Interview: Michael Marrak
 
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Faszination Science Fiction

IGM Interview mit Michael Marrak

 

geführt von Robert Bannert (elektrospieler)

 

Im Februar 2018 führte Robert Bannert, Autor für das Computerspielemagazin IGM, ein ganz besonderes Interview mit dem Phantastik-Autor Michael Marrak.

Ursprünglich als Einzelinterview zum Thema SF gedacht, fanden im in der Märzausgabe erschienenen Artikel FASZINATION SCIENCE FICTION jedoch nur wenige Auszüge ihren Weg ins Magazin. Für den Fantasyguide dürfen wir das ursprüngliche und vollständige Interview hier nun komplett wiedergeben:

 

IGM: Was macht für dich die Faszination des Science-Fiction Genres aus?

 

Michael Marrak Sein »Sense of Wonder«. Die Abstraktheit und Exotik und seine nahezu unbegrenzten Möglichkeiten, der Fantasie freien Lauf zu lassen, um Gesellschaftssysteme, Welten und Universen zu erschaffen. Die Offenheit zur perfekten Symbiose von Realität und Imagination. Der faszinierende Spagat zwischen biologischer Wärme und technischer Kälte. Und die Chance, die auf den ersten Blick starren Grenzen verschwimmen und ineinander fließen zu lassen.

 

IGM: Was reizt dich an futuristischen Stoffen besonders?

 

Michael Marrak In meiner Jugend hauptsächlich die abenteuerliche Entdeckungsreise in der Endlosigkeit und die Erforschung des Unbekannten.

 

Damals wie heute fühle ich mich beim Schreiben in der Enge der Realität und ihrer abgegrenzten Areale nicht besonders wohl. Es fällt mir keinesfalls schwer, Non-Fiction – oder sagen wir lieber: Non-Phantastik – zu verfassen, aber ich empfinde es als reizlos und geistig ermüdend. Warum soll ich in meinen Romanen nur über Dinge, Beziehungen, Sachverhalte und Begebenheiten schreiben, die es schon gibt und über die in mannigfaltigen Variationen bereits Hunderttausendmal irgendetwas geschrieben wurde? Dafür ist das Neuronenfeuer in meinem Kopf zu bunt und wild.

 

IGM: Was macht ihren Reiz gegenüber anderen fiktionalen Szenarien wie zum Beispiel einer mittelalterlichen Fantasy-Kulisse aus? Was ist daran interessanter bzw. KANN daran interessant sein?

 

Michael Marrak Die SF ist in die Zukunft gerichtet, die Fantasy in die Vergangenheit. Zwar gibt es Mischformen wie etwa Steampunk, aber im direkten Vergleich mit der SF bleibt die klassische Fantasy in ihren Mitteln und Möglichkeiten beschränkt und – astronomisch betrachtet – zumeist relativ zweidimensional an die Oberfläche einer Welt gebunden. Die SF bietet mehr »Raumzeit« für literarische Spinnereien.

 

IGM: Welche besonderen Ansprüche stellt dieses Genre an dich als Autor? Worauf musst du hier viel mehr achten als zum Beispiel bei einem Fantasy-Plot? Musst Du hier zum Beispiel mehr Recherche betreiben, um ein glaubwürdiges Szenario auf die Beine zu stellen? Beim Charakter-Design anders vorgehen?

 

Michael Marrak Sowohl als auch. Der Aufwand hängt vom Sub-Genre und der Prioritätengewichtung ab, und wieviel geistige Freiheit oder wissenschaftliche Genauigkeit man innerhalb der Romanwelt anstrebt. Orientiert sich das Projekt an der Hard- oder Military-SF, oder wird es eher ein exotisches Werk, das in einer fernen Zukunftswelt oder gar einer anderen Dimension spielt, wo im Vergleich mit unserer Biosphäre völlig konträre Lebensbedingungen und Naturgesetze herrschen? Spielt die Handlung auf einem Planeten, der womöglich um mehrere Sonnen oder sogar um ein Schwarzes Loch kreist, oder in einem zweidimensionalen Universum wie in Ian Stewards Flacherland? Wer seine Handlung im All spielen lassen will, sollte Kenntnisse in Astronomie, Astrophysik und Raumfahrttechnik haben, um sich beim Erzählen der Ereignisse nicht lächerlich zu machen.

 

IGM: Was zeichnet deiner Meinung nach einen guten Science-Fiction-Stoff aus?

 

Michael Marrak Eine originelle Umsetzung des »Was-wäre-wenn?«, egal ob in Hoch-SF oder Pulp. Eine Geschichte, die das Kopfkino zum Laufen bringt und das Alltägliche in Wundersames verwandelt. Die uns für gewisse Zeit in eine andere, staunenswerte Welt lockt und uns selbstvergessen macht. Eine Geschichte, die nach der Lektüre noch lange als literarisches Echo durch unsere Gedanken geistert.

 

IGM: Warum ist das Genre (abgesehen vielleicht von Star Wars und dem futuristischen Marvel/DC-Stoffen) in Film, Fernsehen, bei Games usw. im Vergleich zur Fantasy immer wieder so … naja … unterrepräsentiert?

 

Michael Marrak Zaubern können möchte jeder, einem Alien begegnen eher nicht. Drachenreiten ist fast wie auf einem Pferd zu sitzen. Zudem muss man dabei nicht erst Dutzende von Schaltern und Hebel bedienen, um zu starten oder zu landen. Und heroisch das Schwert zu schwingen und auf unsere Gegner einzudreschen ist uns seit unserem knüppelbetonten Höhlenmenschendasein in die Wiege gelegt. Damit kennen wir uns aus. Das ist im Geiste einfach nachvollziehbar.

 

IGM: Warum kommen fantastische Stoffe beim Publikum mutmaßlich besser an?

 

Michael Marrak Ich vermute aufgrund der in den Augen vieler Leser vorgeurteilten Realitätsferne des SF-Genres sowie der Konfrontation des Publikums mit der (fiktionalen) Zukunft, begleitet von einer latenten Technophobie. Eine geringe Akzeptanz von Dingen und Begebenheiten, die nicht ins Weltbild passen. Das Zurückschrecken der Leser vor dem für sie nicht oder nur schwer Nachvollziehbaren. In gewisser Weise auch mangelndes Vorstellungsvermögen dessen, was sie lesen. Und nicht zuletzt aufgrund des langjährigen Schundliteratur-Images der SF-Literatur.

 

IGM: Kann man davon heute noch als Autor leben – vor allem als deutschsprachiger Autor?

 

Michael Marrak Sofern man diszipliniert schreibt und einen guten Output hat oder sein gesamtes Jahreseinkommen mit einem einzigen Buchvertrag sichern kann, zweifellos.

 

 

IGM: Was macht das Genre deiner Meinung nach für eine Umsetzung als Spiel entweder besonders geeignet … oder auch ungeeignet?

 

Michael Marrak Die biomechanische Exotik. Man kann in gegenseitiger Wechselwirkung alles in die Story hineinpacken und aus ihr extrahieren, was sich mit visionären Game-Designern und einer guten Spiel-Engine umsetzen lässt. Die ganze Palette und Bandbreite der Fantasie auf der einen Seite – und alles, was dem »Deus in machina« entlockt werden kann, auf der anderen. Es ist die perfekte Symbiose.

 

Natürlich sind die Ansprüche an die Optik, die zur Verfügung stehende Manpower und die Möglichkeiten der Umsetzung gleichzeitig auch die Knackpunkte. Wenn ein Spiel entwickelt wird, dann oft unter einer Next Generation-Prämisse – also für Plattformen, die noch gar nicht auf dem Markt sind. Das Risiko, sich dabei zu übernehmen und an den Ansprüchen und letztlich an der Deadline zu scheitern, ist hoch.

 

IGM: Welche Stellung nimmt das Science-Fiction Genre für dich ein?

 

Michael Marrak Die deutsche SF-Miniserie Raumpatrouille Orion, die Star Trek Classic-Serie und die Originalfolgen der Twilight Zone waren Anfang der siebziger Jahre meine beliebtesten Türspalt-Fernsehserien. Türspalt deshalb, weil meine Eltern damals der Meinung waren, ich sei zu jung für derartigen Stoff. Trotzdem war ich im Dunkeln immer zur Wohnzimmertür geschlichen und hatte das gruselig-spacige Zeug heimlich durch den Türspalt mitverfolgt.

 

Natürlich war ich damals zu jung für derartige Fernsehserien, was für meinen »phantastischen Knacks« mit verantwortlich sein dürfte. Irgendwann zu dieser Zeit bin ich wohl in der SF hängen geblieben. Der Rest ergab sich, denn die Welt war voll von Comics, Magazinen und Büchern. Heute bin ich dankbar dafür, über die nötige Fantasie zu verfügen und aus dieser Gabe schöpfen zu dürfen.

 

IGM: Wie wichtig ist das Genre – gerade innerhalb der Literatur?

 

Michael Marrak Einige der bedeutendsten literarischen Werke sind SF-Romane. Man nimmt sie nur nicht bewusst als solche wahr, weil die meisten Menschen SF mit Raumschlachten, Alien-Invasionen und anderen weiterentwickelten Pulp-Versatzstücken verbinden.

 

Jonathan Swifts Gullivers Reisen mit seinen fliegenden Städten zum Beispiel ist Science Fiction im Kleid des frühen 18. Jahrhunderts. Mary Shelleys Frankenstein gilt als der erste wirkliche SF-Roman der Welt. Aldous Huxleys Schöne neue Welt, George Orwells 1984 und vereinzelt auch Stansislaw Lems Futurologischer Kongress gehören seit Jahrzehnten zum Schullehrstoff. Die Werke von Huxley und Orwell nimmt man inzwischen mehr als vorweggenommene Gesellschafts- und Systemkritiken wahr, statt als die Dystopien, die sie einmal waren – weil wir bereits viel zu nah an die Materie der beiden Geschichten herangerückt sind, um Realität und Fiktion noch klar unterscheiden zu können. Selbst in der Bibel gibt es bereits Kapitel, die pure SF sind – aber im altertümlichen, (vor)christlich verbrämten Gewand der vergangenen Jahrtausende irgendwie mit in die göttliche Wundertüte gesteckt wurden.

 

IGM: Was bedeuten futuristische Stories nicht nur für unsere Popkultur, sondern unsere Kultur insgesamt?

 

Michael Marrak Es gleicht einer unwiderstehlichen, innig zelebrierten Hassliebe. Irgendwie können beide nicht miteinander, aber auch nicht so recht ohne. In der Not frisst der Teufel genüsslich Fliegen – und der Hochliterat liest (heimlich begeistert) SF.

 

In utopischen Geschichten verbirgt sich manchmal eine fast schon prophetische Nachhaltigkeit, die uns bei der ersten Konfrontation mit ihnen gar nicht bewusst wird – bis sie vom Zeitgeist und dem Weltgeschehen eingeholt werden und als vergleichende Beispiele in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Man erinnere sich beispielsweise an die mediale Schnittmenge von Frank Schätzings Roman Der Schwarm und der Tsunami-Katastrophe im Dezember 2004.

 

Auf den ersten Blick verstehen wir viele futuristische Visionen nicht, nach dem zweiten aber tun die meisten so, als hätten sie es schon immer gewusst. Die Science Fiction ist in unserer Kultur verankert und etabliert, aber seltsamerweise nur, um ihr aus dem Weg gehen zu können.

 

IGM: Welches deiner Science-Fiction-Werke magst du besonders - und wieso?

 

Michael Marrak Den aktuellen Roman Der Kanon mechanischer Seelen, und natürlich den Klassiker Lord Gamma. In beiden steckt viel Herzblut und – im positiven Sinne – Schaffensschmerz. Zugleich markieren beide Romane für mich schriftstellerische Zeitenwenden. Quantensprünge, wenn man es so nennen will, die das entstandene Werk auf eine höhere Stufe transportiert haben. »Lord Gamma« unterschied sich damals von allem, was ich davor geschrieben hatte. Und auch der Kanon ist auf eine für mich selbst schon wundersame Weise anders als alle Bücher vor ihm. Warm, verspielt, humorvoll, opulent und mit einer schönen Melodie. Zugleich bildet er so etwas wie ein Gesamtkunstwerk, denn auch das Titelbild, die Umschlagsgestaltung und die 22 Innenillustrationen stammen von mir.

 

IGM: Was verbindest du persönlich mit diesen Geschichten – und welche Elemente bergen sie, die du nur in diesem speziellen literarischen Genre ausdrücken konntest?

 

Michael Marrak Die Handlung von »Lord Gamma« spielt zum Großteil in einer Hypersphäre; einem fünfdimensionalen Konstrukt aus zahllosen aneinander grenzenden Taschenuniversen, das von seinen Schöpfern irgendwann sich selbst überlassen wurde. Die Hauptfigur des Romans bewegt sich darin unfreiwillig auf einer Moebius-Schleife, deren Landschaft sich alle 180 Kilometer wiederholt. Ein derartiger in sich verwobener Welten- oder Multiversum-Entwurf funktioniert nur in der Science Fiction.

 

»Lord Gamma« wurde seinerzeit als SF-Roman des Jahres 2000 ausgezeichnet. Diese Millennium-Jahreszahl kommt in Verbindung mit einem Science Fiction Literaturpreis nie wieder. Eine Auszeichnung auf der Schwelle zwischen der düsteren Vergangenheit des 20. und der noch in alle Richtungen offenen Zukunft des 21. Jahrhunderts. Rückblickend wurde mir das in den letzten Jahren erst aus der Distanz betrachtet so richtig bewusst.

 

»Der Kanon mechanischer Seelen« spielt wie bereits Das Aion (2008) im Gamma-Universum (dem realen Universum, nicht in der Hypersphäre), ist allerdings mehr als 12.000 Jahre in der Zukunft angesiedelt. »Das Aion« und »Lord Gamma« trennen auf der Zeitschiene hingegen nur wenige Jahrhunderte. Leider wurde von der Aion-Trilogie damals nur der erste Teil veröffentlicht. Die komplette Trilogie in einem Band erscheint im Herbst 2019.

 


Über Robert Bannert

Mit 24 Jahren Branchen-Erfahrung gehört Robert Bannert – Spielstart 1974 in Köln – zu den erfahrenen Spiele-Redakteuren im Lande. Seitdem er 1994 bei der MAN!AC-Redaktion in die schreibende Zunft einstieg, fährt er zweigleisig – als Autor und als Grafiker. Nach einem zweijährigen Gastspiel als der deutsche Abe bei GT Interactive und Oddworld Inhabitants besetzte Robert bei diversen Games-Publikationen (fun.generation, players, PC JOKER) den Posten des Chefredakteurs, danach rief er mit elektrospieler seine eigene Print- und Online-Plattform ins Leben, deren Herausgeber er bist heute ist.

Außerdem war er zeitweilig verantwortlicher Grafiker und Redakteur der RETRO, heute ist er u. a. ständiger freier Mitarbeiter bei der Trade- bzw. B2B-Publikation IGM, liefert die Games-Artikel für den Münchener Medien-Service Teleschau und verfasst Kolumnen für Gameswelt sowie GamersGlobal.

Robert lebt mit einem mehrere tausend Titel starken Spiele-Archiv, ebenso vielen Comics und umfassendem Konsolen- bzw. Handheld-Fuhrpark im bayerisch-ländlichen Mering, gemütlich gelegen zwischen Augsburg und München. Robert ist seit 20 Jahren bekennender Mac-User – seinen Spiele-PC wirft er vor allem für Adventures und Indie-Games an, ansonsten greift er lieber zum Konsolen-Pad.

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IGM 03/2018


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Erstellt: 20.05.2018, zuletzt aktualisiert: 16.10.2023 21:13, 16692