt

Protagonisten

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Buch

eBook

Das Glück Saramees

»In Saramee kann jeder sein Glück finden«, pflegte mein Vater stets zu sagen. Lange Zeit habe ich ihm nicht geglaubt, bis ich die Stadt mit meinen eigenen Augen sah …

~~~

Sturm. Wellenschlag. Regen. Die Reise in die Stadt glich einem schier endlosen Albtraum. Ich glaube es war der dritte Tag, als ich mich endlich nicht mehr übergeben musste. Ich hatte einfach nichts mehr, dass ich hätte auskotzen können. Regen.

Endloser Regen. Und Sturm.

Ich hasse Schiffe. Wenn ich gewusst hätte, was mich erwartete, hätte ich meinem Vater niemals geschworen, die Reise anzutreten. Doch auf dem Totenbett konnte ich ihm diesen Wunsch nicht abschlagen.

»Wann erreichen wir Saramee?«, fragte ich den Kapitän des Schiffes, wann immer ich ihn sah.

Er schenkte mir dann jedes Mal nur sein unbezwingbares Grinsen, das er selbst im Angesicht des heftigsten Sturmes nicht ablegte. Vermutlich war er bereits auf dem kleinen Zweimaster, der Yolanta, geboren worden. Einen Vorsprung, den ich in den wenigen Tagen niemals aufholen würde.

Kapitän Rejan erwies sich als tüchtiger Mann. Immer wieder hörte ich die Schauergeschichten von Piraten, die Schiffe versenkten und Besatzung sowie Passagiere über die Planke schickten. Doch Rejan schienen die Götter hold zu sein. Oder kein Pirat dieser Welt war verrückt genug im Herzen eines Sturms nach Beute zu suchen …

»Dies ist das wahre Leben, Junge!«, lachte er. »Hier hast du dein Schicksal selbst in der Hand. Nur Du und die See!«

»Ich versuche mein Glück lieber mit festem Boden unter den Füßen«, erwiderte ich.

Wieder dieses donnernde Lachen, das beinah lauter war als ein Sturm. »Nur hier erfährst Du, was für ein Mann in Dir steckt, Junge. Nur hier!«, schrie er und im nächsten Moment brach sich eine hohe Welle am Bug des Schiffes und riss mich beinah von den Beinen. Rejan packte mich mit eisernem Griff und hievte mich in einen festen Stand. Er selbst wirkte, als sei er mit dem Schiff verwachsen, kein noch so hoher Brecher konnte ihn erschüttern.

Ich mied den Schlafraum unter Deck so oft ich konnte, denn die stickige Luft, gemischt mit den Körperausdünstungen der übrigen Passagiere und Besatzung, war kaum zu ertragen. Einmal war ich kurz davor, mich am Mast festbinden zu lassen, nur um nicht in das stinkende Loch zu müssen.

Eines Morgens beeilte ich mich an Deck zu kommen und erblickte Rejan wie üblich seitlich des Steuermanns. Der Kapitän begrüßte mich mit seinem breiten Grinsen und deutete mit der Linken in die Ferne. »Die Bucht von Saramee!«, rief er mir lachend entgegen.

Ich folgte der Richtung seines Armes und kniff die Augen zusammen. Saramee. Endlich.

»Jeder macht sein Glück in Saramee, Mel!«, hörte ich wiedermal die Worte meines Vaters.

Schon die Einfahrt in Saramees gewaltigen Hafen raubte mir den Atem. Kriegsschiffe, die an breiten Stegen vertäut waren, Handelsschiffe, die gehetzt be- und entladen wurden, während ihre Kapitäne um die besten Preise feilschten und kleine Fischerboote, die nach einem langen Arbeitstag gemächlich auf die Anleger zupaddelten. Hinter den Hafengebäuden reckten sich die Türme und Herrenhäuser Saramees in den Himmel, buhlten um die Gunst des Sonnenlichts, das sich auf ihren – mal mehr, mal weniger – aufwändigen Verzierungen spiegelte. Der Hafenlärm übertönte noch alle anderen Geräusche der Stadt, Arbeiter schienen um die Wette zu brüllen und ihre Rufe wurden ebenso laut beantwortet. Masten knarrten bei jeder Bewegung der trägen Schiffe und Fahnen flatterten müde im schwachen Wind. Die Luft roch bereits weniger salzig und vermischte sich mit den Gerüchen der Stadt.

Ich blinzelte und eine einzelne Träne rann mir über die Wange – ob vor Freude, oder weil mir der Wind durchs Gesicht schnitt, ich weiß es nicht.

Rejan hatte die Segel einholen lassen und nun stakten sechs Matrosen das Boot durch das flache Hafenbecken auf einen freien Anleger zu.

Der Kapitän kam auf mich zu und reichte mir Eimer und etwas, das wohl früher ein Besen war, heute aber mehr an ein kleines Holzbrett an einem Stiel erinnerte. »Deckschrubben«, sagte Rejan mir einem breiten Grinsen.

»Aber ich habe doch für die Überfahrt bezahlt?«, wunderte ich mich.

»Sicher«, sagte er mit einem Nicken. »Aber für den Moment sollte es wenigstens so aussehen, als wärst Du Teil der Besatzung und kein mittelloser Einwanderer, findest Du nicht?«

»Oh, ich verstehe.« Bereitwillig nahm ich Eimer und Schrubber entgegen.

»Das heißt: Ay, Kapitän!«, korrigierte er mich lachend.

»Ay, Kapitän«, entgegnete ich zögerlich.

»Ein bisschen mehr Mumm würde dir nicht schaden, Junge«, lachte Rejan und ging zurück ans Steuerrad.

Halbherzig schrubbte ich den Boden, ein Auge immer auf die Stadt gerichtet, den Ort, den mein Vater mir als Paradies auf Erden schilderte, und mein Herz hüpfte vor Freude. »Saramee«, seufzte ich zufrieden in den Wind.

Rejan beobachtete, wie die Männer das Schiff vorsichtig manövrierten und verfiel in schallendes Gelächter: »Los, ihr Hunde, dann könnt ihr euren Lohn schon versaufen, bevor es anfängt zu regnen!«

Regenzeit.

Der Kapitän hatte mir bereits während der Überfahrt mitgeteilt, dass wir zum Beginn der Regenzeit in Saramee einträfen. Die Sonne würde bald ihren Zenith erreichen und somit die neunte Stunde einläuten. Bald darauf, versicherte mir Rejan, würde es regnen.

Schon wieder.

Eine gefühlte Ewigkeit später lag das Boot fest vertäut am Kai und ich verließ mit der Mannschaft das Schiff. Rejan blieb an Bord, er hatte keine Liebe im Herzen für Städte, oder Menschenmassen. Im Herzen jenes Mannes, mit dem unbezwingbaren Grinsen, dem unrasierten, wettergegerbten Gesicht, war nur Platz für die See und sein Schiff. Die Männer munkelten, dass Rejan die Yolanta nach seiner einzigen wahren Liebe benannt hatte und ich musste ihnen zustimmen. Ich trug weder für Schiffe noch die See Liebe in mir, aber gegenüber Rejan empfand ich tiefste Dankbarkeit. Er hatte mich an mein Ziel gebracht. Saramee. Die Gassen verschlangen bald schon alle Matrosen und ich blieb allein am Hafen zurück. Jetzt, aus der Nähe wirkte die Stadt nicht bloß gigantisch, sondern auch beinah erdrückend. Wohin sollte ich mich wenden? Ich kannte niemanden und besaß nichts. Wo sollte jemand wie ich unterkommen?

»Jeder findet sein Glück«, verdrängte ich meine Zweifel und setzte einfach einen Fuß vor den anderen.

Die breiten Straßen und die schmalen Gassen versetzen mich in bloßes Staunen. Niemals im Leben habe ich so viel Geschäftigkeit, Geschrei, Lachen, Gemurmel, Glück und Leid gesehen, wie in Saramee. Dicht an dicht drängten sich die Menschen über den Hauptmarkt und feilschten lauthals mit den Händlern. Fisch, Fleisch, Stoffe, Kräuter – aber auch farbiger Sand für Malereien, Kleidung, Werkzeuge – einfach Alles wurde hier angeboten. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, als ich ein einem kleinen Stand mit frischem Obst vorbeischlenderte und das Knurren meines Magens sagte mir, dass es Zeit war. Ich ließ mich noch ein wenig von der Menge treiben, als mir dann jedoch die ersten Regentropfen auf den kahlrasierten Schädel platschten, flüchtete ich mich in die nächstbeste Schänke, ohne auf ihren Namen zu achten.

Hatte mich die Stadt noch durch ihre Schönheit in ihren Bann gezogen, so stieß mich der Laden durch seine Hässlichkeit ab. Eine kleine Kaschemme, vielmehr war es nicht. Der Schankraum ein einziges Halbdunkel aus dicken Holzpfeilern und verhangenen Fenstern. Es stank nach einer wilden Mischung aus Bier und Pisse, unmöglich zu sagen, was genau in den einzelnen Krügen verdunstete. Rußige Fettlampen tauchten den Raum in schwummriges Licht, das beinah so schmierig wirkte wie der Rest dieser Schänke.

Die Hälfte der Anwesenden – Gäste wäre eine Übertreibung – klammerte sich stumm an einen Tonkrug und starrte in die Ferne, als könnte sie durch die Wand hindurch blicken.

Das Bild der Yolanta durchzuckte mich und seltsamerweise wünschte ich mich zurück an jenen Ort, wo Rejan mir ein wildes Grinsen schenkte und das Leben ein einziges Abenteuer schien.

»Bestell was, oder verschwinde«, raunte mir der Wirt entgegen. Er wirkte nicht weniger heruntergekommen, als seine Schankstube, doch er putzte einen rissigen Tonkrug mit einem verdreckten Lappen mit einer solchen Hingabe, als wäre es feinster Kristall. »Nur rumstehen un’ Glotzen is nich, klar?«

Draußen prasselte der Regen auf die Pflastersteine und die Luft des engen Raumes wurde von Minute zu Minute feuchter.

Ich wollte mich gerade zum Gehen umwenden, als mein Magen mich lautstark zum Bleiben überredete. Vorsichtig wankte ich zur Theke – einer langen Schiffsplanke, die man auf leere Fässer genagelt hatte – und ließ mich auf einem klapprigen, dreibeinigen Hocker nieder, der sicherlich mehr Jahre zählte als ich.

»Also, was willste?«, brummte mir der Wirt ein wenig freundlicher entgegen.

»Essen«, sagte ich knapp, denn meine Aufmerksamkeit wurde von einer fetten Schabe angezogen, die gemütlich über die Theke spazierte.

»Bist nich von hier, was?«, fragte der Mann und musterte mich aus seinen keinen Schweinsäuglein.

»Nein«, antwortete ich geistesabwesend.

»Macht zwei Cil

Erst jetzt wurde mir mein Fehler bewusst, aber es spielte keine Rolle, denn er wollte das Geld im Voraus sehen. Geld, das ich nicht besaß.

»Bist’n Bettler?«

»Nein«, erwiderte ich bestimmt. »Ich bin bloß etwas knapp bei Kasse. Hier wird nicht zufällig ein Kammerjäger gesucht?«

Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich und er stellte den Krug bedächtig auf der Theke ab. »Verschwinde«, sagte er mit erstaunlich deutlicher Stimme.

Einige der Gäste blickten kurz über die Ränder ihrer Krüge zu uns herüber, rührten sich aber nicht. Dennoch, mich beschlich ein beklemmendes Gefühl, als würden die dreckigen Wände noch enger zusammenrücken. Der prasselnde Regen schien mir auf einmal sehr einladend.

»Jeder findet sein Glück in Saramee«, hallten die Worte meines Vaters erneut in meinen Ohren, doch es klang vielmehr wie ein Hohngelächter. Erst einen Tag hatte ich in der Stadt verbracht. Ich war bis auf die Knochen durchnässt, hatte kein Geld, nichts zu Essen und keine Arbeit um daran etwas zu ändern.

In einer engen Seitengasse erblickte ich einen Stapel mit zersplitterten Brettern und löchrigen Kisten. Sollte dies meine erste Schlafstätte in einer Stadt werden, die ich als das Paradies wähnte?

»Ich hatte es mir einfacher vorgestellt«, flüsterte ich. »Deine Geschichten waren nie erfüllt von dreckigen Absteigen, Vater.«

»Ah, der Glanz der Träume«, sagte eine tiefe Stimme. Ich zuckte zusammen und sprang einen Satz nach vorn. Unbemerkt hatte sich jemand an mich herangeschlichen. Ein langer Mantel umhüllte den Mann und eine große Kapuze, die sein Gesicht verdeckte, schützte ihn zusätzlich vor dem Regen, der in langen Bindfäden vom Himmel fiel. In kleinen Rinnsalen bahnte er sich einen Weg über den gewachsten Mantel des Fremden, kristallinen Adern gleich, die über der Haut verliefen. »Verzeihung, wenn ich dich erschreckt haben sollte.«

»Ja … nein … es macht nichts«, stammelte ich vor mich hin.

»Ich wurde auf Deine Misere aufmerksam, junger Freund.« Die Vertrautheit, mit der er zu mir sprach war gleichzeitig befremdlich und beruhigend. Ein freundliches Wesen an diesem so fremden Ort. »Und der Zufall will es, dass ich ein viel beschäftigter Mann bin – beinah zu vielbeschäftigt, verstehst Du?«

Ich musterte ihn stirnrunzelnd und schwieg.

»Ich war einst genau wie Du«, fuhr der Fremde ungerührt fort. »Jung, fremd und völlig mittellos in Saramee gestrandet. Und Dein jämmerlicher Anblick hat mich wieder daran erinnert.« Er deutete auf die Seitengasse: »Ich wette, Du hast bereits überlegt dort zu schlafen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Wäre nichtmal die schlechteste Wahl gewesen … vorausgesetzt, Du teilst Deinen Schlafplatz gerne mit Nagern«, lachte er. »Entschuldigt, ich sollte weiter …«

»Ah, verzeih, ich kam ins Reden. Warte! Ich kann und will Dir helfen«, beginnt er von Neuem. »Sieh, meine Zeit ist knapp bemessen. Ich bin ein Bote im Dienste des Stadtmeisters. Und er gab mir zwei Bündel, die ich ausliefern muss. Für den Lohn von zehn Bai

»Das freut mich für Euch«, erwiderte ich und wandte mich zum Gehen, doch er hielt mich zurück.

»Nun, heute Abend habe ich aber die Möglichkeit ein gar wundervolles Mädchen zu treffen, deren Blüte sich gerade erst geöffnet hat. Wenn ich beide Bündel ausliefern muss, werde ich es aber nicht schaffen.«

»Das klingt nach einem harten Schicksal.« Ich bemühte mich um einen abweisenden Ton, doch er fuhr ungerührt fort: »Wenn du mir ein Bündel abnehmen würdest, könnte ich mein Mädchen sehen. Und wir würden den Lohn gerecht teilen, immerhin haben wir beide etwas davon.«

»Und wer garantiert Euch, dass ich mich nicht mit dem Geld davonmache?«, fragte ich ihn misstrauisch.

»Natürlich bräuchte ich eine Art Pfand von Dir«, lachte er zurück. »Etwas, bei dem ich sicher gehen kann, dass es von großem Wert für Dich ist.«

»Ich habe nur diesen alten Kompass«, sagte ich und förderte ihn aus meiner Tasche. Eine kleine silberne Dose, in der ein lilienförmiger Zeiger die Richtung wies. »Er ist vermutlich nicht viel wert, kaum zwei Bai, aber mein Vater schenkte ihn mir. Er sagte, der Kompass würde mich nach Saramee führen.«

»Das klingt genau richtig!«, sagte der Fremde freudig.

Ich zögerte noch einen Moment. Ich kannte den Mann kaum, sollte ich ihm tatsächlich meinen wertvollsten Schatz anvertrauen? Andererseits, der Kompass war nur für mich von Wert und der Fremde ging ein viel größeres Wagnis ein. Und von den versprochenen fünf Bai könnte ich eine lange Zeit leben, bis ich Arbeit fände.

»Einverstanden.«

~~~

»Gut, gut«, unterbricht mich der Richter. »Was geschah dann?«

Ich versuche mich gerade aufzurichten, doch der Pranger verhindert es. »Ich nahm das Bündel und machte mich auf den Weg zum Hafen. Dort sollte ich das Bündel einem gewissen Ailun übergeben, der dort bei den Docks arbeitet. Er würde mir die fünf Bai zahlen.«

»Und Ihr hattet nicht einen Moment Zweifel an der Aufrichtigkeit dieses Fremden?«, unterbricht mich der Richter.

»Nein«, antworte ich beschämt. »Ich war einfach nur überwältigt von seiner Freundlichkeit und dem Vertrauen, das er einem völlig Fremden entgegenbrachte.«

Ein kehliges Lachen stiehlt sich aus dem Mund des Richters, das er mit einem vorgetäuschten Husten überspielen will. »Nun gut, Euer Geisteszustand steht hier nicht zur Verhandlung. Also, was geschah dann?«

»Am Hafen wurde ich bereits von den Männern der Stadtwache erwartet«, berichte ich. »Die nahmen mich wegen Verdachts auf Schmugglerei fest.«

»Was ja auch zweifelsfrei bewiesen ist«, hakt der Richter ein. »In dem Bündel befanden sich gefälschte Zolldokumente, die man für die Einfuhr von Waren hätte nutzen können.«

»Das wusste ich aber nicht«, versuche ich zu erklären, doch der Richter wedelt nur aufgeregt mit der Hand. »Wenn ich diese Ausrede immer glauben würde, wären unsere Gesetze allesamt unnötig!«

»Aber Ihr müsst mir glauben! Ich war erst an jenem Morgen in Saramee angekommen, ohne Geld oder Arbeit …«

»Das ist ein ganz anderes Problem, dazu kommen wir noch!«, unterbricht mich der Richter schon wieder.

Ich spüre wie die Verzweiflung meine Füße umklammert, anwächst und mir langsam, eiskalt den Rücken empor kriecht. Man glaubt mir nicht – besser noch, man interessiert sich nicht für mich. Saramee ist gewaltig, riesig, ein schillernder Stern am Nachthimmel und ein sumpfiger Morast zugleich, begreife ich.

Die Stimme des Richters reißt mich in die Gegenwart zurück: »Ich bekenne Euch schuldig, dem Schmuggel Vorschub leisten zu wollen. Ihr seid kein Bürger Saramees. Ich kann nicht feststellen, ob Ihr die Wahrheit sagt, auch wenn ich geneigt bin, Euch zu glauben. Unwissende Tölpel anzuheuern und ihnen schlecht gefälschte Dokumente zu verkaufen, ist gängige Praxis, versteht Ihr?«

»Nein«, sage ich und versuche dem Richter in die Augen zu blicken. »Ich habe die Dokumente auch nicht gekauft.«

»Ach, habt Ihr nicht? Und was ist mit diesem alten Kompass?«, erklärt der Richter. »Wer auch immer Euch dies Bündel gab, er hat sicherlich ein gutes Geschäft mit ihm gemacht.«

»Aber kann man dann nicht herausfinden, wer der Mann war?« Ich schöpfe bereits neue Hoffnung, als der Richter bloß gelangweilt den Kopf schüttelt.

Wieder dieses kehlige Lachen: »Wie? Aufgrund eines anonymen Hinweises? Oder weil er den Kompass unter der Hand an einen Sammler verkauft? Der Aufwand wäre einfach ungerechtfertigt.« Er macht eine lange Pause und schüttelt langsam den Kopf. »Und all das für einen Mann, der mittellos hier hausen würde? Einen Mann, den ich vermutlich zweimal pro Woche vor mir hätte, weil er beim Betteln aufgegriffen wurde? Ich spreche Euch schuldig. Und zur Strafe werdet Ihr als Sklave verkauft, auf ein Schiff oder an einen Händler, das ist mir gleichgültig. Auf diese Weise könnt Ihr der Stadt noch einen Dienst tun und etwas von den Kosten, die dieser ganze Prozess verursacht, begleichen.«

Ich will protestieren, doch niemand hört mehr zu. Die Wachen führen mich ab und stecken mich in einen Karren. Man zieht uns zum Hafen, wo wir den Kapitänen der Handelsschiffe präsentiert werden. Die vormals einladenden – ja geradezu verführerischen Gassen – wirken jetzt trostlos und bauen sich bedrohlich um mich herum auf. Häuserschluchten werden zu engen Gräben, als wir zum Hafen transportiert werden. Bald wird der Regen wieder einsetzen, und die drohende Nässe läuft mir bereits eiskalt den Rücken hinunter.

»Den nehm ich«, ertönt eine vertraute Stimme und mein Herz macht – gegen meinen Willen – einen freudigen Sprung.

»Zwölf Bai«, sagt einer der Wachmänner.

Ich werde aus dem Karren gezogen und vor dem Mann auf den Boden gestoßen. Man drückt ihm das Ende der um meinen Hals geschlungenen Kette in die Hand. »Gehen wir.«

Ich folge mit gesenktem Blick, fühle mich aber so glücklich, wie schon lange Zeit nicht mehr.

An Bord des Schiffes nimmt er mir die Kette ab und bedenkt mich mit jenem unverwüstlichen Lachen, das mir seit meiner Ankunft in Saramee nicht mehr aus dem Kopf ging. »Du bist ganz schön auf die Schnauze gefallen, was, Junge?«

Ich kann Rejan nicht in die Augen blicken, bringe aber ein Nicken zustande.

»Fein. Von heute an arbeitest Du für mich«, lacht er. »Die See wird einen Mann aus Dir machen!«

»In Saramee kann jeder sein Glück finden«, pflegte mein Vater stets zu sagen. Lange Zeit habe ich ihm nicht geglaubt. Vier Monate fahre ich nun unter Kapitän Rejan zur See.

Ich stehe vorn hinter der Bugspitze. Wasser und Gischt peitschen mir ins Gesicht, rauben mir den Atem.

Rejan steht am Steuerrad und lacht dem Sturm verächtlich entgegen. Ich fühle mich frei.

Und glücklich.

Der mächtige Bug der Yolanta zertrümmert die Wellen in seinem Weg und wir trotzen dem Sturm.

»Danke, Saramee«, flüstere ich aufs Meer hinaus, »dass du mir gezeigt hast, woran mein Herz hängt.«

- ENDE -

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