Trinken Sie Essig, meine Herren! von Daniil Charms
Reihe: Werke Band 1: Prosa
Rezension von Ralf Steinberg
Verlagsinfo:
Die Werkausgabe des grandiosen Sprachartisten, neu übersetzt und angereichert mit viel bislang nicht auf Deutsch veröffentlichtem Material.
Beinahe wäre Charms’ Werk ins Räderwerk der Geschichte geraten: Bis in die späten 80 er Jahre hinein waren die Texte dieses Genies des Komischen und Absurden in der Sowjetunion verboten. Der Autor selbst verhungerte 1942 in stalinistischer Gefangenschaft, nach Jahren politischer Verfolgung. Nur durch Glück und den Einsatz eines Freundes wurden seine Kurzgeschichten, Gedichte, Theaterstücke und Notizen vor dem stalinistischen Terror-Regime gerettet. Über die letzten Jahrzehnte konnte so sein Nachlass aufgearbeitet werden. Auf dieser Grundlage basiert die erste deutsche Werkausgabe, die in der Übersetzung von Beate Rausch und Alexander Nitzberg Charms nicht nur als Meister des Satirisch-Grotesken und Absurden, sondern auch als großartigen Sprachartisten und urkomischen Nonsens-Künstler neu entdeckt, ein russisches Gegenstück zu Ringelnatz. Charms’ Figuren stolpern durch die Idiotie ihres Alltags, fallen oder lösen sich gar auf. Dabei trifft der kafkaeske Nonsens, der in der Diktatur als ein verzerrtes Abbild der Wirklichkeit gelesen wurde, mitten hinein in das allgemein Menschliche.
Rezension:
Daniil Charms dürfte nur wenigen Enthusiasten der russischen bzw. sowjetischen Literatur bekannt sein. Er starb früh und schrieb in erster Linie groteske Texte die nicht nur die stalinistische Obrigkeit vor Rätsel stellte. Nun präsentiert der Berliner Galiani Verlag eine Werkausgabe in vier Bänden um den glücklicher Weise geretteten Nachlass des Autors gründlich mit Neuübersetzungen zu entdecken.
Im ersten Band Trinken Sie Essig, meine Herren! finden sich Prosatexte in einer schier unendlichen Masse. Da Charms oft nur wenige Zeilen für seine Texte benötigte, reihen sich hier die Texte in schneller Folge aneinander. Das beeinflusst das Leseverhalten und erinnert nicht nur stilistisch an einen Gedichtband, viele Texte sind denn auch von Rhythmus her eher Lyrik.
Wer Charms als Wortkünstler entdecken will, muss sich schnell damit abfinden, dass er in erster Linie absurde und sonderliche Situationen in trockener Sprache vorfindet, mit immer wieder komplett ungewohntem Aufbau. Oft stößt man auf den Hinweis des Autors, dass mehr nicht zu erzählen sei und die Geschichte damit ende. Als ob all diese kleine Begebenheiten und Situationen in der exakt richtigen Länge behandelt wurden. Und das stimmt tatsächlich. Denn immer dann, wenn man sich fragt, warum Charms diese alltägliche Sache so ins Licht rückt, fällt sie auch schon aus der Normalität heraus. Viele Texte sind geschrieben worden, um sie direkt einem Publikum vorzutragen, sie mit literarischen Zaubertricks zu begeistern; ähnlich heutiger Lesebühnen, verdiente sich auch Charms etwas Geld durch Auftritte. Doch wie viele Künstler, die sich »Tschinari« nannten und von Literaturwissenschaftler als Oberiuten bezeichnet werden, galt ihre Darstellung des Wunderbaren als politisch untauglich, jene geforderte Aufgabe der sowjetischen Kunst zu erfüllen. In der Zeit höchster stalinistischer Repression konnte man von dieser Kunst nicht leben. Und obwohl Charms erfolgreich für Kinder schrieb, kam er immer mehr mit dem System in Konflikt. Verhaftung und Gefängnis, teilweise durch Selbstbezichtigung als geisteskrank gemindert, waren die Folge. Während der Belagerung von Leningrad verhungerte Charms in Haft.
Mit diesem Wissen, das Alexander Nitzberg vorbildlich im Nachwort präsentiert, lesen sich die Vorfälle und auch der Kurzroman Die Mutter noch eindringlicher, lassen einen Autor erkennen, der hinter all seiner Kauzigkeit eine tiefe Menschlichkeit entdecken lässt und mit seinem ungewöhnlichen Blick, die SU unter Stalin auf eine ganz andere Weise begreifbar macht.
Die Edition beweist schon mit dem ersten Band ein hohes Anliegen. Die Texte sind sorgfältig übersetzt – auch hier gibt das Nachwort tiefere Einblicke – und durch ihre Auswahl ganz auf das Anliegen ausgerichtet, Daniil Charms von seinen verschiedenen Fassetten her jeweils möglichst vollständig kennenzulernen.
Fazit:
Mit dem ersten Band der Werkausgabe »Trinken Sie Essig, meine Herren!« erhält der Leser die Gelegenheit, den fast vergessenen russischen Autor Daniil Charms als einen kreativen und unterhaltsamen Chronisten seiner Zeit erleben, der in grotesken, aber treffend bösen und unfassbaren Kurztexten nicht nur ein hohes literarisches Können offenbart, sondern auch durch die Andersartigkeit Wege zeigt. Eine Bereicherung und nachdenklich stimmender Genuss.
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