Stadt der Heiligen und Verrückten (Autor: Jeff VanderMeer)
 
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Stadt der Heiligen und Verrückten von Jeff VanderMeer

Rezension von Oliver Kotowski

 

Die Stadt Ambra: Lassen Sie ihr Motorfahrzeug stehen und schlendern den prächtigen Albumuth-Boulevard mit all seinen Repräsentationsbauen entlang oder verirren sich in seinen zahllosen und verschlungenen Nebenstraßen und Gassen. Vielleicht schauen Sie in die Buchhandlung Borges hinein und erstehen Vivian Price Rogers' beliebten Roman "Die Folterkalmare mischen ein paar Priester auf", genießen die Lebensmittelkunst der am Straßenrand lauernden Obst- und Fischhändler oder warten einfach im Gedränge von Hausierern, Künstlern, Prostituierten und Matrosen auf Landgang in einer pittoresken Kneipe auf den Beginn des nervenaufreibenden Fests des Süßwasserkalmars. Nach dem bekannten Historiker Duncan Shriek begleitet das Fest die Bevölkerung Ambras durch ihre wechselhafte Geschichte seit der Katten Manzikert I. die Stadt der mysteriösen Pilzbewohner, oder Grauhüte, zerstörte um an der Biegung des Mott-Flusses seine eigene zu gründen. Fürchten Sie während der Ausschweifungen des Festes in die Auseinandersetzungen der Anhänger des Kampfphilosophen Peterson und der Strattonisten zu geraten, besuchen Sie eines der komfortablen Schutzhäuser von Hoegbotton und Söhne – vor Lebenden Heiligen des Ordens der Ejakulation sind Sie dort auch sicher. Doch vergessen Sie nicht: Die Gitter vor den Fenstern dienen nicht allein der Zierde! Sie entfernen diese also auf eigene Gefahr.

 

Wie wird man der Ambivalenz und Vielschichtigkeit dieses Buchs gerecht? Das beginnt schon mit der Frage, ob es sich hierbei um eine Anthologie von Novellen und Kurzgeschichten mit thematischen Zusammenhang und dem gemeinsamen Setting Ambra oder ob es sich um einen Episodenroman mit kaleidoskopischen Perspektiven handelt. Da sie zunächst unabhängig voneinander geplant waren, will ich der Einfachheit halber auf sie als Novellen und Kurzgeschichten Bezug nehmen.

Zentral sind die vier Novellen, die den ersten Teil des Buchs ausmachen. In Dradin, verliebt kommt der Missionar Dradin nach einer schweren Fierkrankheit aus dem Dschungel zum ersten Mal nach Ambra. Auf der Stelle verliebt er sich in die wunderschöne, junge Frau, die am Fenster von Hoebotton und Söhne sitzt. Er beauftragt den eigenartigen, tätowierten Zwerg Dvorak ihr zuerst ein kleines Geschenk zu übergeben und später ein Treffen zu arrangieren. In der Zwischenzeit versucht der von seltsamen Erinnerungen an die Zeit im Dschungel und akutem Geldmangel geplagte Dradin eine Arbeit bei der Mission zu finden um seine Liebste auf dem Fest des Süßwasserkalmars zu beeindrucken – doch sein alter Lehrer rät ihm die Stadt noch vor dem Fest zu verlassen, denn es wird schlimm werden. Hoegbottons Führer zur Frühgeschichte der Stadt Ambra berichtet in Form eines historischen Aufsatzes von der Zerstörung der Grauhut-Stadt Cinsorium und der Ermordung ihrer Bewohner, von den Wirren der frühen Jahre und der Ambra zutiefst erschütternden Stille, einem unheimlichen und unerklärbaren Ereignis, welches noch lange nachhallt. Versehen mit Fußnoten und dem bissigen Humor, der manchem Historiker zueigen ist. Die Verwandlung des Martin See führt dem Leser die Ereignisse um die Einladung zu einer Enthauptung vor Augen, die dazu führen, dass aus dem mäßigen Maler See, der "interessante" Bilder anfertigt, ein Schöpfer verstörender Gemälde wird. Die Kunstwerke, die aus dem Geschehen entstehen, werden zwischendurch von der Kunsthistorikerin Janice Shriek kommentiert. Der seltsame Fall von X befasst sich mit dem Schriftsteller X, der in einer Nervenklinik eingewiesen wurde, da er Imagination und Realität nicht mehr auseinander halten kann. Die Phantasiestadt Ambra, so sagt er, dringe immer wieder in seine Geschichten ein. Einst habe er von Chicago nach Ambra wechseln können, er habe sogar Dinge von dort mitgebracht. Aber mittlerweile könne er wieder klar denken – doch überzeugt das auch Dr. V?

Der zweite Teil AnneX (engl. "annex" = "Anhang"), dessen Titel schon an Cronenbergs Film eXistenZ erinnert, ist viel enger mit einander verknüpft, aber zugleich viel schwieriger zu durchschauen. Es lässt sich, grob gesagt, als Zusatz zu Dem seltsamen Fall von X verstehen. Er besteht aus zwölf sehr unterschiedlichen Texten, wie einen Brief von Dr. V an Dr. Simpkin, in dem V kurz die von X zurückgelassenen Schriften (die dann folgen) kommentiert; die Notizen von X, die über einige schon gelesene Geschichten noch einmal nachdenken lassen; die liebevolle Satire auf die Werke von Amateur-Zoologen in Form des Traktats Der Königskalmar, eine Abhandlung über jenes verehrungswürdige Geschöpf von F. Madnok, den X in der Nevenklinik getroffen haben will, aber nach Dr. V nie dort war; oder Der Käfig, eine Geschichte über den zweiten Hoegbotton in Ambra (der erste war ein Opfer der Stille geworden), der Artefakte der Pilzbewohner sammelt; er erhält einen sonderbaren leeren Käfig, den die Grauhüte bei ihren verstümmelten Opfern zurückgelassen hatten. Der (fiktive) Autor dieser Geschichte ist der geniale Sirin (man sollte nach dem Lesen dieser Geschichte unbedingt den dazu gehörigen Eintrag im Glossar lesen). Einige Geschichten sind sehr kurz und nur im engen Zusammenhang mit anderen Geschichten verständlich: Die zweiseitige Mitteilung von Dr. V an Dr. Simpkin, in der dieser von seinem Unbehagen und letztlich der Weigerung den Rest des folgenden Textes: Der Mann, der keine Augen hatte zu dechiffrieren berichtet, ist ohne die erwähnte Geschichte kaum interessant. Diese wiederum referiert auf Den Käfig, denn der Augenlose übergibt den Plot der Geschichte dem Ich-Erzähler: Nun ist der Augenlose eigentlich das literarische Alter-Ego VanderMeers, wie es auch der Ich-Erzähler zu sein scheint (oder ist das der fiktive Sirin – dieses Puzzle wird dem Leser überlassen), und auf die Geschichte auf dem Umschlag des Buches (auch ein nettes Wortspiel: "Coverstory"). Die letzte Seite hat Dr. V tatsächlich nicht entschlüsselt – dieses obliegt dem geneigten Leser…

 

Knappe, zusammenfassende Worte über die üblichen Ingredienzien, wie Setting, Figuren, Plot und Erzähltechnik, lassen sich kaum formulieren: Die Texte sind von einer unglaublichen Vielfalt geprägt; VanderMeer zeigt, über welche Möglichkeiten er verfügt – und das sind einige. Neben dem Spaß an Variationen neigt er zum Exzentrischen und Skurrilen, welche mit spöttischer Ironie und bitterer Satire verbunden werden. Das Ergebnis ist eine finstere Groteske, bei der man nicht weiß, ob man sich amüsieren oder fürchten soll. Außerdem strotzen die Texte von selbstreferentiellen Anspielungen, jedoch passen die Mosaiksteine vielfach nicht sauber aneinander. Dieses Herangehen ist schon von M. John Harrisons Reihe um die Pastell-Stadt Viriconium bekannt, die sich immer wieder wandelt und dem Leser so keinen sicheren Zufluchtsort bietet. Ein zentrales Thema, welches sich gerade durch die späteren Geschichten zieht, ist die gegenseitige Beeinflussung von Schöpfer und Geschöpf, Schreiber und Schrift. X hat viele Möglichkeiten in Ambra – aber ist Ambra vielleicht am Ende Herr über X? Hier greift VanderMeer ein Thema auf, welches James B. Cabell in der Biographie des Lebens von Manuel Reihe, besonders in Der zerbrochene Spiegel, mit der Figur Horvendil schon angegangen war. Das andere Thema, welches tatsächlich alle Geschichten durchdringt, ist die Verwandlung, besonders in Verbindung mit Wahnsinn und Wahrnehmung. Hier entwickelt VanderMeer bisweilen Bilder aus Lewis Carrols Alice hinter den Spiegeln weiter. Man sieht, originell ist VanderMeer nur in Grenzen, doch Ungewöhnlichkeit kann man ihm nicht absprechen. Und er ist konsequent: Wo die zuvor genannten Autoren nur zaghafte Schritte wagen, marschiert er zielstrebig drauflos – der Leser muss acht geben, ihn nicht zu verlieren. Ungewöhnlich ist auch die Gestaltung des Buchs: Der Autor experimentiert mit Schriftarten, -größen, Zeilenabständen, den Rändern und anderen Möglichkeiten des Formats. Bildern kommt zuweilen mehr Bedeutung als die der bloßen Illustration zu. Man kann daneben noch sehr viel mehr entdecken und besprechen, wie die Anspielung in Dradin, verliebt auf Mervyn Peakes Der junge Titus oder warum Stadt der Heiligen und Verrückten häufig zur "New Weird" gezählt wird.

 

Wer eine rasante oder lockere Feierabendlektüre mit klarem Plot wünscht, sollte um dieses Buch einen großen Bogen machen. Wer aber ein kafkaeskes Setting mit exzentrischen Figuren in kunstvoller Sprache, ein Spiel mit den Fiktionsebenen in allerlei Variationen und interessanter Intertextualität und vielleicht darüber hinaus noch über deren Relationen nachdenken mag, der wird mit Jeff VanderMeers Stadt der Heiligen und Verrückten einige spannende und anstrengende Stunden verbringen können.

 

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Buch:

Stadt der Heiligen und Verrückten

Original: City of Saints and Madmen, 2002

Autor: Jeff VanderMeer

Gebundene Ausgabe, 460 Seiten

Klett-Cotta, Juli 2005

Übersetzer: Erik Simon

 

ISBN-10: 3608937730

ISBN-13: 978-3608937732

 

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Erstellt: 18.07.2006, zuletzt aktualisiert: 07.10.2024 19:25, 2564