Tagebuch aus der Hölle (Jeffrey Thomas)
 
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Tagebuch aus der Hölle von Jeffrey Thomas

Rezension von Torsten Scheib

 

Rezension:

Es gibt einfach zu wenige Bücher über die Hölle! Dabei bietet doch ausgerechnet dieser schwarze Fleck, dieses »Terra Incognita« der dunklen Phantastik geradezu grenzenlose Möglichkeiten. Zumal Unterwelt nicht gleich Unterwelt ist. Vom alten Ägypten hin zum Buddhismus und dem Glauben der Griechen: überall sind höllenähnliche Orte zu finden, doch sind sie allesamt zum Teil drastisch verschieden. Fraglos also ein reichlich blühendes Feld, von dem sich potenzielle Autoren ausgiebig bedienen könnten. Doch wie bereits erwähnt, ist die Zahl der höllischen Elaborate immer noch sehr überschaubar. Erwähnenswert sind in diesem Kontext unter anderem Edward Lees regelmäßige Ausflüge (bei ihm ist die Hölle eine einzige, dämonische Metropole), Michael Marraks überbordende Mischung aus bekannten Glaubenskonzepten mit Science Fiction-Elementen, Morphogenesis sowie – ansatzweise – Clive Barkers Novelle Das Tor zur Hölle, welches dank der masochistisch geprägten Cenobiten einen Ausblick darauf gibt, was uns im ungünstigsten Fall nach unserem Ableben erwarten kann.

 

Und wie gelangt man am schnellsten dorthin? Eine fraglos sehr gute Methode ist der patentierte Selbstmord; ein Ausweg, für den sich auch der Protagonist von Tagebuch aus der Hölle entscheidet. Bloß hat er die Rechnung nicht ohne den Wirt gemacht. Denn anders, als von seinem agnostisch geprägtem Glauben diktiert, endet das Dasein nicht einfach nach dem Tod, sondern wird vielmehr auf einer anderen Daseinsebene fortgeführt – unglücklicherweise auch in der Hölle, wo sich der bedauernswerte Tagebuchschreiber schließlich wieder findet.

Es ist in der Tat ein Ort der Pein; ein reißender Strudel endloser Leiden und zugleich so ganz anders wie in den allgemeinen Religionen beschrieben. Denn hier vegetieren nicht nur die Mörder und Selbstmörder, die Vergewaltiger und Lügner bis in alle Ewigkeit vor sich hin. Vielmehr ist es auch die Endstation jener, die entweder nie an Gott und seinen Sohn geglaubt haben oder andere Götter verehrt haben. Und wer vor der Zeit der allgemeinen Glaubensbewegungen den Löffel abgab? Pech gehabt. Aber hey! Zumindest werden Neu-Bewohner nicht einfach so ihrem Schicksal überlassen. Vielmehr absolviert jeder Neuling erst mal einen intensiven Kurs an der lokalen Avernus-Universität. Die Hauptfächer: unter anderem Kasteiung und Erniedrigung, ehe man nach erfolgreichem Abschluss – einer Kreuzigung – schließlich ins Unbekannte entlassen wird.

 

Verständlich, dass sich der Protagonist keinesfalls für jene Orte entscheidet, an dem Schmerz und Qualen reichlich vorhanden sind. Vielmehr macht er sich auf die Suche nach einem ruhigen, stillen Plätzchen – und davon muss es doch selbst in der Hölle welche geben. Die gibt es tatsächlich. Nur mit der Ruhe und Stille ist es nicht ganz so einfach, sind sie doch zumeist von überschaubarer Dauer. Und so treibt es den namenlosen Schreiber immer weiter, bis er eines Tages in einem Wald auf die Dämonin Chara trifft, der man Übles angetan hat. In einem Moment des Mitgefühls entscheidet sich der Protagonist dafür, die Gekreuzigte zu befreien. Als Dank beschließt Chara, ihn nicht vollständig zu vernichten. Und so gehen der Verdammte und die Dämonin weiter ihre eigenen Wege. Doch selbst in der Hölle scheint es so etwas wie Schicksal zu geben – und Liebe. Ein Gefühl, das die beiden so unterschiedlichen Wesen füreinander befällt, nachdem sie sich in der Höllenstadt Oblivion wieder begegnen. Und zugleich ein fundamentaler Verstoß gegen die höllischen Gesetze; ein elementares Delikt, dass imstande sein kann, alles für immer von Grund auf zu verändern …

 

Das Jeffrey Thomas bildgewaltige, atemberaubende Mini-Epen meisterhaft in Worte umsetzen kann, ist allerspätestens seit Monstrocity kein Geheimnis mehr. Mit »Tagebuch aus der Hölle« legt er aber nun zweifellos sein bislang bestes und auch visionärstes Werk vor. Dabei macht es sich der Autor keineswegs einfach. »Seine« Hölle hat Hand und Fuß und ist dank festgelegter Regeln und Gesetze ein autarker, wenngleich immer noch alles andere als schöner Ort. Dort gibt es Schmerzen, Qualen, Leiden, Sadismus, Hass und noch zahllose weitere Grausamkeiten, allesamt sehr bildgewaltig, teils gewagt und fast immer bemerkenswert kreativ. Auch die geographischen und architektonischen Elemente wirken dabei keineswegs so, als seien sie von Thomas zu reinen Selbstzwecken platziert worden. Weit gefehlt. So überbordend das »Tagebuch« bisweilen erscheint – zu keinem Augenblick verliert es Hand und Fuß oder verfällt irgendwelchen Klischees. Fraglos eine mehr als bemerkenswerte Leistung.

Doch was den Roman endgültig von der Konkurrenz abhebt, ist das Wesen der Hölle selbst. Denn trotz aller Grausamkeiten kommt einem dieser Ort seltsam bekannt vor; existieren unter der harten Schale der Ewigen Verdammnis noch immer höchst menschliche Eigenschaften wie Wohlwollen, Vergebung und eben sogar Liebe. Kein Vergleich also zum himmlischen Gegenpart, der von Thomas alles andere als in einem positiven Licht dargestellt wird – mit besonderem Augenmerk auf einen gleichermaßen ausgebrannten wie unberechenbar agierenden Schöpfer; ein altes Wesen, das im Wachkoma vor sich hindämmert und längst nur noch auf dem Papier das Sagen hat. Eine ebenso starke wie auch provozierende Aussage.

Ein kleiner Wermutstropfen bleibt aber trotzdem. Aus dem Kernthema seines Romans – der Liebe des Erzählers zur Dämonin Chara und die daraus resultierenden Folgen – hätte Thomas eindeutig mehr machen müssen. Stattdessen bleibt eine Aussicht auf jene Dinge, die passieren könnten, viel mehr nicht. Doch wie bereits erwähnt, fällt dieser, im Vergleich zum Rest winzige Makel, eigentlich kaum ins Gewicht, da es Thomas schon nach den ersten Seiten mühelos gelingt, den Leser in seinen Bann zu ziehen.

 

Fazit:

Visionär, melancholisch, episch, bizarr – schlichtweg grandios. »Tagebuch aus der Hölle« ist eine unglaubliche Achterbahnfahrt durch die Unterwelt und erinnert dank seiner zahllosen ausufernden Momente bisweilen sogar an die besten Frühwerke von Altmeister Clive Barker. Dabei bleibt Thomas’ Stil stets genau so einzigartig wie originell; finden selbst gut gezielte Seitenhiebe auf Kirche und Religion ihren Platz. Vollendet wird dieses dunkle Meisterwerk schließlich durch Erik Wilsons ausnahmslos geniale Illustrationen, welche die Atmosphäre perfekt einfangen.

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Buch:

Tagebuch aus der Hölle

Original: Letters from Hades

Autor: Jeffrey Thomas

Übersetzerin: Doris Hummel

Taschenbuch, 272 Seiten

Festa-Verlag, 17. August 2011

Illustrator: Erik Wilson

 

ISBN-10: 3865520960

ISBN-13: 978-3865520968

 

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 15.10.2011, zuletzt aktualisiert: 02.12.2021 18:51, 12140