Zu einem Preis von James Tiptree Jr.
Rezension von Ralf Steinberg
Verlagsinfo:
Dieser Band der Serie Sämtliche Erzählungen von James Tiptree Jr. umspannt das Werk der Schriftstellerin von Mitte der 70er-Jahre bis Mitte der 80er-Jahre. Herausragend sind hier die verfilmte Novelle Die Schraubenfliegen-Lösung (The Srewfly Solution) neu übersetzt, sowie erstmals auf Deutsch, die Novelle Zu einem Preis (Excursion Fare) Daneben ist auch eines der persönlichsten Essays von Tiptree enthalten: Nur die Unterschrift ist nicht echt (Everything but the Signature is me) - ebenfalls erstmals in deutscher Sprache.
Rezension:
Lange mussten wir auf den nächsten Band der Tiptree-Werkausgabe harren. Aber es hetzt uns ja keiner und lieber eine sorgfältige Übersetzung abwarten, als ein solches Werk durch Hast bedingte Mängel zu entwerten.
Alice B. Sheldon wurde 1977 als die Frau hinter dem Pseudonym James Tiptree Jr. enttarnt. Demzufolge ist der Großteil der hier versammelten Erzählungen bereits außerhalb der persönlichen Anonymität veröffentlicht worden. Umso eindringlicher sind die Texte ein Spiegelbild der Frau, die sich teils zynisch, teils fatalistisch aber immer auch sehr einfühlsam mit Themen beschäftigt, die in der SF nicht unbedingt zum gebräuchlichen Kanon gehören.
Für die erste Geschichte wählte der Verlag einen nicht ganz glücklichen deutschen Titel. Der Teilzeitengel arbeitet nicht etwa halbtags, vielmehr handelt es sich um ein Alien, das einen aus einer Vision geborenen Wunsch erfüllt. In jeder Familie versinken alle Kinder bis auf eines in eine todesähnliche Starre. Die Konsequenzen für die Erde untersucht Tiptree, indem sie detaillierte Szenen mit Zeitraffer im Legendenmodus mischt. Tiptree hat sich hier eine Lösung der sich beschäftigenden Probleme ausgedacht, die formal gesehen komplett unmöglich ist. Damit schwächt sie die starken Übertreibungen des katastrophalen Zustandes ab, den sie in der eindringlichen Vision beschreibt. Wenn man die Überbevölkerungsvision mit der Lösungsbeschreibung vergleicht, fällt auf, wie sich hier Panik und Ruhe gegenüberstehen. Die Kürze des Textes macht ihn eindringlicher und vor allem lesbarer, was der Verteilung der Botschaft sicher zuträglich war.
Dass sich Tiptree ganz bewusst dagegen entschied, persönlichen Schicksale auszuleuchten, mag dazu führen, die Geschichte in höchstem Maße zynisch zu finden. Aber ihr ging es wohl mehr darum darauf hinweisen, dass unsere Probleme selbstverschuldet sind und weniger um Mitleid. Allerdings kann man sich aus heutiger Sicht durchaus die Frage stellen, ob Tiptree ihre Lösung weiterdachte. Was kommt nach der Einkindgesellschaft?
Vielleicht sah Tiptree tatsächlich die Menschheit in den Abgrund wanken. Die Screwfly Solution bietet einen weiteren Aspekt der Menschheit einem strengen Blick dar, der uns nicht gerade liebens- oder überlebenswert erscheinen lässt.
Wie eine Seuche beginnen Männer überall auf der Welt in Äquatornähe, Frauen umzubringen. Ideologisch verbrämt entwickelt sich bald ein gnadenloser Vernichtungszug, dem die Frauen hilflos ausgeliefert sind. Das Ganze wird großartig in Form einer Collage aus Berichten und Briefen erzählt, die eine eigene Eindringlichkeit erzeugen. Ironischerweise nutzt Tiptree dabei die vorhandene Diskriminierung von Frauen, um sie ins Maßlose gesteigert noch deutlicher hervortreten zu lassen.
Die zweite Ebene der Story präsentiert sich erst mit dem Twist am Schluss und zeigt dem Leser, was sich im Weiteren als typisch für Tiptree erweisen wird: Eine raffinierte Verbindung zweier Themen in einer spannenden Geschichte und dazu weibliche Figuren mit ernsthaften Problemen durch die Gesellschaft in der sie leben. Keine 0815 Probleme, sondern existentielle.
Um Existenz geht es auch in Coda.
In einer fernen Zukunft ist die Erde fast leergefegt. Eine Art Bewusstseinsstrom hat die Erde erreicht und nach und nach fühlen sich alle Menschen von ihm angezogen um in ihm aufzugehen, einer neuartigen Existenz entgegen. Auch Jakko macht sich endlich auf den Weg. Doch unterwegs trifft er auf Peachthief. Die junge Frau hat beschlossen, auf der Erde zu bleiben und eine neue Menschheit zu gründen. Jemand der sie schwängert, kommt ihr gerade recht.
Die liebevoll geschriebene, melancholische Geschichte erinnert in ihrem Ton stark an Clifford D. Simak. Tiptree beschreibt die Wiederentdeckung der Liebe so einfühlsam, so unspektakulär bedeutsam, dass man fast körperlich ihre eigene Achtung und Leidenschaft zu spüren meint.
Wieder gibt es auch eine Hard-SF Komponente. Der STROM als Transzendenzportal oder als Melkmaschine wird von Tiptree genutzt, um eine menschliche Beziehung unter Bedingungen darzustellen, die nur scheinbar normal sind. Obwohl die Verlockung des Todes/Aufgehens permanent eine Rolle spielt, steht nicht der Strom im Mittelpunkt, sondern die beiden Figuren.
Das Ende kann man in verschiedene Richtungen interpretieren. Scheitern die beiden? Oder verbirgt Tiptree darin eine weitere Metapher?
Aus einem Paar wird keine neue Menschheit. Im Prinzip kehrt Tiptree die Genesis um: Alles kehrt in entgegengesetzter Reihenfolge ins Nichts zurück.
In Wer den Traum stiehlt stopft Tiptree den Stoff einer ganzen Space-Opera in eine Kurzgeschichte. Es gibt Einzelschicksale, einen universalen Entwurf, mächtige galaktische Imperien und fremdartige Aliens. Erstaunlich, wie kurz man das alles zu einer klugen Geschichte zusammenziehen kann.
Die Menschen sind diesmal die Bösen, die sich an Aliens vergreifen, sie versklaven, ja sogar des reinen Genusses wegen töten. Tiptree erzählt mit viel Wärme die Geschichte der Joilani. Die Befreiung der Sklaven, der Okkupierten hat viele Vorbilder in der Geschichte, vielleicht dachte Tiptree an Vietnam oder an die amerikanischen Ureinwohner. Das bittere Ende verhindert, dass man einfach darüber hinweggeht, es ist eben nichts gut.
Ein Quell unschuldiger Freude liest sich wie ein Experiment in Beschreibung von Ekstase. Die Idee einer lebendigen Ursuppe wird einige Leser an Stanislaw Lems Solaris erinnern. Eine kleine, feine Geschichte.
Die Titelgeschichte Zu einem Preis ist teilweise sehr lyrisch. Tiptree scheint hier der Jugend hinterher zu trauern oder sie für ihre offenen Möglichkeiten zu bewundern, ja es ist schon fast ein Lobgesang auf jugendliche Tatkraft. Thematisch verbindet sie Sterbehilfe mit einer heute doch recht lahm wirkenden Aliengeschichte.
Excursion Fare erschien 1981 und erlebt hier ihre erste Veröffentlichung in Deutsch.
Betrachtet man den Lebenslauf Tiptrees erscheinen Teile der Story in einem ganz anderen Licht. Das junge Paar steht auf dem Hospizschiff vor der Entscheidung, wie sein Leben weitergehen soll. Gedanken, mit denen sich die Sheldons aufgrund ihrer Erkrankungen ebenfalls herumschlugen. So wundert es nicht, dass die Handlung herumspringt, sich windet und einen Verlauf nimmt, mit dem man nicht rechnet.
Als Leser kann man sich der bedrückenden Stimmung, die auch durch den lakonischen Unterton genährt wird, nur schwer entziehen.
Der Septime Verlag hat noch für 2012 die Biografie James Tiptree Jr.: Das Doppelleben der Alice B. Sheldon von Julie Phillips angekündigt (optisch im Stil der Werkausgabe) und es wird immer deutlicher, dass die Autorin über ihre Geschichten hinaus so faszinierend ist, dass man sich ihren Lebenslauf unbedingt näher anschauen sollte.
Eigentlich eine leise Geschichte ist Aus dem Überall. Hinterher weiß man gar nicht so recht, was man sagen soll. Nur wenig Action und mit einem Alien-Plot als Mäntelchen, das sogar ansprechend und ideenreich ist. Aber wie schon so oft bei Tiptree steckt ein ziemlich böser und großer Dolch im Herz der Geschichte: Kindesmissbrauch. In einer Art dargestellt, die doch ziemlich schräg ist. Unschuldige Neugier auf den Sex des Vaters? Das ist heftig. Tiptree beweist oft eine lakonische Art, Missstände mit genau jenen Argumenten zu benennen, die auch ihre Verteidiger verwenden. Aber in dieser Geschichte läuft das alles seltsam glatt. Sie will, er will und der Freispruch kommt auch noch. Das ist moralisch heftig und soll es wohl auch sein.
Da wundert der lapidare Erzählton zu Beginn von Mit zarten irren Händen schon gar nicht mehr.
Carol Page hat aufgrund einer Unachtsamkeit bei der Geburt eine Nase, die an einen Schweinsrüssel erinnert. Ohne eine wirkliche Chance im Leben träumt das Mädchen davon, Pilotin zu sein und in ein Reich von Aliens mit Schweinsnasen zu reisen. Ihr Weg dahin ist gepflastert mit Demütigen, Missbrauch und Gewalt. Doch unerschütterlich peilt sie ihr Ziel an und wird aufgrund ihrer Zielstrebigkeit Cold Pig genannt. Und dort, im unwahrscheinlichen Reich ihrer Träume, trifft sie auf Liebe.
Man fragt sich während der Lektüre ständig, wie negativ Tiptree von unserer Welt denken muss, um eine so miese Zukunft zu befürchten. Das Erschreckende ist erneut, wie alltäglich sie ihre düstere Vision zeichnet. Anstatt Fortschritte in der Menschlichkeit anzunehmen, verschärft sie die Diskriminierungen immer wieder. Kaum eine ihrer zukünftigen Welten bietet eine optimistische Weiterentwicklung.
Trotzdem ist ihre Protagonistin keine Figur, die sich in der Opferrolle gefällt. All das Leid, dass ihr widerfährt, nutzt sie für ihr Ziel. Tiptree macht aus dem Leidensweg eine Selbstbefreiung mit allem Drum und Dran. Die Liebe zählt! Und damit keiner in einem kitschigen Happy End schwelgen kann, gibt es am Ende einen weiteren Twist.
»Mit zarten irren Händen« ist eine sehr beeindruckende Geschichte. So glasklar geschrieben, stets ganz dicht an der Figur und trotzdem mit einem gewissen Abstand, der es uns als Leser erlaubt, Carol Page als Person zu respektieren.
Bei Von Fleisch und Moral wusste ich mit Beginn des zweiten Absätzen felsenfest, dass Frank Böhmert der Übersetzer ist, sein Sound ist in bestimmten Geschichten und Milieus deutlich herauszuhören.
Auch diese Geschichte ist wieder bitterböse, allerdings sehr vorhersehbar. Man spürt Tiptress große Angst vor den Folgen einer Überbevölkerung, wie schon in der »Screwfly Solution«.
Die Idee erinnert sehr stark an Harry Harrisons New York 1999, Tiptree greift aber sehr tief in die emotionale Trickkiste um das ganze Ausmaß der gesellschaftlichen Verrohung noch grausamer zu gestalten. Für die weiblichen Opfer ist es schon eine Gnade, nicht hinter die Kulissen blicken zu können. Der Zynismus, der in dieser Geschichte steckt, ist über alle Maßen gruslig.
Zum Abschluss gib es noch ein Märchen. Hölle, wo ist dein Sieg? ist ein vielschichtiger Text. Vordergründig geht es um die Prinzessin eines fortschrittlichen Landes mit paradiesischen Verhältnissen, die sich in den Prinzen des Nachbarlandes verliebt und ihn heiraten will. Allerdings ist das Nachbarland böse, kriegerisch und verpestet. Es droht eine Zerstörung des Paradieses.
Je tiefer man in die ethischen Hintergründe der Geschichte einsteigt umso nachdenklicher wird man. Ist die unschuldige junge Frau wirklich dazu verdammt, in der Regierung zu scheitern, weil sie aus Liebe falsch handeln muss? Mit welchem Recht zerstören Gutmenschen das Lebensglück des Paares? Ist das Glück des Einzelnen weniger wert als das Glück vieler?
Man kann am Ende nicht genau sagen, ob das Märchen nun einen glücklichen oder schlechten Ausgang hat. Tiptree beweist einmal mehr, dass ihr flache Lösungen viel zu simpel sind, um in ihren Geschichten die Konflikte aufzubrechen.
Ein ganz besonderes Highlight stellt Nur die Unterschrift ist nicht echt dar, ein aus Briefen an Jeffrey D. Smith zusammengestellter Artikel, in dem Alice B. Sheldon auf die Enttarnung des Pseudonyms Tiptree eingeht und sich den Lesern vorstellt.
Es ist eine warmherzige Selbstbeschreibung, die ein ganz anderes Licht auf die Autorin wirft, als es ihre Geschichten vermögen, selbst wenn man wie wir heute mehr über die Frau hinter dem Namen weiß.
So kann man in Verbindung mit der rundum gelungenen Edition von einem ganz besonderem Lesevergnügen sprechen, das dieser zweite Band der Tiptree-Gesamtausgabe bietet. Erneut möchte man dem Verlag für diese Wiederentdeckung danken und der Freude darüber Ausdruck verleihen, dass es hoffentlich bald weitergeht mit dem Werk einer außergewöhnlichen Frau.
Fazit:
Die Geschichten von Alice B. Sheldon verbinden typische Science Fiction Stoffe mit ungewöhnlichen Schicksalen. Im Zentrum stehen fast immer Frauen, die sich mit Gewalt und Unterdrückung herumschlagen müssen. Ohne auf die Opferrolle festgelegt zu sein, spiegeln und brechen sich an ihnen gesellschaftliche Probleme, deren übergroße Last wie eine schwarzblaue Gewitterwolke über der Sammlung zu schweben scheint. Mal treffen uns dicke Tropfen, mal eiskalter Sturm und hin und wieder auch ein Blitz oder gar ein Sonnenstrahl.
Doch niemand wird unberührt bleiben.
Nach oben