Der neue Roman von Samantha Harvey ist etwas mehr als einen Monat nach seinem deutschen Veröffentlichungsdatum bereits in der 7. Auflage. Wie kann das sein?
Ganz einfach. Hier ist dem deutschen Verlag ein besonders erfolgreicher Coup gelungen, denn kurz vor Erscheinen bekam Umlaufbahnen den renommierten Booker Prize verliehen, den prestigeträchtigsten Literaturpreis von Großbritannien und Irland. So kurz vor Weihnachten macht sich ein von der Kritik hochgelobtes, preisgekröntes und mit rund 224 Seiten überschaubares Buch doch gut als Geschenk unterm Weihnachtsbaum.
Für Science-Fiction-Fans ist noch die Tatsache interessant, dass das Werk für den Ursula K. Le Guin Prize nominiert war. Gewonnen hat den Preis 2024 aber Es währt für immer und dann ist es vorbei von Anne de Marcken, der fürs Frühjahr 2025 auf Deutsch angekündigt ist (aber das ist eine andere Geschichte …).
Worum geht es in »Umlaufbahnen«? Der Inhalt lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Der Roman beschreibt den Tagesablauf einer Gruppe von Raumfahrern auf einer internationalen Station im Weltall über den Verlauf von exakt 24 Stunden.
Genauer gesagt sind es sechs Menschen, vier Astronautinnen und Astronauten sowie zwei Kosmonauten. Sie kommen aus den Ländern England, USA, Japan, Italien und Russland. Neben den üblichen vordergründigen Routinearbeiten, wie Wartungen oder Forschungen, wird in diesem Roman hintergründig viel nachgedacht. Themen wie der Sinn des Lebens, die Schönheit der Mutter Erde, die Existenz von Gott und weiteres werden reflektiert, und ganz geschickt streut Samantha Harvey auch Gedankenfutter für existenzbedrohende Probleme wie den menschengemachten Klimawandel ein.
Der Clou ist, dass der Roman 16 Kapitel hat und jedes Kapitel eine Umlaufbahn von 90 Minuten beschreibt. Dadurch werden 1440 Minuten bzw. die 24 Stunden abdeckt, die ein Tag und eine Nacht umfassen.
Die Beschreibungen der Abläufe und Gedanken sind so gut recherchiert, dass sie sehr real wirken. Als Leser wähnt man sich durch die Lektüre quasi fast schon an Bord der Raumstation, als ob man der Crew über die Schultern schauen könnte. Wie diese sieht man vor dem imaginären Auge Kontinente, Länder oder Wetterphänomene auf- und vorbeiziehen. In dieser eindrücklichen und literarisch hochwertigen Form ist das noch keinem SF-Autor so glaubhaft gelungen. Da mussten seit Jules Vernes Von der Erde zum Mond (1865) 159 Jahre vergehen bis mit der Britin Samantha Harvey eine Frau, die nicht aus dem Science-Fiction-Umfeld stammt, zeigt, wie man das am besten umsetzt.
»Umlaufbahnen« ist eher ein langsamer Trip, der entgegen den heutigen Lesegewohnheiten wirkt, die eher auf schnell und vergänglich bauen. Die Lektüre wirkt fast schon meditativ und triggert viele Gedanken, aber nur, wenn man sich wirklich darauf einlässt. Er ist eine Hymne an das Leben, sowohl im kleinen beengten Platz einer Raumstation, als auch auf dem Planeten Erde. Was eigentlich selbstverständlich sein sollte, wird durch poetische Beschreibungen besonders und auch fragil. Auf jeden Fall aber beschützens- und bewahrenswert. Wir haben schließlich nur einen bewohnbaren Planeten. Aber keine Angst, Harvey predigt nicht oder versucht gezielt zu beeinflussen. Sie beschreibt »nur«, und das auf eine meisterhafte Art, die zurecht ausgezeichnet wurde. Und ist.
Mister Spock würde sagen: »Faszinierend!«