Bücher aus Tschechien hat man hierzulande nicht so richtig auf dem Schirm. Kein Wunder, denn der Markt ist dominiert von Literatur aus dem englischsprachigen Ausland und was sonst so in den Bestsellerlisten auftaucht. Im Bereich der fantastischen Literatur kennt man natürlich Karel Čapek und Josef Nesvadba. Čapeks Bruder Josef prägte übrigens den Begriff »Roboter«, als Karel ein roboterähnliches Wesen 1920 in seinem Roman R.U.R. auftreten ließ.
Ich gebe zu, dass mich das Titelbild von Wald im Haus angelockt hat. Es illustriert den Buchttitel auf vortreffliche Weise und ist ein echter Hingucker.
Nicht immer hält der Inhalt eines Buches das, was das Cover verspricht. In diesem Fall ist es nicht nur zutreffend, sondern sogar so, dass in diesem Roman die verquere Kombination von Haus und Wald mehr als nur bildhaft zum Tragen kommt.
Alena Mornštajnová erzählt die Geschichte eines Mädchens, das in den 1990er-Jahren in einem kleinen Dorf in Tschechien aufwächst. Es ist die Zeit vor dem Jahrtausendhochwasser, das in Tschechien, Polen und Deutschland schwere Schäden verursachte und auch Todesopfer forderte.
Gleich der Beginn des Romans setzt den Ton für die gesamte Erzählung: »In der Nacht, in der ich geboren wurde, schlug in Mittelböhmen ein Meteorit ein. Er erhellte den Nachthimmel für einige Sekunden, als hätte der Teufel ein Streichholz entzündet, und schnitt den Himmel im selben Augenblick entzwei, als das Skalpell des Geburtshelfers den Bauch meiner Mutter öffnete.«
Die Ich-Erzählerin Janotová bekommt schon als Sechsjährige mit, was es bedeutet, isoliert zu sein. Sie wird von ihrer Großmutter abfällig als »Trutschel« bezeichnet. Sie wohnt mit ihren Eltern im Haus der Großeltern am Rande des Dorfs. Dahinter beginnt die unbekannte unheimliche Welt des dunklen Waldes. Sie ist so richtig allein, denn an Wochentagen scheint sich das komplette Dorf zu leeren: »Nur die Rentner, die Hunde hinter den Zäunen, die Hühner, die freilaufenden Katzen und ich blieben übrig.«
Ihre Zeit vertreibt sie sich mit ihrer Freundin Monika, einer imaginären Figur, wie sich recht bald herausstellt. Von ihrer »Oma« wird sie regelrecht indoktriniert. Diese macht ihr weis, dass man Männern nicht trauen darf. Sie seien schrecklich und ihr Vater wäre der Schlimmste.
Als ihr Vater nach einem heftigen Streit mit den Großeltern Hals über Kopf auszieht und für immer verschwindet, glaubt sie, dass ihn das Hochwasser fortgespült hat, das kurz darauf das Land verheert.
Bald darauf geht es mit ihrer Mutter bergab. So verschwindet sie im Wald und kommt, als sie Tage später wieder auftaucht, in eine Heilanstalt. Nach ihrer Rückkehr ist ihre Mutter nicht mehr dieselbe und kümmert sich gar nicht mehr um ihre Tochter. Als das Mädchen erstmals in die Schule der nächstgrößeren Stadt kommt, bekommt ihr Leben eine weitere Wendung. Ihr Vater scheint am Leben zu sein. Und so nimmt eine Mischung aus Thriller und Mystery-Roman ihren Lauf.
Immer wieder geht es darum, ob man in einer bestimmten Situation den Mund aufmacht. Oder nicht. Ihre Großmutter traktiert sie ständig mit Warnungen und nimmt ihr jeglichen Mut: »Denk dran, die Welt ist böse und die Menschen sind die schlimmsten Kreaturen. Gib dich mit niemandem ab und geh nicht mit Leuten, die du nicht kennst. Lass dich nicht durch nettes Gerede täuschen, sonst passiert dir, ehe du dich versiehst, etwas Schlimmes. Eine Stadt ist eine Stadt, nicht so wie hier auf dem Dorf, wo wir uns alle kennen. Dort bist du eins zwei verloren.«
Es wird für das Mädchen zunehmend schwieriger zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Obwohl allgemein bekannt ist, dass man nicht lügen soll, lügen die Menschen ständig. »Ich wollte ein Buch darüber schreiben, wie schwer es manchmal ist, die Wahrheit von der Lüge zu unterscheiden, wie unmöglich es ist, sich dem Bösen zu stellen, wie manche Entscheidungen, die dem Betrachter leicht erscheinen mögen, für die Person, die im Mittelpunkt des Geschehens steht, nicht nachvollziehbar und unüberwindbar sind«, sagte Alena Mornštajnová in einem Interview.
Mich hat das Buch total überrascht. Es beginnt als harmlose Erzählung und verwandelt sich in eine Art Psychothriller. Nichts ist wie es scheint. Als Leser blickt man in die Abgründe des Menschseins und kann sich nach einer Weile der Sogwirkung der dramatischen und tief berührenden Erlebnisse der Protagonistin nicht entziehen. Gegen Ende, nachdem alle Unbekannten aufgedeckt sind und als die Unheimlichkeit und das Mysterium des Waldes begreifbar gemacht worden sind, wird »Wald im Haus« regelrecht zum Horrorroman. Horror wie er realer und allgegenwärtiger nicht sein könnte.
»Wald im Haus« ist fesselnde, wirklich gut geschriebene zeitgenössische Prosa, die ich allen ans Herz legen möchte, die offen für Romane sind, die sowohl gut unterhalten als auch ziemlich nachdenklich stimmen. Uneingeschränkt empfehlenswert.