Artikel: Als H. G. Wells das Zeitreisen erfand
 
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Als H. G. Wells das Zeitreisen erfand

Artikel von Marcel Mellor

 

Vor 125 veröffentlichte H. G. Wells seinen ersten Roman: Die Zeitmaschine. Das Buch prägt die SF-Literatur bis heute, die Begriffe »Zeitmaschine« und »Zeitreise« existierten zuvor nicht. Wie hat ein bis dato unbekannter Autor das geschafft? Und warum gerade 1895?

 

Zwei Gummischläuche, ein rautenförmiges Rohrgestell und viele gekreuzte Drähte – das ist ein vertrauter, ziemlich langweiliger Anblick. Nichts wirkt weniger futuristisch als ein Fahrrad.

 

Das war mal anders. Das erste »Sicherheitsniederrad« war der Tesla S seiner Zeit und inspirierte Erfinder und Schriftsteller. Einer von ihnen war ein junger Biologie-Student aus London, der seine freie Zeit mit dem Schreiben von Geschichten verbrachte.

 

Mit der Geschichte, zu der ihn das Fahrrad inspirierte, sollte er schließlich ein neues SF-Genre begründen. Die Grundidee begegnet uns heute überall, in Kinderserien, Fantasyromanen und SF-Filmen. Es ist die Vorstellung, dass man durch die Zeit reisen kann.

 

Diese Idee ist ziemlich neu – nicht etwa ein alter Menschheitstraum wie das Fliegen oder ewiges Leben. Sie entstammt weitgehend dem Kopf des jungen Studenten, Hubert George Wells, niedergeschrieben in seinem kleinen Roman »Die Zeitmaschine«. Wie kam es dazu, dass ein bis dahin unbekannter Autor die SF-Literatur veränderte? Und warum gerade 1895?

 

Gönnen wir uns eine kleine Zeitreise.

 

An der Grenze zum nächsten Jahrhundert

Wird das Leben unserer Urenkel genauso sein wie unser eigenes? Natürlich nicht. Wir erkennen ja schon unseren eigenen Alltag kaum wieder, wenn wir ihn mit der Prä-Smartphone-Zeit aus Kindheitstagen vergleichen.

 

Diese Sicht auf die Zukunft ist neu. Sie tauchte erstmals mit der Industrialisierung auf, als sich die Welt vieler Menschen innerhalb kurzer Zeit auf links drehte und sie dem Fortschritt zusehen konnten.

 

Allein schon, was da plötzlich über die Straßen rollte! Science-Fiction-Autoren mussten für ihre Zukunftsvisionen nur noch aus dem Fenster schauen. Und weit mehr noch als Lokomotive und Automobil inspirierte sie: das Fahrrad. Wells war bereits in jungen Jahren ein Fan des Fahrrads, auch wenn er es nicht schaffte, die Balance zu halten. Er behalf sich mit einem Dreirad.

 

Große Hoffnungen ruhten auf den Technologien des nächsten Jahrhunderts, auf den Schönwettermaschinen, Luft-Taxis und mobilen Telegrafen. Die Zukunft war ungewiss, zum ersten Mal, aber sie war definitiv glorreich.

 

Nur … war sie das auch? Was, wenn dieser Fortschritt wirklich immer voranschreiten würde? Das fragte sich nicht nur Karl Marx, sondern auch der junge H. G. Wells. Mit seinen Kommilitonen diskutierte er über die Zukunft der Menschheit, über unerschlossene Technologien und eine neue Messgröße: Zeit.

 

Zeit war jetzt ein wichtiger Faktor im Leben geworden. Vor der Industrialisierung war es schwierig, Zeit genau zu messen – und auch ziemlich uninteressant. Nun jedoch gaben Stechuhren und Abfahrtszeiten den Takt an. Sekundengenau. Zeit war eine physikalische Größe geworden, genauso wie Temperatur und Druck - konnte man sie also auch manipulieren?

 

Teilweise schon. Bereits 1873 verblüffte Jules Verne die Leser von Reise um die Erde in 80 Tagen mit dem Phänomen der Datumsgrenze: Phileas Fogg, der Held, spart während seiner schnellen Reise durch viele Zeitzonen einen ganzen Tag ein. Eine Zeitreise, auf eine gewisse Art.

 

Dann war da noch das neue Medium Film. Ein Kinematograph tat nichts anderes, als die Vergangenheit zu wiederholen – und die Brüder Lumiere konnten sogar mit dieser Vergangenheit herumspielen, indem sie den Film vor- oder zurückspulten. H. G. Wells lässt in »Die Zeitmaschine« eine Haushälterin im Zeitraffer durchs Zimmer sausen, erst vorwärts, dann rückwärts – sicherlich inspiriert durch die ersten Filmexperimente.

 

Zeit war nicht länger magisch, sondern physikalisch, und eine neue Idee lag in der Luft: konnten Menschen zu einem bestimmten Punkt der Geschichte zurückkehren? Ende des Jahrhunderts mehrten sich Romane, in denen die Menschen ins Mittelalter oder noch weiter zurückreisten, meist in komischen Geschichten wie in Mark Twains Ein Yankee am Hofe des König Artus. Doch bis jetzt hatte noch keiner der Autoren eine echte Zeitmaschine erfunden.

Die vierte Dimension

Der Gedanke des Zeitreisens »schien in jenen Tagen seine eine Idee zu sein«, so H. G. Wells später über sich selbst. Mit 22 Jahren schrieb er für ein Studentenmagazin den ersten Versuch einer Zeitreisegeschichte, The Chronic Argonauts. Die Geschichte erschien in mehreren Folgen und nimmt bereits viele Bestandteile des späteren Romans vorweg. Unter anderem die Geometrie-Argumentation: eine geometrische Linie kann nicht existieren, argumentiert der unheimliche Dr. Moses Nebogipfel, denn sie hat keine Dicke. Ein dreidimensionaler Würfel könne allerdings genauso wenig existieren, denn ihm fehle die Dauer. Er benötige eine vierte Dimension, die Zeit. Sprach’s und stieg in seine Zeitmaschine, ein »schiefes Metalldings«, das in den Details bereits an ein Fahrrad erinnerte.

 

Die Geschichte kam gut an. Wells beschloss, ein langes Buch aus seiner »einen Idee« zu machen, ein Meisterstück, an dem er lange feilen wollte.

 

Nur, dass die Realität des Jahres 1894 andere Anforderungen hatte. Wells verfügte über kein nennenswertes Einkommen, er hatte sich soeben von seiner Kusine scheiden lassen, und obendrein setzten ihm die Nachwirkungen einer Lungenblutung schwer zu. Zusammen mit seiner Geliebten und deren Mutter war er in ein kleines Haus bei London gezogen. Die Miete wollte bezahlt werden.

 

Jahre später nannte er es »das dringende Bedürfnis nach etwas Vermarktbaren«, das ihn dazu zwang, »die Zeitmaschine unverzüglich auszuschlachten.« Statt des großen Werkes schusterte Wells – eingequetscht zwischen Geliebter und Schwiegermutter – ein kurzes Buch zusammen, mit vielen Versatzstücken aus früheren Geschichten. Selbst die Maschine scheint die gleiche zu sein wie in »The Chronic Argonauts« – mit Sattel und Lenkstange nun ganz offensichtlich H. G. Wells eigenes Dreirad. Nach wenigen Wochen das Manuskript fertig.

 

Der Roman erschien zuerst als Fortsetzungsgeschichte in der Zeitschrift The New Review. Ernest Henley, der Verleger, zahlte Wells 100 Pfund – eine durchaus große Summe. Noch im gleichen Jahr kam der Roman als Buch heraus, ungefähr gleichzeitig in den USA und in Großbritannien.

 

Zunächst waren die Verkaufszahlen schleppend. Das dünne Büchlein sah zwischen den wuchtigen Konkurrenzromanen etwas mager aus - die Verleger behalfen sich, indem sie das Buch mit einem längeren Glossar aufpäppelten. Aber der Erfolg kam. Langsam und stetig. Ab 1896 erschien das Buch in Übersetzungen, 1904 auch auf deutsch. Zu diesem Zeitpunkt war »Die Zeitmaschine« bereits das geworden, was sich jeder Autor erträumt: ein Longseller.

 

Die »eine Idee«, Herbert George Wells Trumpfkarte, war tatsächlich sein Durchbruch – nicht nur in finanzieller Sicht, sondern auch in kreativer. Innerhalb weniger Monate vollendete er, immer noch in seinem kleinen Landhaus, zwei weitere berühmte Werke: Krieg der Welten und Die Insel des Dr. Moreau.

 

Die Zeitmaschine prägte nicht nur die Zukunft von H. G. Wells, sondern auch die der SF-Literatur. Ein neues Genre war begründet: Zeitreisegeschichten.

 

Wie ist es möglich, dass diese kleine Buch das schaffte?

Ein sonderliches Büchlein

Auf den ersten Blick wirkt Die Zeitmaschine wie ein klassischer Abenteuerroman in Kurzform: der Protagonist strandet mit seinem selbstgebauten Gefährt in einer exotischen Welt, muss sich dort gegenüber fremden Wesen behaupten und wieder nach Hause gelangen.

 

Doch H. G. Wells hält einige Kniffe bereit. Zunächst einmal ist die Erzählung vergleichsweise komplex aufgebaut. Sie hat eine Rahmen- und Binnenhandlung, genau wie viele spätere Zeitreisegeschichten, und es gibt zwei verschachtelte Erzählerstimmen. Der Name des zweiten Erzählers, des Zeitreisenden, bleibt ungenannt.

 

Interessant ist auch wie Wells seine Leser an der Nase herumführt. Der Zeitreisende stellt, kaum ist er im Jahr 802.701 angekommen, unverzüglich Vermutungen über die Welt und die beiden vorherrschenden Menschenrassen an. Seine Vermutungen sind naheliegend, aber immer völlig daneben: »So […] meine Spekulationen zu dem Zeitpunkt. Später musste ich einsehen, wie weit sie die Wirklichkeit verfehlten.«

 

Ungewöhnlich ist auch, dass Wells Zukunftsbild alles andere als optimistisch ist. Der Mensch ist Opfer seines eigenen Fortschritts geworden, Kultur und Wissenschaft sind vergangen. Besonders verstörend gerät die Geschichte, als der Zeitreisende weitere 30 Millionen Jahre in die Zukunft vordringt. Die Sonne ist nur noch ein trüber Ball im Nebel, mannshohe Krabben kriechen über einen endlosen Strand. Alles Streben ist vergangen. Als Teenager hat mich das Ende von »Die Zeitmaschine« eine ganze Woche aus der Bahn geworfen.

 

Am interessanten ist, dass Wells seinen Zeitreisenden nur in die Zukunft reisen lässt. Wells war Historiker, er veröffentlichte zwei Standardwerke zur Weltgeschichte. In einer gestrichenen Episode des Buches landet der Zeitreisende auf seinem Rückweg zunächst in der Frühzeit, danach im Jahr 1645, wo ein Soldat und ein Priester ihn beinahe lynchen. Aber für die finale Version entschied sich Wells, beim Thema zu bleiben. Und das ist: Wohin steuert die Menschheit? Was ist unsere Zukunft?

 

Mit dem Endergebnis war Wells nicht sonderlich zufrieden. Schon ein paar Jahre später fand er, dass die Geschichte in »Ausführung und Anlage von gestern wäre.« Die Leser sahen das anders, bis heute. Die Zeitmaschine ist eines der prägendsten Werke der SF-Literatur.

Ein neues Genre

Wells schenkte der Science-Fiction-Literatur zwei neue Begriffe: Zeitreise und Zeitmaschine. Wörter, die uns heute so vertraut sind wie »Lichtgeschwindigkeit« oder »Raumschiff«, die es aber vorher nicht gegeben hat. Die ersten Übersetzer taten sich dementsprechend schwer. In Frankreich zum Beispiel schwankte man zwischen Le Chronomoteur, Le Chrono Mobile, Quarante Siècles à l’heure und La Machine à Explorer le Temps.

 

Apropos Frankreich: der große Jules Verne, mit dem H. G. Wells oft verglichen wird, hätte »Die Zeitmaschine« nicht schreiben können. Verne bemühte sich, Dinge vorauszusagen, durchaus erfolgreich, indem er Bestehendes weiterdachte und dabei sehr optimistisch in die Zukunft schaute. H. G. Wells aber war ein Erfinder. Und deswegen konnte auch nur er die Zeitmaschine erfinden und sie in einen Roman verbacken.

 

Schon zu seinen Lebzeiten wurde »Die Zeitmaschine« zu einem Klassiker. »Sie hat sich«, schrieb Wells Jahrzehnte später, »so lange gehalten wie das Sicherheitsniederrad mit Diamantrahmen, das um die Zeit ihrer Erstveröffentlichung aufkam.« Da sind wir also wieder. Beim Fahrrad.

 

Was ist »Die Zeitmaschine« für uns? Ein kleines Büchlein, spannend und immer noch lesenswert. H. G. Wells Geschichte erfüllt die höchste Anforderung eines Romans: man kann sie mehrmals lesen, in verschiedenen Phasen des Lebens, und man wird sie jedesmal mit anderen Augen sehen.

 

Was bringt die Zukunft? Sicherlich, hoffentlich, noch viele spannende Zeitreisegeschichten.

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Buch:

Die Zeitmaschine

Autor: Herbert George Wells

Original: The Time Machine, 1895

Übersetzerinnen: Annie Reney und Alexandra Auer

dtv, 2008

Paperback, 158 Seiten

 

ISBN-10: 3423191236

ISBN-13: 978-3423191234

 

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 08.04.2020, zuletzt aktualisiert: 16.10.2023 21:13, 18487