Titans Kinder (Autorx: Aiki Mira)
 
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Titans Kinder von Aiki Mira

Eine Space-Utopie

 

Rezension von Yvonne Tunnat

 

Aiki Mira hat für das Jahr 2021 sowohl den DSFP als auch den KLP mit der Kurzgeschichte Utopie-27 gewonnen. Titans Kinder ist der erste Roman der Autorx.

 

Die Crew, bestehend aus Sunita (Ingenieurin), Rain (Bioinformatikerin) und Marlon (Mädchen für alles), macht sich auf den Weg zum Titan, um einem unspezifischen Notruf nachzugehen. Marlon, aus dessen Sicht zunächst erzählt wird, erfährt aber erst auf Höhe des Mars davon, vorher war er davon ausgegangen, dass ihr Ziel der Mars ist.

 

Auf Titan angekommen, stellen sie fest, dass die dortige, dreiköpfige Crew weder vollzählig noch unversehrt ist. Gleichzeitig entdecken sie dort außerirdische Fauna. Trotz der Widrigkeiten bauen sie sich dort ein Leben auf. Nach drei Jahren auf dem Titan kommt es erneut zu einigen Wendungen, da drei Besucher Titan erreichen und Rain ein womöglich außerirdisches Wesen findet, das sie für ein Kind hält.

Außerdem wird nach und nach aufgedeckt, wie sich die Figuren nach einiger Zeit auf dem Titan verändern, auch körperlich, sogar genetisch.

 

Meiner Ansicht nach fügt dieser Roman einigen wichtigen SF-Themen und allgemeinen Prosathemen so einiges hinzu, wie:

 

  • Erstkontakt
  • außerirdische Fauna
  • Morde auf engem Raum
  • Space-Symbiose
  • Wahlfamilie
  • diverse Persönlichkeiten (Selbstverständnis von Menschen)
  • Anpassungen an fremde Lebensräume (das gab es schon bei Der vierte Mond von Kathleen Weise, da war es auch gut gemacht)
  • Gaming mit einer KI

 

Die Story folgt dabei einem roten Faden und baut die phantastische Welt nach und nach auf. Bei dem vermeintlich außerirdischen Kind wurde mein Phantastik-Muskel sehr gefordert, die Erklärung fand ich später einleuchtend.

 

Großes Plus des Romans sind die Figuren. Und das, obwohl man kaum etwas über ihre Vergangenheiten erfährt. Rains schwierige Kindheit wird angedeutet. Die soziale Herkunft ist klar, ebenfalls die Heimat, Auswanderung in der Jugend/Kindheit ist ein Thema für die meisten Hauptfiguren.

 

Man erfährt wenig über das vorherige Leben der Figuren, trotzdem werden sie für mich sehr plastisch. Vor allem Rain, aber auch Marlon und Verve und sogar die Figuren, die im zweiten Teil ab Seite 75 dazukommen.

 

Alles spielt auf der Reise zwischen Mars und Titan (kurz) und auf dem Titan. Daher erfahren wir recht wenig über die Erde. Die Informationen stecken fast schon mehr unter als zwischen den Zeilen.

Selten gibt es noch etwas Aufschluss.

 

»Auf der Erde war der Verzehr von Tieren in weiten Teilen verboten. Einzige Ausnahme bildeten Insekten.«

 

Dementsprechend zögerlich beginnen die Figuren auf dem Titan, die dortigen Fische zu essen.

Auch wird im Hintergrund deutlich, dass das Thema Flucht und Auswanderung auf der Erde mehr und mehr an Bedeutung gewonnen haben (selbst im Vergleich zu unserer jetzigen Gegenwart).

Der Titan und sein Leben hingegen werden ausführlich beschrieben.

 

Die Sprache hat mir außerordentlich gut gefallen, hier ein paar Stellen, die ich besonders genossen habe:

 

»Die Härchen auf seinen Armen und Beinen richteten sich auf, als wollten sie davonschwimmen. Das ist mein Erstkontakt! Euphorie und Staunen schwemmten seinen Körper.«

 

»Als Marlon und Verve die Eiskammer betraten, hatte sich um Rains Kopf eine Lache gebildet. Aus echtem Blut, durchfuhr es Marlon. In einer Farbe, die aufschrie vom Boden.«

(Warum sollte es auch nicht echtes Blut sein, Rain ist ein echter Mensch. Hier wird Marlons Unglaube geschickt gezeigt. Außerdem wird die Farbe personalisiert.)

 

»Dabei fielen ihr die feinen Pünktchen an seiner Schläfe auf. Leberflecken, die in ihrer Anordnung an eine Galaxie erinnerten.«

 

Insgesamt fällt mir auf, dass die Autorx großartig über Gefühle schreiben kann. Nicht nur über Trauer, sondern auch über Angst, Liebe, Zugehörigkeitsgefühle (wie Familie/Wahlfamilie), Neid und sogar Mordlust. Egal wie komplex oder schwierig das Gefühl der Figur auch sein mag, die Autorx hält drauf und zeigt uns, was da im Innern passiert. 

 

Für mich geht es in dem Roman vordergründig um Familie und Heimat. Und zwar sowohl um das, was ich dabei erwarte, als auch das, was ich nicht unbedingt erwarten würde. Plus, es geht um Veränderung. Was verändert mich? Inwiefern? Hier nicht nur die klassische Figurenentwicklung, sondern auch körperliche Veränderung.

 

Was ist mit den hintergründigeren, eher versteckten Themen? Was macht mich als Mensch aus? Liebe? Sexualität, Nähebedürfnis? Beziehungen?

Was ist Identität und wie sehe ich mich selbst, wie sehen mich andere, das wäre ein Nebenthema.

Wie sieht sich der Mörder selbst? Wie wird er von anderen gesehen und was macht es mit ihnen?

 

Das Thema Mitglieder einer Space-Symbiose als Familie ist zwar in der Space Opera alles andere als neu, aber hier auf eine für mich neue Art und Weise beleuchtet. Wenn es drei Personen gibt, die diese Symbiose bilden und zwei davon beginnen, sexuelle Kommunikation dazu zunehmen, die dritte Person ist aber asexuell und möchte dabei nicht mitmachen, was macht das dann mit dieser Symbiose?

 

Am Ende kommt noch mal einiges zum Thema Kommunikation und die angedeutete Lösung für ein bestimmtes Problem fand ich ausreichend interessant, um mir zu wünschen, dass die Autorx noch mal zu diesem Setting zurückkehrt und dieses Thema weiter aufbohrt.

 

Figuren:

 

Marlon Khoury

Marlon ist ein untypischer Held, und nur auf den ersten Blick ein »männlicher, weißer, able-bodied, Hetero-Cis Held«, die in der SF oft zu finden sind. Auf den zweiten Blick leidet er unter Migräne, die ihn auch komplett ausknockt und ist nicht hetero, auch wenn ich ihn zunächst so gelesen hatte. Er ist pansexuell und nicht grundsätzlich auf Frauen beschränkt, auch wenn sein hier szenisch geschildertes Interesse sich in der Hauptsache auf zwei Frauen konzentriert (hauptsächlich, aber nicht nur).

Er hat oft Schwierigkeiten, die Rolle des muskulösen Helden auszufüllen und weicht von dem Klischee in vielen Punkten ab, ich bin ihm gern gefolgt. Zunächst einmal leidet er unter Migräne. Dann steht er in der Hierarchie deutlich unter Sunita und Rain und hadert damit. Zudem zeigt er durchaus Schwächen, sogar kurz vor dem Sex mit Sunita, eine menschliche, gut beobachtete Szene.

Er hat den Drang, Menschen zu retten, das kommt äußerst sympathisch rüber. Manchmal wie die Parodie des typischen Helden, der er gern wäre:

 

»Marlon konnte es sich nicht verkneifen, sie alle erneut daran zu erinnern: Hey, Leute, wenn was schiefläuft, kümmere ich mich!«

 

Die fünf Flugjahre werden aus seiner Sicht nicht problematisiert, diese lange Zeit und ihre Konsequenzen, diese zu dritt auf engem Raum verbracht zu haben, werden aus Rains Sicht plastischer dargestellt. Aus Marlons Sicht heißt es nur »Nach so vielen Jahren waren sie endlich angekommen!«. Das kann man so interpretieren, dass die Autorx absichtlich den Unterschied zwischen Marlons Wahrnehmung und (etwas später) Rains zeigen möchte. Rain ist tiefschichtiger.

Marlon ist aus Berlin, wirkt naiv und aus Sunitas Sicht rein vom Äußeren her »Männlichkeit in Großbuchstaben«. Die Autorx geht auch mit dieser Figur liebevoll um.

Er hat keine wissenschaftliche Ausbildung. In seiner Zeit auf dem Titan hat er sich bezüglich Maschinenbau weitergebildet und er kennt sich gut im Bereich Fitness aus. Offiziell ist er eine Hilfskraft. Die anderen lassen ihn das nicht spüren, bis Krasnikov dazukommt und ihn wie einen Diener behandelt, was Marlon erzürnt. Seine Art, damit umzugehen, finde ich sympathisch.

Im Laufe des Romans passiert bei Marlon einiges, vor allem, was Liebe, Zugehörigkeit und die Übernahme von Verantwortung betrifft.

 

Rain Seung

Rain ist von der Prägung her britisch, ihre Familie stammt aus Hongkong. Sie ist nonbinär, bevorzugt das Pronomen »sie«, sorgt aktiv dafür, möglichst weiblich auszusehen, wird dennoch manchmal hartnäckig für einen jungen Mann gehalten (Missgendering). Sie ist ohne Uterus geboren und hat sich aktiv gegen eine Transplantation eines solchen entschieden, sorgt mit Hormonen dafür, dass ihr keine Körperbehaarung und kein Bart wächst.

Rain ist eine gute Beobachterin. An einer Stelle im Dialog mit Marlon bricht sie das Gespräch freiwillig ab und hilft ihm, seine Tabletten zu finden, weil ihr klar wird, dass er sich vor lauter Migräneschmerzen nicht mehr konzentrieren kann. Nicht jede Person würde das merken, beachten und auch noch helfen, obwohl man eigentlich etwas Wichtiges mitzuteilen hat.

Ihre Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und ihre Strategien, um dies zu erreichen, sind bemerkenswert. Da lässt sie ganz viel von sich los. Davon gibt es eine bemerkenswerte Szene, in der es ihr gelingt, sich in Krasnikov hineinzuversetzen und im Spiegel »für einen kurzen Moment« »Krasnikov in ihrem eigenen Gesicht sehen« kann. »Das erschütterte sie.«

Rain ist eine derart gute Gamerin, dass sonst nur KIs eine Chance gegen sie haben. Tami (taucht in Teil 2 auf) ist der erste Mensch, der ein Unentschieden erlangt. Sie freut sich über diese neue Herausforderung und Erfahrung.

Später kommen bei Rain so etwas wie Muttergefühle auf, jedenfalls habe ich mich selbst als sorgende Mutter sehr gut in ihr wiedererkannt.

Ein Missbrauch in der Kindheit wird angedeutet, aber nicht klar benannt.

 

Rain ist definitiv die Figur, die am meisten beleuchtet wird und mit der ich mich am meisten identifiziert habe. Obwohl ich wenig mit ihr gemeinsam habe.

Rain zweifelt an einigen Stellen ihre Menschlichkeit an, vor allem, weil sie aromantisch und asexuell ist. Nach meiner Interpretation hat sie diese Frage für sich am Ende gelöst.

 

Verve Delacroix

Astrobiologin, hat schon zweimal den Nobelpreis abgelehnt. Ist zunächst die einzige Person der Titan-Crew, auf die Marlon, Rain und Sunita bei ihrer Ankunft stoßen. Eigentlich sollten noch Luk Tennfjord und Eleni Kovács bei ihr sein. Was ist mit ihnen passiert?

 

Sunita Dhar

Sunita, Ingenieurin, ist muskulös und empowernd. Eigentlich schade, dass ihr Mitwirken so rasch endet, aber mir ist lieber, dies geschieht mit Personen, die ich bereits mag, als dass es mich nicht berührt.

 

Abram Krasnikov

38 Jahre alt, Xenobiologe. Alle anderen Figuren werden mit den Vornamen genutzt, er bildet die Ausnahme. Weil er der Antagonist ist?

Bei Einführung des Charakters führt er eine Liebesbeziehung mit Olaoyé, seinem Crewmitglied, das geht nicht gut aus (gelinde gesagt).

Wie Rain zweifelt er an seiner Menschlichkeit, aber aus anderen Gründen und aus meiner Sicht mit einem anderen Ergebnis.

Ich bin beeindruckt, wie nah hier an diese Figur gezoomt wurde, obwohl seine Gedanken ja nun oft alles andere als angenehm sind und einiges an seinen Sichtweisen auch sehr ziept und zurrt.

 

Tami Isometsä-BionX

29 Jahre alt. Gehört dem Konzern BionX, ist in einem künstlichen Uterus gereift, hat also keine Eltern. Er hat eine extrem hohe Intelligenz, seine Asexualität wird angedeutet, er fühlt sich zu Rain hingezogen (wenn auch nicht sexuell).

 

Perspektive

Dieser Roman bietet mir zu jeder Figur zu einem Zeitpunkt die Perspektive, auch wenn Rain und Marlon hier klar am häufigsten zu Wort kommen. Rain ist auch die Figur, mit der ich mich am besten identifizieren kann und die, um die es aus meiner Sicht am meisten geht. Sie macht auch die beste Entwicklung durch, wenn auch sowohl Marlon als auch Verve sich im Laufe des Romans, der immerhin zehn Jahre umfasst, sehr verändern.

 

An einigen Stellen wechselt die Perspektive recht unvermittelt, auch ohne, dass es durch einen Zeilenumbruch angezeigt wird. Ich vermute, dass hier Headhopping betrieben wird. Ich als Leserin bevorzuge aber längere Passagen vom selben Blickpunkt und klare Grenzen zwischen den Perspektivwechseln. An einigen (wenigen) Stellen hatte ich daher Schwierigkeiten, umzuschalten.

 

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Buch:

Titans Kinder

Eine Space-Utopie

Autorx: Aiki Mira

Taschenbuch, 194 Seiten

p.machinery, 2022

Cover: Martin Str

 

ISBN-10: 3957652944

ISBN-13: 978-3957652942

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B0B56JYB34

 

Erhältlich bei: Amazon Kindle-Edition


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Erstellt: 25.07.2022, zuletzt aktualisiert: 13.08.2022 14:14, 21042