Zehn Jahre ist es her, dass ich mit Schneewittchens Geister zum ersten Mal in die phantastische Welt von Hanna-Linn Hava eintauchen konnte und nach ihrem düsteren Roman um ein Mädchen mit Asperger Lilys Engelskostüm hat kaputte Flügel war ich schon gespannt, was als nächsten von ihr erscheinen würde.
War das Debüt im Plotaufbau für mich noch etwas chaotisch, beeindruckte »Lilys Engelskostüm hat kaputte Flügel« durch eine eindringliche Figurenbeschreibung in einer nachdenklichen machenden Handlung.
Mit Wild erschien nun etwas komplett anderes: Eine Sammlung erotischer Kurzprosa im kleinen Verlag kul-ja! publishing und in ihrem schwärmerischen Vorwort verdeutlicht Verlegerin Julia Kulewatz, warum die Geschichten den Weg in das Programm fanden.
Die elf Geschichten handeln von verschiedenen Arten der Sexualität, oder Liebe oder Begehren oder dem gesamten Kosmos, der diese Begriffe umfasst. Ein mythisches weibliches Wesen mit zumeist roten Haaren spielt in ihnen eine Rolle, sie repräsentiert dabei eine eigenwillige Naturkraft, wird dem Tod und dem Winter gleichgestellt, wenn auch in eher antagonistischer Funktion. Sie bringt Leben, straft, leidet, begehrt und bringt Freiheit, aber auch den Tod. Sie verbindet die Texte und führt uns damit in eine phantastische Welt, die aus Bekanntem und Neuen schöpft, die sich uns immer mehr öffnet, Rätsel lüftet, weiterreichende spinnt und auch mit dem Abschied nicht wirklich endet. Die Menschen darin leben in unserem Jetzt und stoßen durch Zufall oder gewollt auf die Kräfte unserer mysteriösen Wesenheit. Die Ordnung der rationalen menschlichen Welt zerfällt dabei recht schnell, weicht animalischen Leidenschaften, wuchert in die phantastische Welt oder wird von ihr überwuchert.
Nicht alle Geschichten sind leichte Kost. Missbrauch, physische und körperliche Gewalt und einige Spielarten der Sexualität jenseits des Blümchensex werden sehr explizit dargestellt. Stets jedoch in einer sehr lyrischen, nie pornografischen Sprache, die ins märchenhafte reicht.
So wild die Protagonistin ist, so gefährlich ist auch ihre Aufmerksamkeit und nicht alle Figuren in den Geschichten bestehen vor dem harten Blick der vielleicht grünen Augen. Ein Blick, den uns die Autorin als eine Weiblichkeit präsentiert, die selbstbestimmt Wald und Stadt gleichermaßen belebt ohne herrschen zu müssen. Die sich als wiederkehrendes und verlöschendes Leben im Kampf mit dem männlichen Winter befindet. In einem ewigwährenden Zyklus aus Hass und Liebe, Notwendigkeit und Erleiden, Symbole essentieller Bestandteile der Natur.
Die Natur ist bei Hanna-Linn Hava nicht nur eine Summe aus physikalischen und biologischen Regeln, in ihr ist Platz für die Mystik der Feenwesen, tödliche, verliebte Nymphen, verborgene Landschaften, Geister und ganze Völker bekannter Fabelwesen.
Das Buch ist wunderschön aufgemacht und wird von den dreifarbigen Illustrationen der Autorin, die ihre Geschichten nicht nur einrahmen, sondern in weitere Gedankenräume öffnen. Schwarz, Weiß und Rot – Farben, die für die drei Wesen stehen können, denen hier Reich und Macht verliehen wird: Tod, Winter, Weiblichkeit.
