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Geister, Gräber und Gelehrte
Titania Mediens Gruselkabinett wird 50
Redakteur: Oliver Kotowski
"Zdenka!"
Die verstörendsten Gruselgeschichten drehen das Werteempfinden der Hörer um: Richtig handelnde Menschen werden bestraft, falsch handelnde nicht unbedingt. Als David Nathans Serge d'Urfe den Namen seiner Geliebten am Ende von Die Familie des Vampirs mit unklaren Gefühlen ausspricht, geht es genau darum: Er stellt fest, dass er seiner Liebe nicht davon laufen kann und sein Verhängnis ihn einholte. Liebe erlöst hier niemanden, sie quält und treibt schließlich in die Verdammnis. Wie viele Hörer mögen wohl wohlig geschaudert haben, als Serge seine Zdenka wiedererkannte?
Die Familie des Vampirs ist zwar nicht die erste Folge des Gruselkabinetts, wohl aber der erste große Erfolg für Stephan Bosenius und Marc Gruppe. Beide zusammen sind für Produktion und Regie verantwortlich, wobei Bosenius eher den geschäftlichen Bereich übernimmt – nicht so spannend für den Hörer, aber erfreulich solide für den Käufer der Reihe. Gruppe adaptiert zusätzlich die Vorlagen für das Hörspielformat. Natürlich sind noch mehr Menschen an einem Hörspiel beteiligt: die Sprecher. Alle Menschen, die für die Reihe Rollen gesprochen haben, hier aufzuzählen, wäre für diesen Beitrag zu lang – es sind immerhin (bisher) achtundsechzig Sprecherinnen und neunundneunzig Sprecher. Manche davon haben nur einmalige Auftritte – wie Susanne Uhlen oder Peer Augustinski – andere kehren oftmals zurück – wie Regina Lemnitz oder Andreas Mannkopff – manche sind Neueinsteiger – wie Friedel Morgenstern oder Alexander Mager – andere sind Veteranen – wie Ariane Borbach oder Klaus-Dieter Klebsch; großartige Leistungen finden sich überall. Unverzichtbar für das Medium Hörspiel sind Geräusche und Musiken. Für das Gruselkabinett liefert diese zumeist das Team um Bionic Beats. Gerade die Musiken bieten hier viel Potenzial, da mit den richtigen Instrumenten schnell die Atmosphäre des Settings erzeugt werden kann – ein Spinett führt den Hörer gleich an die Höfe des frühen und mittleren 18. Jh.
Die erste Folge war Carmilla, der Vampir. Sie erschien vor nunmehr knapp sieben Jahren, im Juli 2004. Was für ein Auftakt! John Sheridan Le Fanus Vorlage um die erste lesbische Vampirin der Literaturgeschichte wurde von Daniela Hoffmann, Manja Doering, Regina Lemnitz, Ariane Borbach, Christian Rode, David Nathan und anderen Vollblutprofis eine hörbare Form verliehen. Die Reihe traf den richtigen Ton – und trifft ihn noch heute: In den vergangenen Jahren wurde sie insgesamt sechsundzwanzig Mal mit dem Hörspiel Award in verschiedensten Kategorien ausgezeichnet, die Serie selbst 2004, 2006, 2007 und 2009, die Einzelfolgen Die Familie des Vampirs, Der Freischütz, Frankenstein, Dracula, Der fliegende Holländer, Der Leichendieb und Jagd der Vampire jeweils mit Gold. Dazu kommen noch der Nyctalus, der Ohrkanus, der Vincent Preis und 2010 der Deutsche Phantastik Preis. Manchmal wird Qualität eben doch ausgezeichnet! Warten wir gespannt, wann es die nächste Auszeichnung gibt – und für welche Folge oder Rolle.
Wie der Titel "Gruselkabinett" schon andeutet, geht es um eine gewisse Art von Horror – nämlich den Grusel – der breit präsentiert werden soll. Anfangs war man sich noch gar nicht so sicher, ob man ernsthaften Horror oder eine gewisse ironische Brechung will – die frühen Coverbilder künden von dieser Unsicherheit. Dann aber ließ man das Ernsthafte fallen, und mit den kitschigen Pastellbildern kam eine Spur Leichtigkeit in die Serie – in Anlehnung an den Krimi könnte man diese Spielart als cozy gothic – gediegene Schauergeschichten – nennen; "Zdenka!" lässt den Hörer eben wohlig erschaudern.
Es gibt vier zentrale Themen. Am häufigsten tauchen Vampire in den Folgen auf: insgesamt vierzehn Mal. Der Auftakt Carmilla, der Vampir war eine Vampirgeschichte, das erste Gold gab es für Die Familie des Vampirs, die längste Geschichte ist Dracula mit drei Folgen (oder sogar vier Folgen, wenn man Draculas Gast mitrechnet) und mit John Polidoris Der Vampir ist auch die älteste vollständig erhaltene Vampirgeschichte vertont worden – kurzum: Vampire treten nicht nur am häufigsten auf, sie besetzen auch viele wichtige Positionen.
Es folgen Fluchgeschichten, worunter ich Geschichten verstehe, in denen eine schicksalshafte oder magische Macht negativ auf die Protagonisten wirkt. Darunter fällt Das Amulett der Mumie, in dem der Zauber der Pharaonin Tera Jahrtausende nach ihrem Tod auf den Archäologen Abel Trelawny wirkt, wie Der Freischütz, in dem der junge Wilhelm auf Freiersfüßen wandelnd sich gezwungen sieht, einen Teufelspakt einzugehen, und demselben zum Opfer fällt, oder eben Per McGraups Der Hexenfluch, in dem der Jahrhunderte alte Fluch einer Hexe die Familie des Henkers heimsucht. Ihrer gibt es neun.
Obwohl Geister im Gruseldiskurs sicherlich präsenter als Flüche sind, gibt es bisher nur acht Geistergeschichten in der Serie. Mit Die Unschuldsengel wurde gleich eine besondere Geschichte vertont – Henry James Vorlage The Turn of the Screw ist die am häufigsten literaturwissenschaftlich interpretierte Geschichte. Mit Shirley Jacksons Spuk in Hill House wurde ein moderner Klassiker vertont – der Roman wurde 1959 veröffentlicht – es ist übrigens die erste Doppelfolge der Reihe. Und dann ist da noch Oscar Wilds Das Gespenst von Canterville – mit dieser hervorragenden Vorlage wird das Jubiläum der 50. Folge gefeiert.
Das letzte große Thema ist das menschliche Grauen. Das sind einerseits die Geschichten mit wahnsinnigen Mördern, wie etwa Das Phantom der Oper oder Dr. Jekyll und Mr. Hyde, andererseits die conte cruel. Conte cruel sind – grob gesagt – vom Plot her ganz ähnlich wie Splatter-Horror, doch die Spannungsquellen sind andere: Beim Splatter soll der Rezipient ob der explizit dargestellten exzessiven Gewalt schockiert werden, bei der conte cruel werden bezüglich der exzessiven Grausamkeit nur Andeutungen gemacht – das Grauen stellt sich dann ein, wenn der Rezipient selbst den Schluss aus den Andeutungen zieht. Dazu zählen etwa Der Leichendieb oder der Glöckner von Notre Dame.
Daneben gibt es noch einige kleinere Themen, die nur vereinzelt auftreten: Es gibt drei Folgen mit künstlichen Menschen, wie Der Sandmann, drei Folgen mit Monstern, wie Die Berge des Wahnsinns, zwei mit Werwölfen, wie Der weiße Wolf, und zwei um Tierhorror, wie Das Haus des Richters. Schließlich gibt es noch zwei Folgen mit 'Meta-Horror': In Northanger Abby reflektiert die Autorin ihren Horror vor dem aus dem Konsum von Gruselgeschichten resultierenden Eskapismus.
Es muss natürlich noch auf die Offenheit der Kategorien verwiesen werden – oftmals ist nicht eindeutig, in welche Kategorie eine Geschichte gehört – wirkt da nun ein Fluch oder ist es doch eher eine Geistergeschichte. Die Spinne ist da ein besonders schwieriges Exemplar. Die Geschichte selbst bleibt schon hinsichtlich der Frage offen, ob die Selbstmordreihe nun ein Zufall ist und Bracquemonts Wahrnehmungen auf seinen gestörten Geist zurückgehen oder ob da wirklich etwas Übernatürliches am Werke ist. Und wenn ja, wie soll man das einordnen: Tierhorror? Ich habe die Geschichte bei den Flüchen verortet, da die ungreifbare Wirkung – ob real oder nicht – die zentrale Rolle spielt.
Gliedert man die bisherigen Folgen in Blöcke zu je fünf Folgen auf (was sich nicht ganz mit der Veröffentlichungsstrategie der Reihe deckt – am deutlichsten wird es bei der Geschichte Northanger Abby, die aus den Folgen 40 und 41 besteht, die so in zwei verschiedene Blöcke fallen), dann lässt sich eine gewisse Entwicklung bei den Themen erkennen. Im ersten Block wurde aufgezeigt, worum es gehen wird: Vampire, Geister, Flüche und menschliches Grauen. In den nächsten Blöcken wird oftmals ein Thema in den Mittelpunkt gerückt: Folge 6-10 hat vier Geistergeschichten, Folge 16-20 vier Vampirgeschichten, Folge 21-25 drei Fluchgeschichten usw. Auffällig ist der Sprung, der mit dem Block Folge 41-45 auftritt: Die Blöcke bis Folge 40 bestehen nur zu 12,5% aus den kleinen Themen, ab Folge 41 (bis 50) wächst es drastisch auf 70% an. Dies kann wohl als Ausdruck einer thematischen Öffnung verstanden werden.
Einen gewissen Widerhall davon findet man in den Jahren der Erstveröffentlichung der Vorlagen. Zwar lautet der Untertitel des Gruselkabinetts "Die Meisterwerke der Schauer-Romantik […]", was eine Erstveröffentlichung im 18. oder frühen 19. Jh. impliziert, doch schon mit den Folgen 8 & 9: Spuk in Hill House wurde verdeutlicht, dass "Schauer-Romantik" weniger literaturwissenschaftlich als atmosphärisch zu verstehen ist. Dennoch ist diese Atmosphäre besonders stark mit jenem Zeitraum verbunden, entsprechend gibt es eine Vielzahl von Folgen mit Vorlagen aus dem 19. Jh.: siebzehn aus der ersten Hälfte, fünfzehn aus der zweiten – das sind beinahe zwei Drittel aller Geschichten. Ab dem Block Folge 31-35 lässt sich dann aber eine Verschiebung hin zum 20. Jh. beobachten: In den letzten vier Blöcken haben nur fünf Folgen eine Vorlage aus der ersten Hälfte des 19. Jh. und weitere fünf aus der zweiten Hälfte; dagegen haben acht Folgen Vorlagen aus der ersten Hälfte des 20. Jh. und die beiden übrigen aus der zweiten Hälfte.
Schaut man sich die Nationalität der Autoren der Vorlagen an, dann fällt eine überraschende Enge auf: Von den ersten fünfzig Folgen stammten die Vorlagen von sechsunddreißig aus dem angloamerikanischen Raum (zweiundzwanzig von Briten, vierzehn von US-Amerikanern), acht aus dem deutschen, fünf aus dem französischen Sprachraum und nur eine aus Russland. Hier lässt sich zudem eine Verengung konstatieren: Ab Folge 31 sind mit Ausnahmen von zwei deutschen alle Vorlagen aus dem angloamerikanischen Raum.
Und wie mag die Zukunft aussehen? Bis Folge 59 steht der Fahrplan schon fest. Hinsichtlich der Vorlagen werden die bisherigen Tendenzen weitergeführt: Sie stammen alle aus dem angloamerikanischen Raum und nur eine aus dem späten 19. Jh., die übrigen aus der ersten Hälfte des 20. Jh. Inhaltlich lässt sich natürlich nur begrenzt viel sagen: Es werden Monster dabei sein, vermutlich mindestens eine Fluchgeschichte, vielleicht Vampire und Geister – lassen wir uns überraschen.
Damit sind wir schon am Ende dieser kleinen Seriengeschichte gelangt. Was bleibt? Ich wünsche meinen Mithörern und mir, dass es weiterhin gute Meisterwerke der Schauer-Romantik gibt. Die thematische Öffnung halte ich generell für gut, hoffe aber, dass es auch weiterhin die Klassiker aus dem 19. Jh. geben wird. Hinsichtlich der Vorlagen würde ich mir auch eine Zuwendung zu anderen Sprachräumen wünschen: Es gibt tolle Gruselgeschichten aus Lateinamerika, Spanien, Italien, die Japaner haben mehr Horror als Fukushima zu bieten und die Russen haben noch ganze Schränke voll unerschlossener Gruselklassiker.
Vor allem aber wünsche ich den Machern vom Gruselkabinett weiterhin gutes Gelingen – auf die nächsten 50!
Herzlichen Glückwunsch, Titania Medien!
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1. J. S. LeFanu: Carmilla, der Vampir
2. Bram Stoker: Das Amulett der Mumie
3. A. K. Tolstoi: Die Familie des Vampirs
4. Gaston Leroux: Das Phantom der Oper
5. Henry James: Die Unschuldsengel
6. Edward Bulwer-Lytton: Das verfluchte Haus
7. Friedrich Laun: Die Totenbraut
8. Shirley Jackson: Spuk in Hill House 1
9. Shirley Jackson: Spuk in Hill House 2
10. Robert Louis Stevenson: Dr. Jekyll und Mr. Hyde
11. Edgar Allan Poe: Der Untergang des Hauses Usher
12. Mary W. Shelley: Frankenstein 1
13. Mary W. Shelley: Frankenstein 2
14. E. B. S. Raupach: Die Blutbaronin
15. Johann August Apel: Der Freischütz
16. Bram Stoker: Draculas Gast
17. Bram Stoker: Dracula 1
18. Bram Stoker: Dracula 2
19. Bram Stoker: Dracula 3
20. Alexandre Dumas: Der Werwolf
21. Per McGraup: Der Hexenfluch
22. Heinrich Heine: Der fliegende Holländer
23. Johann August Apel: Die Bilder der Ahnen
24. H. P. Lovecraft: Der Fall Charles Dexter Ward 1
25. H. P. Lovecraft: Der Fall Charles Dexter Ward 2
26. Theophile Gautier: Die liebende Tote
27. Robert Louis Stevenson: Der Leichendieb
28. Victor Hugo: Der Glöckner von Notre Dame 1
29. Victor Hugo: Der Glöckner von Notre Dame 2
30. John William Polidori: Der Vampir
31. Rudyard Kipling: Die Gespenster-Rikscha
32. Barbara Hambly: Jagd der Vampire 1
33. Barbara Hambly: Jagd der Vampire 2
34. Francis Marion Crawford: Die obere Koje
35. Bram Stoker: Das Schloss des weißen Lindwurms
36. Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray 1
37. Oscar Wilde: Das Bildnis des Dorian Gray 2
38. Hanns Heinz Ewers: Die Spinne
39. H. P. Lovecraft: Der Tempel
40. Jane Austen: Northanger Abbey 1
41. Jane Austen: Northanger Abbey 2
42. E. T. A. Hoffmann: Der Sandmann
43. Bram Stoker: Das Haus des Richters
44. H. P. Lovecraft: Berge des Wahnsinns 1
45. H. P. Lovecraft: Berge des Wahnsinns 2
46. Edgar Allan Poe: Die Maske des roten Todes
47. Edith Wharton: Verhext
48. Bram Stoker: Die Squaw
49. Frederick Marryat: Der weiße Wolf
50. Oscar Wilde: Das Gespenst von Canterville
51. Arthur Conan Doyle: Die Mumie
52. Robert E. Howard: Tauben aus der Hölle
53. William Hope Hodgson: Die Herrenlose
54. Alice & Claude Askew: Aylmer Vance – Abenteuer eines Geistersehers 1
55. Alice & Claude Askew: Aylmer Vance – Abenteuer eines Geistersehers 2
56. Alice & Claude Askew: Aylmer Vance – Neue Abenteuer eines Geistersehers 1
57. Alice & Claude Askew: Aylmer Vance – Neue Abenteuer eines Geistersehers 2
58. H. P. Lovecraft: Pickmans Modell
59. Edith Nesbit: Das violette Automobil
60. Robert E. Howard: Der Grabhügel
61. Arthur Conan Doyle: Der Ring des Thot
90. Howard Phillips Lovecraft: Die Farbe aus dem All
91. James Matthew Barrie: Mary Rose
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