Westlake Haven von Marc Späni
Ron Kramers Geschichte. Eine Chronik der virtuellen Welt
Rezension von
Verlagsinfo:
»Westlake Haven, die Geschichte des Software-Entwicklers Ron Kramer«, dreht sich um die Frage, was es bedeutete, wenn man menschliches Bewusstsein in eine virtuelle Welt implementieren könnte, und knüpft damit an Texte des Cyber Punk an.
Rezension:
An Westlake Haven arbeitet Marc Späni schon seit einigen Jahren. Zunächst als Kurzgeschichtenband vorgestellt, verdichtete sich das Projekt nun also zu einem Roman, deren neun Kapitel ihre Herkunft als einstmals unabhängige Kurzgeschichten nicht verleugnen können.
Im Zentrum der meisten Kapitel steht Ron Kramer, ein Software-Entwickler der zunächst für den US-amerikanischen Softwaregiganten Westlake Virtual Inc. arbeitet. Dessen Versionen virtueller Welten, direkt ins Hirn eingespeist, sind das Nonplusultra der VR-Entwicklung. Die Verlagerung von Lebenszeit aus der realen Welt in die eine frei virtualisierte Computerwelt entfaltet eine enorme Sogwirkung auf fast alle Bereiche der menschlichen Gesellschaft. Sind es zunächst vergnügliche Ausflüge zu Entspannungszwecken, erweitert sich die Bedeutung, als man den gesamten Bewusstseinsinhalt eines Menschen auf die Server der VR-Anbieter hochladen kann. Permanente Bewohner ziehen in die virtuelle Welt ein, Menschen, deren biologische Körper starben. Doch was wird aus der Menschheit, der menschlichen Gesellschaft, wenn unser Denken zu einem Stück Software, Programmcode und Speicherinhalten wird?
Marc Späni nähert sich den Problemen und Fragestellungen aus verschiedenen Richtungen. Eine der zentralen Thematiken von »Westlake Haven« ist der Tod. Mit der Virtualisierung des Bewusstseins wird er defacto überwunden, doch kann ein Mensch die Unsterblichkeit vertragen? Bei Marc Späni tauchen schon bald Händler auf, die mit dem VR-Suizid handeln und eine tatsächliche Löschung versprechen.
Auf der anderen Seite kann es verlockend sein, die sterbliche Hülle auf ewig hinter sich zu lassen, um die viel schönere Computerwelt zu bewohnen. Doch in einer kapitalistischen Weltordnung ist nichts umsonst, auch nicht der Tod. Und wer erwirtschaftet eigentlich alles Notwendige zum Erhalt der Serverfarmen, wenn sich alle nur noch virtuell beschäftigen?
Wie verändert sich das Menschsein nach Jahren als Software? Haben in dieser Menschheit künstliche Intelligenzen, geklonte Bewusstseine oder gar rein virtuell erschaffene Kinder einen Platz?
Am intensivsten gelingt Marc Späni das Herantasten an diese Fragen im Kapitel Geister, die wir sind. Der Standort mit den Servern der virtuellen Welt von Westlake wird angegriffen, die Verteidiger sollen von Kate Lowry unterstützt werden, einer permanenten Bewohnerin von vLife. In einer Drohne begibt sie sich in das Garnisonsstädtchen, ihrem Geburtstort. Dabei unterhält sie sich mit der Superintelligenz SASANGA. Die Bedeutung von Leben wird zwischen zwei rein virtuellen Lebensformen diskutiert. Mit zunehmender Schwermut geht der Roman dem logischen Ende entgegen.
Im vorletzten Kapitel streut Ron Krämer durch die mittelalterliche MMO-Welt von TELLUS, an deren Entwicklung er vor Jahrzehnten beteiligt war. Er weiß nicht, ob er wie so viele nach dem Tod-versprechenden Item sucht oder einfach nur nach dem Sinn hinter all dem und verliebt sich in eine vom Programm Geborene, für die eine Welt außerhalb nicht vorstellbar ist. Sämtliche Prozesse der Spiellogik sind für sie Naturgesetze, ihr Leben, ihr einziges. Und irgendwann fragt sich Ron Kramer, ob sie nicht Recht damit hat.
Marc Späni schlägt einen großen Bogen vom erstmaligen Eintauchen in virtuelle Welten bis zu ihrem Ende. »Westlake Haven« ist eine Art Generationenroman, der nur stichpunktartig Entwicklungen beleuchtet und sich dabei an den Biographien einiger Figuren entlanghangelt. Ein Großteil des Hintergrundes bietet sich als Zeitungsartikel, Werbeanzeigen, Wiki-Enträge oder Fotos dar, allesamt gezeichnet und eingepasst vom Autor selbst, der darum auch das A4-Format für die gedruckte Version des Buches wählte. Diese Zeichnungen imitieren sehr exakt echte Anzeigen oder Fotos ohne ihre Bleistift-Herkunft je zu verleugnen. Diese zusätzliche Brechung von Realität, verleiht der Auseinandersetzung mit unserer virtuellen Zukunft eine weitere Nuance.
Man spürt an vielen Stellen, dass sich Marc Späni intensiv mit Bionik und Virtuellen Welten befasste. Es stecken jede Menge wissenschaftlicher Details in den Extrapolationen einer virtuell beherrschten Zukunft und Marc Spänis Vision geht von keinem guten Ende aus. Was er beschreibt, ist eine evolutionäre Sackgasse. Ein Weg, den wir nicht beschreiten müssen.
Das eBook bietet Marc Späni für alle Interessenten übrigens kostenlos an.
Fazit:
»Westlake Haven« von Marc Späni ist ein Episodenroman, dessen Figuren einen kompletten Zyklus der Virtualisierten Zivilisation durchlaufen. Hard-SF mit einer tiefmelancholischen Färbung.
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