Hörbuch
Rezension von Chris Schlicht
Wie soll man eine Rezension über Aufsätze des wohl bekanntesten und umstrittensten Literaturkritikers Deutschlands über Literaturkritik schreiben? Das als Hörbuch herausgebracht, sogar vom großen Meister selbst gesprochen wird? Welcher Teufel muss den Rezensenten reiten, die Hand nach oben zu strecken, wenn so was in der Liste der Rezensionsexemplare auftaucht? Masochismus? Zumal er darin auch die Rezensenten heutzutage ordentlich in die Mangel nimmt? Unter diesen Umständen kann man wohl keine Rezension im klassischen, gewohnten Sinne verfassen.
Das vorliegende Sach-Hörbuch fasst Aufsätze Reich-Ranickis zusammen, die bereits 1970 erstmals veröffentlicht wurden. Obwohl nun doch schon ganz schön alt, haben diese Aufsätze nichts an Aktualität eingebüßt und immer noch Gültigkeit. Die Diskussion über Literaturkritik ist ja immer noch in vollem Gange und da kommen ein paar Orientierungshilfen sicher ganz recht.
Warum überhaupt Literaturkritik? Wozu soll sie gut sein? Und warum sind wir Deutschen so wenig kritikfähig – weder im Annehmen von Kritik noch darin, sie auszuüben?
Reich-Ranicki erklärt diesen Mangel an Kritikfähigkeit mit typischen deutschen Tugenden der Kaiserzeit: Man war obrigkeitshörig, man war untertänig, man war einem steifen Beamtentum verfallen, geradlinig, mit Scheuklappen und ohne die Bereitschaft auch nur anzudenken, dass auch etwas anderes richtig sein könnte. Die Regenten waren nicht bereit, sich der Kritik zu stellen, im Gegenteil. Und nicht nur die. Ranicki zitiert Goethe, der auch schon etwas gegen Kritiker hatte und gesagt haben soll, dass Rezensenten Hunde seien, die man totschlagen solle.
Kritik braucht Freiheit, wo allerdings solche Strukturen wie einst in Deutschland vorherrschen, ist die Freiheit fern und somit auch die Kritik. Kritik wird als Abwertung oder Verurteilung betrachtet, selbst im Duden steht bei Kritik unter anderem „Beanstanden“ oder sogar „Anfeindung“ (Duden für Sinn- und Sachverwandte Wörter – selbst nachgesehen!). Kritik wird immer als etwas Negatives betrachtet und so wird sich der Kritisierte natürlich auch nicht auf das einlassen, was denn nun eigentlich die Kritik hervorgerufen hat. Das mussten auch schon Lessing und Schlegel erkennen.
Es gibt keine allgemeingültige Messlatte für Perfektion in der Kunst, somit kann Kritik nur ziemlich subjektiv sein. Jedes Individuum betrachtet ein Kunstwerk anders, dadurch wird Kritik häufig missverstanden. Andererseits ist es auch ein Fehler der Kritiker, immer und überall nur Meisterwerke zu entdecken. Reich-Ranicki nennt diese Art Kritiker Sonntagsjäger.
Kritiken müssen deutlich verfasst sein. Klare Worte finden. Dann aber werden sie als brutal und unhöflich betrachtet. Daher verfassen viele Kritiker ihre Anmerkungen in unklaren Doppeldeutigkeiten und Verschachtelungen, um nicht solchen Anwürfen ausgesetzt zu sein. Dann aber werden ihre Kritiken nicht verstanden, oder nicht als Verriss erkannt und die Autoren brauchen sie nicht zu fürchten.
Müssen Autoren überhaupt Kritiker fürchten? Eigentlich nicht. Eine Kritik kann ein Werk weder vernichten noch beleben. Oft genug werden völlig verrissene Werke genau deshalb gekauft, weil die Leser doch neugierig sind, ob der Verriss überhaupt zutrifft. Ranicki wurde wegen seiner offenen Kritik oft genug schon als Sargnagel der verrissenen Autoren angefeindet. Und? Ist Günther Grass deshalb untergegangen, weil Ranicki seine Werke mehr als einmal völlig verrissen hat? Eher nicht.
Reich-Ranicki gibt ja auch zu, dass er, der viel verrissen hat, auch immer extrem verrissen wird, wenn er ein Buch schreibt und das er dann genauso empfindlich reagiert wie die von ihm verrissenen Autoren.
Eine These dürfte bei vielen Rezensenten Magendrücken verursachen: Rezensenten und Kritiker seien oftmals gescheiterte Autoren, die sich mit „Gefälligkeitsgutachten“ Vorteile bei den Verlagen erhoffen? Nuuun ja... Vorteile dürfte es da nicht geben, obwohl viele Rezensenten sich bestimmt auch als Autoren versuchen. Aber da fragt man wohl eher wieder nach dem Ei und dem Huhn...
Bleibt als Kritik zu dem vorliegenden Werk eigentlich nur anzumerken, dass Ranickis Aufsätze als Hörbuch zwar absolut interessant, stilistisch ohnehin ein echter Genuss und ganz sicher auch wichtig sind, aber leider manchmal schwer zu verstehen, da er nicht gerade eine besonders klare Aussprache hat. Vielleicht wäre es besser gewesen, den Meister nicht selbst sprechen zu lassen, auch wenn ihm natürlich diese Ehre gebührt. Dennoch wäre ein professioneller Synchronsprecher sicher angenehmer hörbar gewesen. Die Aufsätze hätten darunter sicher nicht gelitten.