Druckversion: Unliebsame Geschichten (Autor: Léon Bloy; Bibliothek von Babel Bd. 4)

Unliebsame Geschichten von Léon Bloy

Reihe: Die Bibliothek von Babel Bd. 4

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Léon Bloys Unliebsame Geschichten, der vierte Band der von J. L. Borges herausgegebenen Bibliothek von Babel, enthält zwölf 1894 veröffentlichte Kurzgeschichten. Wie der Titel schon vermuten lässt, greifen sie alle bittere Figuren oder Ereignisse auf – wenn auch nicht alle echte contes cruel sind, so sind sie jedoch nie weit entfernt davon.

 

Die Geschichten im Einzelnen:

Der alte Hausgast (9 S.): Madame Alexandre, sonst eine herzensgute Frau, flucht über einen ungeliebten Gast – sie sähe den Alten gerne fort oder tot, doch von einer biederen Geschäftsfrau wird eine liebevollere Haltung gegenüber dem Vater erwartet. So macht die ehemalige Prostituierte gute Mine zum bösen Spiel und nimmt den grau und senil gewordenen Verbrecher bei sich auf – vielleicht ergibt sich irgendwann einmal eine Gelegenheit.

Eine ironisch-zynische Biographie der Madam Alexandre und Anmerkung zur Bigotterie des Bürgertums.

Der Kräutertee (7 S.): Jacques kommt sich schäbig vor, als er in der Kirche versteckt eine Beichte belauscht – doch sich jetzt erkennen zu geben, das wäre zu peinlich. Dann trifft ihn der Schlag: Die Vergiftung eines Kräutertees wird gebeichtet! Kann es wirklich sein, dass seine Mutter eine Giftmörderin ist?

Bloy greift erneut die Bigotterie des französischen Bürgertums auf.

Die Religion des Monsieur Pleur (13 S.): Monsieur Pleur ist ein widerwärtiger Geizhals. Jeden Cent spart er, schreibt Mietquittungen für seine reichhaltigen Mieteinnahmen auf abgerissene Plakatfetzen, isst nur kalte Suppe und kleidet sich in verrottende Lumpen. Was macht er nur mit all dem Geld?

Die wenig dramatische Beschreibung eines Mannes, dessen Herz nicht nach seinem Äußeren beurteilt werden sollte.

Die Gefangenen von Longjumeau (8 S.): Der Ich-Erzähler erinnert sich an das Ehepaar Fourmi, das kurz zuvor Selbstmord beging. Er erinnert sich an die nahezu grenzenlose Liebe, die sie für einander empfanden und wie wunderbar glücklich sie waren – bevor sie in dem Ort Longjumeau in eine sonderbare Gefangenschaft gerieten, die die beiden Reisesüchtigen in den Untergang trieb: Sie konnten den Ort nicht mehr verlassen, weil immer etwas dazwischen kam.

Ein bizarres, boshaftes Beispiel für die todorovsche Phantastik.

Eine mittelmäßige Idee (10 S.): Der Erzähler berichtet von einer seltsamen Wohngemeinschaft: Théodore, Théodule, Théophile und Théophraste beschließen ein äußerst frommes Leben zu führen und zu diesem Zweck ihre Personen vom Äußeren, aber auch vom Inneren möglichst radikal gleichzuschalten. Als Théodule sich verliebt und heiratet, gerät ihr Leben aus den Fugen.

Diese Groteske stellt zunächst die einzelnen Mitglieder der Kommune und dann das Verhältnis zur Umwelt vor, bis sie schließlich auseinander bricht.

Die furchtbare Strafe eines Zahnarztes (8 S.): Doktor Alcibiade Gerbillon, ein Zahnarzt, ist fast panisch bei der Bestellung von Einladungen zu seiner Hochzeit mit der Madmoiselle Antoinette Planchard. Seltsam, denn alle anderen Vorbereitungen hat der nüchterne Mann mit stoischer Ruhe erledigt. Doch die Karten erinnern ihn an eine bestimmte Trauerkarte – und er selbst hatte den Toten ermordet.

Eine zwischen Schicksalhaftigkeit und Psychologie schwankende conte cruel.

Alles, was du willst… (8 S.): Maxence streift durch die schäbigen, verkommenen Stadtteile von Paris, als ihn eine alte, abstoßende Hure anbietet: "Ich mach' dir alles, was du willst, mein Liebster!" Die Stimme klingt exakt so wie die seiner vor fünfzehn Jahren verstorbenen Schwester. Maxence lehnt ab, was einen plötzlichen Wandel im Verhalten auslöst – sie warnt ihn vor einer Ansammlung von Kriminellen und bietet an ihn als Freier durchzuschmuggeln.

Eine weitere conte cruel um schicksalhaft verschlungene Lebenswege.

Ein Mordsbrand (8 S.): Monsieur Fiacre-Pretextat Labalbarie ist als Sargwäscher nicht nur zu Geld, sondern auch zu einer sonderbaren Maxime gekommen: Es gilt nicht die Not der Armen zu lindern, sondern die der Reichen, denn wer kein Geld hat, der lebt nicht richtig, kann also auch nicht wirklich Leiden. Sein Sohn entwickelt sich anscheinend ganz nach seinem Geschmack.

Diese conte cruel verbindet poetische Gerechtigkeit mit einem Verbrechen – und greift einen Gedanken aus Karl Marx' Kommunistischen Manifest auf.

Die Märtyrerin (9 S.): Madame Durable ist eine hochmoralische Frau, die unglaublich viel erdulden musste – ihr Mann hat ihr stets Leid zu gefügt und schließlich ist der Hahnrei über den Suff schwachsinnig geworden. Jetzt hat ein dahergelaufener Fremder ihre Tochter, für die sie ihr Leben aufgab, geraubt – das kann sie doch nicht einfach so hinnehmen!

Die knappe Biographie einer bigotten und grausamen Kleinbürgerin.

Der Silberblick (6 S.): Einer der Bettler, die vor der Kathedrale auf Almosen hoffen, ist von Gott mit einer sonderbaren Krankheit geschlagen worden: Er ist hellsichtig. Das verwirrt die Mitleidigen, daher kann er nur schlecht von den knappen Gaben und geringen Nebenverdiensten leben.

Diese Figurencharakterisierung stellt auf groteske Art die Ansichten über Hellsichtigkeit auf den Kopf – es ist damit eine Variante des motivs der ungehörten Kassandra.

Niemand ist vollkommen (6 S.): Esculape Nuptial ist ein sehr ordentlicher, zurückgezogen lebender Mensch: Keine Weibergeschichten, kein Saufen, kein Spielen – er geht seiner Arbeit nach, besucht seine Freundin Loulou und sonst bleibt er daheim. Indes ist er ein Auftragsmörder und Loulou eine Prostituierte. Die beiden träumen von ländlicher Idylle, doch dann geschieht Unerwartetes.

Dieses kleine Doppel-Portrait stellt die Kriminellen als die wahren Kleinbürger dar. Damit einher geht eine verhohlene Kritik an die kleinbürgerlichen Tugenden.

Kains schönster Fund (11 S.): Nach einem ausgedehnten Abendessen erzählt man sich in der Gesellschaft von ungewöhnlichen Straßenfunden. Der Bildhauer Gacougnolle berichtet über den schönsten Fund des mittellosen Künstlers Marchenoir, dem liebenswürdigen Kettenhund und himmlischen Kannibalen.

Die ausführliche Vorstellung eines Künstlers zwischen Seligkeit und Sünde. Marchenoir ist ein Mann, der sich in den Straßen von Ambra, Jeff VanderMeers Stadt der Heiligen und Verrückten, wohlfühlen würde. Die conte cruel ist dreifach geschachtelt: Der Ich-Erzähler berichtet vom Abendessen, auf dem Gacougnolle von Marchenoir erzählt.

 

Fazit:

Ob Mutter, Zahnarzt oder reicher Sargwäscher, die Mehrheit der Geschichten kreist um die Doppeltmoral des französischen Bürgertums und die daraus erwachsenden Grausamkeiten; auch die Verwandtschaft von Verbrechern, Rotlichtmilieu und ehrbarer Gesellschaft wird häufig thematisiert, vielleicht am gelungensten fließen diese Aspekte in Kains schönster Fund zusammen. Ein wenig herausfallen Die Religion des Monsieur Pleur und Die Gefangenen von Longjumeau, doch auch dort dominiert die Bitterkeit. Mit diesen zwölf Geschichten wird ein erschreckender Blick auf die dunklen Seiten des Menschseins geworfen.

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240419020428f6336b0f

Titel: Unliebsame Geschichten

Reihe: Die Bibliothek von Babel Bd. 4

Original: Ohne Angabe

Autor: Léon Bloy

Übersetzer: Elke Wehr

Verlag: Edition Bücherglide (2007)

Seiten: 115-Gebunden

Titelbild: Bernhard Jäger

ISBN-13: 978-3-940111-04-3

Erhältlich bei: Amazon

, zuletzt aktualisiert: 08.08.2021 16:17