Der wahre Schatz (Autor: Uschi Zietsch)
 
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Kurzgeschichte des Monats Dezember 2008

Zum dritten Mal präsentieren wir die Kurzgeschichte des Monats. Dieses Mal eine Geschichte der beliebten Autorin Uschi Zietsch, deren Fantasy-Trilogie Waldsee bei Bastei Lübbe gerade für Furore sorgt. Die vorliegende Geschichte spielt im Träumenden Universum, auf der Welt Waldsee und erschien erstmals in Feueratem, Das große Drachen-Lesebuch, hg. von Michael Nagula, Knaur Verlag 2002. Mehr zum Träumenden Universum findet sich auf der Autorenseite.

Bei dem Gasthaus handelt es sich um ein sogenanntes Freies Haus, dessen Türen nicht immer dorthin führen, wohin man es vermutet.

 

Uschi Zietsch: Der wahre Schatz

»Habt ihr jemals so einen Sturm erlebt?«, fragte der grauhaarige Harbo, während er seine tropfnasse Jacke über die Stuhllehne hängte. Schwer atmend ließ er sich auf den Sitz fallen, aus seinen herabhängenden Haarsträhnen tropfte Regenwasser auf den Tisch. »In meinem ganzen Leben habe ich so etwas noch nicht gesehen«, fuhr der alte Mann fort. »Am helllichten Tag wird es stockdunkel, und dann erscheint plötzlich dieser leuchtende Wirbel und rast auf mich zu, und dabei reißt er alles mit sich ...«

»Im allerletzten Moment konnte ich mich retten«, bestätigte sein Freund und Nachbar Garm. »Es ist ein Wunder, dass ich nicht vom Blitz getroffen wurde.«

»Ich wäre beinahe taub geworden, so laut donnerte es«, versuchte der dritte Bauer die anderen mit seinem Schreckenserlebnis zu übertrumpfen.

Das Gasthaus war voll mit Schutzsuchenden; es schien der einzige sichere Ort in diesem wüsten Sturm zu sein. Dicht auf dicht drängten sich nasse Menschen aneinander und suchten Trost in Bier, Met und Wein. Die ohnehin schlechte Luft dampfte und wurde zusätzlich von dem großen, hochlodernden und prasselnden Kamin aufgeheizt.

Draußen tobte und brüllte der Sturm und rüttelte an den Mauern des Gebäudes, aber es hielt seinen Angriffen stand. Man munkelte, dass dieses Gasthaus älter als die Menschheit war und schon fast seit Anbeginn der Welt den Reisenden Obdach und Nahrung bot. Es war groß und verwinkelt und litt nie unter Gästemangel, denn es lag genau an der Wegkreuzung der großen vier Reichsstraßen Waldsees, die ebenfalls vor sehr langer Zeit gebaut worden waren, als die vier Königreiche noch existierten. Das war die Goldene Zeit gewesen, doch heute erinnerten nur noch Geschichtenerzähler und in der Wildnis verborgene Ruinen an die einstigen Hochkulturen.

Noch niemand, nicht einmal die Stammgäste, hatte je den Wirt erblickt, nur seine Schankmaiden und Gehilfen eilten geschäftig herum und sorgten für nie versiegende Ströme an Bier und Wein und nie endende saftige Braten und frisches dunkles Brot. Man munkelte viel über den Wirt; und dass er unsterblich sei, wurde wohl schon seit Jahrhunderten behauptet.

Erstaunlicherweise besaß das Gasthaus keinen Namen; man nannte es meistens nur »das Haus«, oder als Erklärung für Unwissende »das Haus an der Kreuzung«.

Harbo kippte einen halben Krug Steinbier hinunter und beugte sich dann mit verschwörerischer Miene über den Tisch. »Es geht nicht mit rechten Dingen zu, das sage ich euch.«

»Was meinst du?«, fragte Garm.

»Harbo, du bist unverbesserlich abergläubisch, das interessiert mich nicht«, brummte der dritte Bauer, rückte leicht ab und wandte ihnen den Rücken zu, um sich mit einem anderen zu unterhalten.

Der alte Mann ließ sich nicht beirren. »Dieser Sturm ... und dass er dem Haus nichts anhaben kann.«

»Das Haus ist unzerstörbar, das wissen wir doch alle.« Garm seufzte. »Harbo, so langsam übertreibst du wirklich.«

»Aber dieser Sturm ist nicht natürlich, das ist gewiss. Er kündigt etwas an, etwas ... Großes. Du wirst es sehen!«

In diesem Moment gab es einen lauten Knall im Kamin, und ein glimmendes Kohlestück sprang Funken sprühend heraus, rollte über den ausgetretenen, dunklen Boden und verglühte zischend. Sämtliche Gespräche waren verstummt, und alle starrten erschrocken auf den Kamin.

Als jedoch nichts weiter geschah, wandten sich die Gäste wieder ihrem Getränk oder ihrer Mahlzeit zu, auch Harbo und Garm, und da sahen sie den Fremden. Er musste in dem Moment hereingekommen sein, als sich aller Aufmerksamkeit auf den Kamin gerichtet hatte.

Er war weitgereist, das sah man deutlich an seinem bodenlangen, weiten, triefenden Kapuzenmantel und den kniehohen Stiefeln. Seine kräftige Statur und seine Bewaffnung zeigten, dass er ein Krieger war – möglicherweise ein Soldat, oder ein Söldner. Die vielen neugierigen Augenpaare, die auf ihn gerichtet waren, störten ihn nicht; vermutlich war er schon lange daran gewöhnt. Er steuerte auf den Tisch zu, an dem Harbo und Garm saßen, und der noch einen Platz frei hatte.

Die beiden Bauern rückten unwillkürlich zusammen, aber sie wagten es nicht, den Bewaffneten abzuweisen. Eine Schankmaid kam auf den Fremden zu und fragte ihn nach seinen Wünschen.

»Bring mir einen Becher heißen Met und einen Teller Eintopf«, bestellte der Mann langsam mit rauer Stimme; offensichtlich war er nicht daran gewöhnt, viel zu reden. Er nestelte aus den Falten seines Mantels eine Kupfermünze und gab sie dem Mädchen. »Ist das genug?«

»Das ist der Preis, Herr. Ich bringe Euch sofort das Gewünschte.«

Der Mann schlug die Kapuze zurück und öffnete den Mantel. Die beiden Bauern entspannten sich etwas, als sie sahen, dass er nicht jünger war als sie beide; sein langes, an den Schläfen aus jeweils einer Strähne zu einem Zopf geflochtenes Haar war fast weiß, sein wuchernder Vollbart vollständig grau. Unter den buschigen Augenbrauen musterten blaugraue, wie von einem Nebel verhangene Augen kurz die beiden Bauern, dann setzte der Fremde sich hin.

Eine Weile starrte jeder schweigend vor sich hin, bis es Garm zu viel wurde. »Ihr seid wohl auch vor dem Sturm geflüchtet?«

»Mhmm«, machte der Fremde.

»So einen hatten wir noch nie«, fuhr Harbo fort. »Und Euer Auftritt ist ... ungewöhnlich.«

Der Fremde holte eine langstielige, schmale Pfeife hervor, stopfte sie mit Tabak und zündete sie an. »Ich öffnete die Tür, trat ein und schloss sie wieder. Was ist daran ungewöhnlich?«

Garm stieß seinen Freund in die Seite. »Ihr müsst verzeihen, Fremder, aber Harbo ist ... nun, er achtet sehr auf Zeichen. Und just in dem Moment, als Ihr hereinkamt, explodierte etwas im Kamin ...«

»Ein Zufall, weiter nichts.« Der Fremde schaute auf, als sein Becher Met und der Eintopf kamen, und widmete sich einige Zeit schweigend seiner Mahlzeit.

Die beiden Bauern gafften ihn die ganze Zeit über an, ohne sich der Unhöflichkeit ihres Benehmens bewusst zu sein. Die übrigen Gäste unterhielten sich inzwischen wieder, doch der eine oder andere warf manchmal einen verstohlenen Blick auf den geheimnisvollen Mann. So jemanden wie ihn hatten sie schon lange nicht mehr gesehen.

Als er mit dem Essen fertig war und den letzten Schluck getrunken hatte, schob der Mann Teller und Becher von sich, lehnte sich zurück und zündete die Pfeife erneut an. »Nun«, sagte er, »ich bin Bror, und ich komme von weit her. Ich bin ein Drachentöter. Man könnte auch sagen: der Drachentöter.«

Schlagartig verstummten erneut alle Gespräche ringsum; nur diejenigen, die nicht mithören konnten, unterhielten sich ahnungslos weiter.

»Aber ... hier gibt es keine Drachen, mein Herr«, stammelte Harbo. »Schon sehr lange nicht mehr. Ich meine ... sie sind ausgestorben. Wenn es irgendwo noch Drachen gibt, dann sehr weit fort.«

»Es gibt noch einen«, widersprach Bror. »Den Großen Alten.«

»Er ist doch nur eine Legende!«, warf Garm ein.

Der Drachentöter schüttelte langsam den Kopf. »Jetzt nicht mehr.« Er deutete mit dem Pfeifenstiel zu einem dick verglasten Fenster, vor dem draußen der Sturm tobte. »Der Große Alte lebt noch, aber nicht mehr lange. Er wird sterben, und dieser Sturm ist der Ausdruck seines Schmerzes, seines Todeskampfes. Jahrzehntelang habe ich nach ihm gesucht, und nun bin ich zum rechten Moment hier eingetroffen.«

»Aber warum tut Ihr das?«, fragte Harbo leise. »Ich meine, das Drachentöten?«

»Es ist ein Beruf wie jeder andere«, antwortete Bror. »Ich habe als Held gelebt und Dörfer, manchmal ganze Städte von der Geißel eines Drachen befreit. Ich habe nicht wahllos alle getötet, viele von ihnen sind harmlos und hausen tief verborgen in der Wildnis. Aber die Großen Drachen sind es, die uns immer wieder zu schaffen machen. Viele von ihnen herrschen als Tyrannen, unterdrücken und versklaven die Menschen, und ihnen habe ich den Krieg erklärt. Man kennt meinen Namen überall dort, wo es Drachen zu jagen galt. Ihr braven Leute habt keine Ahnung von dem, was auf Waldsee vorgeht – und dass der Große Alte sich bei euch versteckt hält. Er ist der Letzte der Großen Drachen, denn die anderen habe ich alle getötet.«

»Aber wenn er sowieso stirbt, was wollt Ihr dann noch hier?«, flüsterte Harbo.

Brors Augen wurden für einen Moment klar und kalt, und die beiden Bauern mussten zur Seite sehen, weil sie diesen Blick nicht ertragen konnten. »Weil er den Schatz besitzt«, antwortete er. »Den wahren und einzigen Schatz der Drachen, das Kostbarste dieser Welt. Und diesen werde ich ihm rauben, doch das muss geschehen, solange er noch lebt. Er ist ein überaus mächtiges, magisches Geschöpf, wie ihr an dem Sturm sehen könnt.«

»Der Sturm flaut ab!«, rief jemand wie aufs Stichwort von der Galerie oben. »Bald können wir wieder nach Hause gehen!«

»Dann wird es Zeit für mich.« Der Drachentöter erhob sich. »Lebt wohl.« Er hüllte sich in seinen tropfnassen Mantel und verschwand.

Garm und Harbo starrten noch eine Weile auf die geschlossene Tür. »Alles, was recht ist ...«, sagte Garm schließlich. »Aber glaubst du, was der da von sich gegeben hat?«

Harbo prustete in seinen Bierkrug. »Ich mag zwar abergläubisch sein, Garm, aber verrückt bin ich nicht! Jedenfalls nicht so wie dieser Kerl. Drachen! Der Große Alte! Ein Schatz, so kostbar wie die Welt! Ich sag dir was, Freund: der Verstand dieses armen Burschen wurde durch irgendetwas geschädigt. Er ist alt und nutzlos geworden und klammert sich verzweifelt an seine Vergangenheit, weil er nicht damit fertig wird, dass ihn niemand mehr braucht. Vielleicht war er auch nur sein Leben lang Soldat und wurde entlassen, und jetzt irrt er umher, eingesponnen in seine Träume.«

»Er ist verloren«, murmelte Garm. »Aber vielleicht glücklich damit? So kann er noch einige gute Jahre verbringen und in Frieden sterben, solange ihn niemand aus seinen Träumen reißt.«

 

Bror wusste, dass man ihm keinen Glauben schenkte. Die Zeit der Drachen war insofern vorbei, weil die Menschen sich weigerten, noch an sie zu glauben. Doch sie existierten, sie waren keineswegs alle ausgestorben. Viele hielten einen langen Schlaf, um auf die nächste Goldene Ära zu warten.

Solange der Große Alte noch existierte, hatten sie eine Zukunft. Denn er besaß den Schatz, den Schlüssel zum Leben, zu Macht und Reichtum, zum Glück ... was man sich nur vorstellen konnte. Seit er zum ersten Mal davon gehört hatte, wusste Bror, dass weder der Große Alte noch der Schatz eine Legende waren, und dass beides über die Zukunft der Drachen entschied.

Und jetzt hatte er den Beweis – dieser Sturm, der den Todeskampf des ältesten Drachen anzeigte. Drachen konnten viele Jahrtausende überdauern, aber eines Tages war es dennoch mit ihrer Lebenskraft vorbei. Allerdings traten sie nicht sang- und klanglos ab. Das Land um Bror herum war verwüstet, kein Stein stand mehr auf dem anderen. Zum Glück wussten die braven Bauern in dem Gasthaus noch nichts von ihrem Unglück. Die meisten von ihnen würden fortgehen müssen.

Das Gasthaus war das Einzige, das alles überstehen konnte; auch das wusste Bror durch seine Forschungen. Was heutzutage so gut wie niemand mehr wusste: Es war aus den Schuppen und der Haut eines Großen Drachen erbaut worden, und zwar des Großen Alten, der der Vater desjenigen Drachen gewesen war, der heute im Sterben lag. Der Alte heute war der letzte Überlebende der Brut, auch seine Mutter war längst dahingeschieden. Es hieß übrigens, dass der Wirt des Gasthauses der Drachentöter des damaligen Großen Alten gewesen war, aber das war unbewiesen und interessierte Bror nicht weiter.

Er konnte es kaum fassen, dass er nun endlich am Ziel seiner Wünsche war. Fast sein ganzes Leben hatte er mit dieser Jagd verbracht, und nun, da er selbst alt und verbraucht war, würde er seinem erkorenen Feind endlich gegenübertreten. Aber der Schatz würde ihn für alles entschädigen, ihm vielleicht sogar die Jugend wiedergeben.

Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, dass sich noch andere auf die Suche machen würden. Die einfachen Leute wussten nichts von den alten Geschichten und hielten ihn für einen Narren.

Früher hatte es noch andere Jäger wie ihn gegeben. Doch heute war er der Letzte. Wie der Große Alte.

 

Der Drachentöter folgte dem wirbelnden Zentrum des Sturms. Das Ende war nicht mehr fern; sobald das Zentrum zum Drachen zurückgekehrt war, würde er sterben. Und für einen Moment würde die Zeit stillstehen, für den einzigen, letzten Herzschlag des Großen Alten. Die Menschen würden davon natürlich nichts merken.

Aber Bror musste sich beeilen. Er mochte zwar nicht mehr jung sein, doch er war ausdauernd und geübt, er würde eine ganze Weile durchhalten und war deshalb zuversichtlich, rechtzeitig anzukommen.

Die Jagd führte in einen Wald hinein, am Hang eines Felsmassives. Hier lebten keine Menschen, und es gab nur wenige Tierpfade, die Bror das Durchkommen erleichterten. Das Unterholz war dicht bewachsen und zumeist stachelbewehrt. Es war still, modrig-feucht und kalt.

Bror lief weiter. Irgendwann bemerkte er eine leichte Veränderung; die Luft wurde diffuser, von winzigen, seltsam leuchtenden Schwebeteilchen durchsetzt. Das Unterholz wich, und die Baumstämme zeigten eine kahle, schwarzgraue Rinde. Der braune Boden wurde seltsam schwammig und behinderte das Vorankommen. Und dann erreichte er die Felsen. Bror zweifelte nicht daran, dass sich hierher weder Tier noch Mensch verirrten; er spürte deutlich den magischen Wall zur Abschreckung. Ohne Zweifel war der Drache hier, und er konnte nicht verhindern, dass der Drachentöter bis zu seinem Nest vordrang. Keine Drachenmagie konnte Bror mehr beeinflussen oder bannen. Er kannte alle Sprüche, alle Formeln, er war von Drachen verletzt und vergiftet worden; manchmal, so kam es ihm vor, war er selbst schon ein Drache, weil er sein ganzes Leben auf die Jagd ausgerichtet hatte und notgedrungen lernen musste, sich in die Drachen hineinzuversetzen, um sie zu überwinden. Um ein Drachentöter zu werden, brauchte es mehr als nur ein gutes Schwert und Geschicklichkeit. Nun würde sich zeigen, ob Brors Ausbildung erfolgreich gewesen war, wenn er seiner größten Herausforderung entgegentrat. Denn auch sterbend war der Große Alte immer noch eines der gefährlichsten Wesen Waldsees.

Er musste eine ganze Weile in den Felsen herumklettern, bis er endlich den Zugang zur Höhle fand. Wenige Schritte nach dem Eingang wurde es bereits fast dunkel, man konnte gerade ein paar Mannslängen weit sehen. Das schummrige Licht wurde von winzigen Glimmerlichtern gespendet, die überall an den Felswänden und Decken funkelten. Bror entdeckte auch noch andere Lichter, kleine runde Leuchtaugen, die kurz aufblitzten und dann hastig davonhuschten, wenn er näher kam.

Die Höhle war sehr groß, und Bror konnte sich auf einen Drachen gewaltigen Ausmaßes einstellen. Sie wuchsen bis an ihr Lebensende, und das bedeutete, dass dieser hier ... inzwischen selbst so groß wie ein halbes Felsmassiv sein musste. Ob er die Höhle überhaupt noch verlassen konnte?

Er kam an einem glasklaren See vorbei, ein Uferrand war umsäumt von einem Stalaktiten- und Stalagmitenwald. Halb versteinerte, braun verfärbte Knochen lagen massenweise herum. Die Luft wurde stickig, und Bror musste sich zusammennehmen, um nicht laut zu husten. Der Schweiß brach ihm aus, aber nicht vor Furcht, sondern vor der zunehmenden Hitze. Vor sich konnte er ein rötliches Glühen ausmachen ... und er hörte ein röchelndes, pfeifendes Schnaufen. Ohne Zweifel hatte er sein Ziel bald erreicht.

Bror tastete nach dem Kurzschwert an seinem Gürtel und ging langsam weiter, stets nach allen Seiten sichernd und auf der Hut. Möglicherweise hatte der Große Alte Gehilfen, die ihn verteidigten, weil er selbst nicht mehr dazu in der Lage war.

Und wie immer behielt er Recht. Von allen Seiten kamen sie auf ihn zu; gedrungene Geschöpfe aus vergessener Zeit, fast ein wenig wie Trolle, aber doch den Felsen noch ähnlicher, in denen sie lebten. Sie trugen teils verrostete alte Waffen, die sie einst Kriegern oder Soldaten abgenommen hatten oder die einem zusammengehorteten Schatz entstammten. Bror schleuderte den Mantel von sich und zog sein Langschwert, das er in einer Scheide auf dem Rücken trug. Seine Muskeln spannten sich kraftvoll an, und er stellte sich in Positur. Auch wenn sie in der Überzahl waren, fürchtete er sie nicht. Er hatte schon viel Schlimmeres, Aussichtsloseres überstanden.

Doch die Geschöpfe griffen nicht an. Im Gegenteil, sie wichen vor ihm zurück. Und einer von ihnen ... winkte Bror.

Das pfeifende Atmen wurde lauter, ein singender Ton lag jetzt darin. Der Drachentöter zögerte. Die Diener des Großen Alten blieben stehen und drehten sich zu ihm um.

Er war so weit gekommen, nun würde er um keinen Preis der Welt mehr umkehren. Bror ging weiter. Das rötliche Glühen wurde heller und breitete sich über die ganze Höhle aus, erhellte sie mit einem weichen Schimmer. Die Hitze wurde fast unerträglich. Bror entledigte sich Stück um Stück seiner inzwischen fast trockenen Kleidung.

Der letzte Teil der Höhle tat sich vor ihm auf; eine riesige, fast kreisrunde Halle mit einem Feuersee in der Mitte. Bror raubte es fast den Atem, und er schloss geblendet die Augen.

Er zwinkerte, als sich ein Schatten vor die Flammen schob. Der Kopf eines Drachen, und dieser Kopf war bereits so groß wie ein einfaches Stadthaus. Aus den weit geblähten Nüstern am Ende der langen Schnauze schlugen kleine Flammen; überall am Kopf sprossen lange, wie bärtige Auswüchse, der Stirn entsprang zweifach ein weit nach hinten gezogenes, an den Enden nach oben gebogenes Doppelhorn. Die Halsschuppen waren auf der Oberseite blutrot und goldgerändert und überlappten sich, auf der Unterseite waren sie kleiner und fast schwarz.

Zwei riesige, schwarz geschlitzte, gelbleuchtende Augen richteten sich auf den gealterten Krieger. Sie hatten nichts von ihrer magischen Kraft verloren.

»Du bist gekommen«, sagte der alte Drache.

 

Bror sah, wie sich die Diener des Großen Alten ehrerbietig rückwärts zurückzogen. »Du hast mich erwartet?«, fragte er langsam.

»Natürlich«, antwortete der Drache. »Schon sehr lange. Mindestens ebenso lange, wie du brauchtest, um nach mir zu suchen.«

»Ich bin gekommen, um dich zu töten«, versetzte Bror.

»Das ist nicht notwendig, mein Freund. Ich habe ohnehin nur noch wenige Atemzüge. Du bist gerade noch im richtigen Moment eingetroffen.«

»Aber ... was willst du von mir?«

»Ist das nicht offensichtlich? Du sollst meinen Schatz übernehmen, denn ich kann ihn nicht mehr bewachen und beschützen.«

Bror hob eine Braue. »Was ist das für eine Drachenlist?«

»Keine List mehr, keine Kraft mehr«, hauchte der Drache. Er öffnete kurz den Rachen, um nach Atem zu ringen, und der Mann konnte deutlich sehen, dass die meisten seiner einst grausam tödlichen Zähne stumpf und verfault waren. Sein Kopf sank langsam herab, und allmählich konnte Bror die Konturen des riesigen Leibes erkennen, der sich um den Feuersee wand, und nicht nur einmal, und dann ringelte sich noch mehrfach der Schwanz darum herum; der Alte füllte fast die gesamte Höhle aus. »Denkst du, dein Treiben wäre mir verborgen geblieben, Bror?«, fuhr der Drache flüsternd fort. »Von Anfang an wusste ich von dir, und von den anderen. Ich habe jede eurer Bewegungen beobachtet, jeden eurer Kämpfe miterlebt. Ich bin der Große Alte, und es verletzt mich in der Tat, dass du mir das nicht zugetraut hast, obwohl du schon lange weißt, wer ich bin.«

»Hättest du dann nicht längst etwas gegen mich unternehmen müssen?«, erwiderte Bror. »Um zu verhindern, dass ich eines Tages hierher komme und dich töte?«

»Aber ich sagte doch bereits, dass ich dich erwartete. In jeder Generation werden Drachentöter geboren, sie sind etwas ganz Besonderes, denn sie allein können den magischen Kräften eines Drachen widerstehen. Doch es müssen Tausende von Generationen vergehen, bis der Eine geboren wird, der würdig ist, das Erbe zu erhalten - den Schatz. Und du bist es, Bror, denn du bist der Letzte deiner Generation, der noch lebt, und der Einzige, der hierher gefunden hat. Obwohl auch du inzwischen alt geworden bist, so wie ich, hast du nie gezweifelt. Ich war deine Queste.«

»Und du ... willst mir den Schatz geben? Einfach so?«

»Mein Freund, es ist kein leichtes Erbe, das ich dir übergeben will. Aber du bist der Einzige, der dessen würdig ist, und mein Ende ist nah ... sehr nahe.« Das stimmte wohl, denn die Augen des uralten Drachen trübten sich plötzlich ein. »Verstehst du, der Schatz darf nicht verloren gehen, auch wenn wir Drachen nicht mehr sind. Er ist zu kostbar. Nimm ihn dir jetzt, Bror, und gehe dann schnell, denn meinen Todeskampf will ich allein austragen, und es wäre womöglich noch gefährlich für dich.«

Der Große Alte zeigte mit der Schnauze auf ein Nest am Rand des Feuersees. Bror ging dorthin, getrieben von seiner Neugier, und blickte verwundert ... auf ein schlafendes Mädchen. Eine wunderschöne junge Frau mit einem drachenähnlichen Mal auf dem rechten Oberschenkel.

»Was ...«, begann der Drachentöter, aber der Drache unterbrach ihn.

»Nimm sie und geh ... schnell. Stell keine Fragen mehr. Du wirst alles erfahren. Aber jetzt ...« Der Drache hob den Kopf und stieß ein markerschütterndes Gebrüll aus, das Bror fast die Besinnung raubte. Halb betäubt warf er sich das schlafende Mädchen über die Schultern und spurtete los. Unterwegs nahm er sich allerdings noch die Zeit, den Mantel aufzusammeln, dann rannte er so schnell er konnte weiter. Das Gewicht des Mädchens spürte er kaum, es war leicht wie eine Feder.

Er taumelte, als der Boden unter ihm in einem Beben schwankte, als der Drache seinen zweiten Todesschrei ausstieß. Bror stürmte aus der Höhle und stolperte die Felsen hinab; wie durch ein Wunder stürzte er nicht, anscheinend beflügelte ihn der Wille zur Flucht. Die gesamte Felsenregion erzitterte in einem tiefen Grollen, und der Krieger rannte weiter durch den Wald, bis er sich einigermaßen sicher fühlte.

 

Am Abend hatte er ein notdürftiges Lager errichtet, ein Waldtier erlegt und gebraten; und nun saß Bror ganz still und betrachtete die schlafende Schönheit auf der anderen Seite des Feuers. Was sollte er mit ihr anfangen? Weshalb hatte er sie überhaupt mitgenommen? War sie wirklich der größte Schatz?

Als hätte sie seine Blicke oder auch seine Gedanken gespürt, schlug die junge Frau plötzlich die Augen auf und schaute ihn an. Ihre Augen waren smaragdgrün, ihre Haut alabasterfarben, ihre Haare schwarz wie die Nacht. Ganz gewiss hatte Bror noch nie jemanden wie sie erblickt.

Sie richtete sich auf und blickte ihn erstaunt an. »Was ist geschehen?«

Bror erzählte es ihr. Es war eine lange Geschichte, und die Nacht war fast vorüber und das Feuer erloschen, als er schließlich endete. In seinem ganzen Leben hatte er noch nicht so viel auf einmal geredet, aber es schien fast, als löste das Mädchen seine Zunge. Seltsam, wie er sich zu ihr hingezogen fühlte, und wie vertraut sie ihm schien. Als würde er sie schon sein ganzes Leben kennen. Sie war die Frau seiner Träume, erkannte er plötzlich.

»Ist es das?«, sprach er seine Unsicherheit laut aus. »Erfüllt der Schatz die innersten Träume?«

»So etwas wird es wohl sein«, antwortete das Mädchen mit leise gurrender Stimme. »Ich kann dir nur sagen, dass ich wirklich der Schatz bin und lange geruht habe, ja fast zu lange, denn du bist beinahe zu spät gekommen. Doch nun fühle ich das Leben stark und mächtig wie nie, es pulst und rauscht durch meine Adern und macht mich trunken. Ich möchte dir danken, Bror, und mein Lager mit dir teilen und deine Sehnsüchte stillen.«

»Ich bin ein alter Mann ...«, sagte er erschrocken. »Ich habe ... kaum Erfahrung mit Frauen, weil ich nie die Zeit dafür fand ... meine Queste war mir wichtiger ...«

»Eben darum ist jetzt der Moment gekommen, zur Ruhe zu finden, denn der letzte der Großen Drachen ist tot und deine Aufgabe erfüllt. Diese Aufgabe, denn es wird eine andere für dich geben, doch bis dahin sollst du einmal in deinem Leben etwas nur genießen und frei sein ...«

Während es sprach, rückte das Mädchen dem Drachentöter langsam näher. Sie war schön und jung und verströmte einen betörenden Duft, und Bror war ausgehungert, wie er jetzt merkte, und doch nicht so alt, um sich ihren Reizen widersetzen zu können; und warum in aller Welt sollte er das auch tun? So ein Angebot hatte er noch nie erhalten, und wenn dies nun der kostbarste aller Schätze war, so machte er ihn gewiss in diesem Moment zum glücklichsten Mann.

 

Irgendwann kam Bror wieder zu sich und wunderte sich, dass er in Dunkelheit lag. Er fühlte sich weich gebettet und bequem, doch über ihm war kein nächtlicher Sternenhimmel, und die Luft roch nicht nach freiem Land. »Wo bin ich?«, flüsterte Bror und wollte sich aufrichten, aber er war zu schwach.

»Nur ruhig, mein Liebster, du musst dich noch erholen nach diesen Strapazen«, antwortete eine seidenweiche Stimme, und zwei warme kleine Hände drückten ihn sanft wieder aufs Lager. Das Mädchen kicherte leise. »Du hast ein ordentliches Stehvermögen, mein wundervoller Liebhaber, und du hast mich sehr glücklich gemacht. Ich werde dich nie mehr hergeben ...«

Allmählich gewöhnten sich seine Augen an das Dämmerlicht, von irgendwoher kam wenigstens ein matter Schein, der einigermaßen Konturen sichtbar werden ließ. »Du bist so schön«, flüsterte Bror, als er die Geliebte erblickte. »Was ist mir widerfahren? Wo hast du mich hingebracht?«

»In Sicherheit«, flüsterte sie. »In ein Nest der Geborgenheit tief in den Felsen, damit uns niemand findet und uns trennt oder schlimmeres, denn wir wollen zusammen sein und uns lieben, für immer und ewig.«

Brors Blick fiel auf ihre Hände, als sie zärtlich seine Brust streichelte. »Was ... was hast du da?«

Sie strich über die zarten, weißgrünen Schuppen und lächelte stolz. »Hübsch, nicht wahr? Sie wachsen jeden Tag ein bisschen länger, am ganzen Körper. Fühl mal!« Sie nahm seine Hand und führte sie von ihrer Brust hinab zu ihren Lenden. »Und weißt du was? Ich bin schwanger!«

In Bror keimte plötzlich ein furchtbarer Verdacht auf. Er hob eine Hand, und als er sie ansah, kam sie ihm sehr viel glatter, sehniger ... jünger vor. Als er den Kopf drehen wollte, spürte er einen stechenden Schmerz am Hals. Seine Fingerkuppen ertasteten eine kaum verheilte Wunde. »Was geht hier vor?«, krächzte er entsetzt.

»Nur die Ruhe, mein Liebling, erschrecke doch nicht. Du wirst dich schnell daran gewöhnen«, wisperte das Mädchen. »Du bist ja schon so lange infiziert, aber erst mein Kuss verhilft dir zur endgültigen Verwandlung, so wie du mich erwecktest und unsere Verbindung meine Verwandlung einleitete. Ich werde schnell wachsen und dich behüten, und ich werde unsere Brut aufziehen, und damit geht es wieder weiter, bis ich eines Tages die Große Alte bin, und schließlich dereinst vor meinem Tod jemand kommen wird um dich zu finden, mein lieber wahrer Schatz, du Kostbarstes aller Dinge der Drachen von Waldsee.«

 

© Uschi Zietsch. Erstveröffentlichung: Feueratem, Das große Drachen-Lesebuch, hg. von Michael Nagula, Knaur Verlag 2002.

 

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Erstellt: 03.11.2008, zuletzt aktualisiert: 27.09.2016 09:58, 7660