Hörbuch gelesen von Boris Aljinovic
Rezension von Oliver Kotowski
Rezension:
Zähne und Klauen ist die Hörbuch-Adaption der gleichnamigen Kurzgeschichtensammlung von T. C. Boyle. Es handelt sich hierbei um eine Art gekürzter Lesung von Boris Aljinovic: Zwar scheinen die einzelnen Geschichten ungekürzt, aber es sind nur sieben der vierzehn im Buch enthaltenen Geschichten gesprochen worden. Sie alle kreisen um das Thema "Katastrophe".
Zu den Geschichten im Einzelnen:
Windsbraut (ca. 30 Min.): Die wunderschöne Junie, eine amerikanische Ornithologin, kommt auf einer stets Wind umtosten Shetland-Insel an und hätte sie auch beinahe gleich wieder verlassen, denn als sie die Straße entlanggeht, wird der zwölf Pfund schwere Kater Tiger vom Kirchdach geweht, fällt auf Junie und diese auf das Pflaster. Der tapsige und langsame Schäfer Robbie versucht die schöne Fremde vor einem heranfahrenden Wagen zu retten – nach anfänglichen Missverständnissen wird aus den beiden, dem ungebildeten und groben Shetland-Schäfer und der studierten und schönen amerikanischen Vogelfrau, ein echtes Liebespaar.
Eine tragische Liebesgeschichte zwischen zwei sehr unterschiedlichen Figuren mit Ecken und Kanten; dass in einer Kurzgeschichte eine solche Liebe nicht ewig währen kann ist klar, aber so lange sie währt, ist sie poetisch schön. Der Erzählstil überzieht teilweise bis ins Komische, damit erinnert sie an Tall Tales.
Der freundliche Mörder (ca. 60 Min.): Boomer ist mit dreiunddreißig ein abgehalfterter Radio-Moderator. Er ist geschieden und mit seiner Karriere bei Radio K-Fun geht es auch ständig abwärts: Er kann seinen Boss, den ewig in den 70ern lebenden Engländer Cutler nicht leiden, er kann seinen Co-Moderator Tony und dessen dämliche Witze nicht leiden, er kann sich selbst nicht leiden. Als man beschließt den Sender ordentlich zu promoten, meldet Boomer sich freiwillig: Es geht um einen neuen Rekord in Dauerwachheit. Boomer soll zwölf Tage ohne zu schlafen aus einer gläsernen Kanzel live senden und Tony soll ihn wach halten. Es beginnt schon schlecht, denn Boomer kann in der Nacht zuvor nicht schlafen. Im Laufe der Zeit wird er immer aggressiver und kann immer weniger Traum und Realität unterscheiden.
Hierbei handelt es sich quasi um ein Mini-Entwicklungsroman, bei dem Aufstieg und Fall unlösbar mit einander verknüpft sind: Je dichter Boomer dem Rekord kommt, je populärer er wird, desto aggressiver und abstoßender verhält er sich. Die detaillierte Schilderung des Schlafentzuges und die davon ausgehende Faszination erinnert an die Hungerkünstler (z. B. in Franz Kafkas Ein Hungerkünstler, in Der Geier) – ist der Schlafentzug die moderne Form des Hungerns?
Das rasche Aussterben der Tiere (ca. 50 Min.): Während Zach sich auf das nächtliche Fahren auf der Serpentinenstrasse durch die South Sierras konzentriert, erzählt Ontario ihm von vom Himmel regnenden Aalen in Kolumbien. Sie hatten sich auf der Party gemeinsamer Freunde kennen gelernt und festgestellt, dass sie beide der Natur viel Interesse entgegen bringen. Sie hatte noch nie Mammutbäume gesehen, also überredete er sie übers Wochenende mit zur Big Timber Jagdhütte zu fahren. Wie immer hatte er es eilig und darum ging er das Risiko ein über die Nebenstrasse zu fahren – trotz der Schneewarnung. Der Regen hatte die Fahrbahn schon schlüpfrig gemacht, aber der Schnee machte sie zur Eisbahn. Schneeketten hatte er auch nicht gekauft – die kosten 75 Dollar – und so kommt es wie es kommen muss: Der Wagen kommt von der Strasse ab. Mitten in der Nacht, Meilen von der Jagdhütte entfernt liegt der Wagen am Rande einer wegen Schneefall gesperrten Strasse durch den Nationalpark. Die Unglücklichen und die Dummen können da draußen erfrieren.
Diese spannende Abenteuergeschichte zeigt, wie im Kalifornien des 21. Jh. Menschen völlig plausibel in ein echtes Abenteuer verwickelt werden können. Die Natur kann immer noch gefährlich sein – besonders, wenn man mit einem Blödmann unterwegs ist.
Jubilation (ca. 57 Min.): Nach seiner Scheidung will Jackson Peters Reilly raus aus den anonymen, zynischen Städten mit den bewachten Reichen-Gettos und der Umweltverschmutzung – er will eine Gemeinschaft, in der jeder jeden kennt, man gute Nachbarschaft pflegt und die Natur genießen kann. Ein US-Großkonzern bietet mit der Modelstadt Jubilation genau dieses und so steht Jackson in einer langen Schlange um ein Los zu ziehen, denn das Vorkaufsrecht auf einen Wohnsitz in Paradies wird verlost. Er freundet sich mit Vicky, der allein erziehenden Mutter vor ihm, an und als er schließlich sein Los ziehen kann – zieht er eine viel zu hohe Nummer. So schnell gibt er jedoch nicht auf: Kurzerhand kauft er für 10.000 Dollar Mitbewerbern deren Los ab. Er trifft Vicky wieder, man kommt sich näher, alles ist wunderschön – wenn da nicht die Mücken wären; die sind noch schlimmer als die vielen Touristen. Und der Nachbar, der vertragswidrig rote Gardinen an den Fenstern hat. Und dann gibt es da noch die Gerüchte.
Das Leben in der Utopie Jubilation – aber lässt sich ein gutnachbarliches Verhältnis vertraglich regeln? Kann man vor den Altlasten die Augen verschließen? Und ist Jackson überhaupt geeignet für ein Leben in Eden?
Chicxulub (ca. 31 Min.): Eigentlich hat die siebzehnjährige Mandy ein eigenes Auto – ein sehr sicheres Model – doch da sich ihre Eltern nur einen gebraucht Wagen leisten konnten, steht dieser in der Werkstatt. Da sie sich mit Freundinnen treffen wollte, wurde sie abgeholt. Gerade als der Abend für ihre Eltern erotisch wird, klingelt das Telefon – es habe einen Unfall gegeben. Eine Autofahrerin sei von der nassen Fahrbahn abgekommen und habe Mandy erfasst. Das Mädchen werde noch operiert. Was war geschehen? Hat Mandy sich mit ihrer Freundin gestritten? Warum hat sie ihre Eltern nicht angerufen, sondern ist im Dunkeln, im Regen, zu Fuß nach Hause gegangen?
Dieses 'kleine' Drama dokumentiert präzise das Gefühlschaos der Eltern, das Warten, die Unsicherheit: Ist sie…? – Leid, das Boyle mit dem Einschlag eines Meteoriten vergleicht.
Geblendet (ca. 44 Min.): Bob Fernando Castillu ist der stolze Herr einer alten, traditionsreichen Estanzia nahe der ehemals wichtigen Handelsstadt Punta Arenas. Eines Tages erhält er Besuch von einem US-amerikanischen Wissenschaftler – Dr. John Longworth. Nun ist ihm der Besucher auf Anhieb unsympathisch: Der Fremde ist grotesk hässlich mit seinem winzigen Kopf und der riesigen Nase, dem bizarren Kleidungsstil und der penetranten Überbetonung der Konsonanten. Es ist aber Sitte, dass man Gäste nicht abweist und so nimmt Don Bob den ungeliebten Menschen bei sich auf. Mit seinem langweiligen Gerede über Basketball – und schlimmer noch dem lästigen Spielen dieses Spiels – und dem endlosen, nervtötenden Schwadronieren über das Loch im Himmel – überall will der hysterische Amerikaner erblindende Menschen und Tiere sehen, alles Folgen dieser Weltuntergangsstrahlung.
Auf den ersten Blick ist es eine Geschichte über den Umgang mit einem ungeliebten Gast, in diesem Fall einem Klimaforscher, der beharrlich Unangenehmes verkündet. Doch schnell wird deutlich, dass Don Bob US-Amerikaner nicht ausstehen kann und die Vorstellung die ehrwürdige Estanzia aufgeben zu müssen noch weniger; hier stellt sich dem Hörer die Frage, wie genau eigentlich der Bericht Don Bobs ist.
Zähne und Klauen (ca. 58 Min.): Junior fällt die Decke auf den Kopf – sein Boss hat ihn nach Hause geschickt, da es in der Firma einfach nichts zu tun gibt. Also geht Junior in seine Lieblings-Bar und bestellt sich einen Cola-Whisky. Er mag die Kellnerin Daria. Und bestellt sich noch einen. War bisher aber zu schüchtern mit ihr anzubändeln. Und bestellt noch einen. Später kommt ein seltsamer Gast in die Bar. Ludwig. Er bestellt sich ein Bier-Tomatensaft und zwei rohe Eier. Er flirtet mit Daria und fordert Junior zu einem Würfelspiel heraus. Wie kann Junior da ablehnen? Gewinnt Ludwig, muss Junior 10 Dollar zahlen. Gewinnt Junior, überlässt Ludwig ihm einen Serval. Es kommt wie es kommen muss und Junior verlässt die Bar zusammen mit der tierlieben Daria und einer afrikanischen Raubkatze. Damit beginnen ein Traum und ein Alptraum zugleich.
Diese etwas unfokussierte Geschichte verknüpft eine knospende Liebesbeziehung mit dem Abenteuer, ein wildes, wenn auch relativ kleines Raubtier in einer Ein-Zimmer Wohnung zu halten – am Ende steht die doppelte Katastrophe.
Die Geschichten befassen sich alle auf der einen oder anderen Art mit Katastrophen. Bei diesen handelt es sich jedoch nicht um jene klassischen Fälle wie Erdbeben, Vulkanausbrüche oder Sturmfluten, sondern um Extreme des Alltags. Damit gibt es in keiner der Geschichten ein phantastisches Element im eigentlichen Sinne, auch wenn die Windsbraut vom Erzählton her an die Tall Tales erinnert und daher ähnlich klingt. Auch wenn die Geschichten oft genug ob der grotesken Momente und dem bitteren Galgenhumor komisch sind, überwiegt doch klar das Tragische.
Dem Verhalten der Figuren und somit deren Charakter kommt hier eine besondere Stellung zu, denn oftmals sind sie zu einem gewissen Grad an den negativen Folgen schuld; nicht nur die Umstände sind katastrophal, auch die Haltung der Protagonisten zu diesen lässt sich so beschreiben. Sie sind egoistisch, eitel, arrogant, kurzsichtig, überheblich – oder gleich mehreres. Auf die eine oder andere Art versagen sie alle – auch wenn sie dabei mitunter nur allzu menschlich agieren: Sie sind alle auf ihre eigene Art Liebende.
Die Geschichten haben unterschiedliche Erzähltöne, die Boris Aljinovic hervorragend trifft: Die Windsbraut spricht er polternd und prahlerisch, in Der freundliche Mörder versprüht seine Stimme Zorn und Ekel ob der bescheuerten Umwelt, in Das rasche Aussterben der Tiere schwingt stets ein beißender Sarkasmus mit etc – es ist wahrlich ein Genuss dem zu lauschen. Allein sein Platt (ein shetländisches Gedicht wird im Plattdeutschen wiedergegeben) könnte sicherer sein.
Fazit:
Siebenmal brechen Katastrophen in den Alltag Liebender ein. Siebenmal müssen Menschen, die kein Ausbund an Tugendhaftigkeit sind, damit umgehen – und scheitern daran auf die eine oder andere Weise. Wer sich am desillusionierenden Impetus nicht stört, kann sich durch diese von Boris Aljinovic hervorragend gesprochenen tragisch-komischen Geschichten einige Abende unterhalten lassen.