Kind 44 (Autor: Tom Rob Smith)
 
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Kind 44 von Tom Rob Smith

Rezension von Christine Schlicht

 

Russland 1933

Der Hunger ist das vordringlichste Problem der Menschen. In den Dörfern gibt es keine Tiere mehr, nicht einmal mehr Mäuse oder gar Katzen. Alles wird gegessen, sogar lederne Stiefel. Als zwei Kinder versuchen, die letzte Katze zu fangen, wird der ältere der beiden Brüder von einem Mann niedergeschlagen und entführt, der Kleine kann entkommen, völlig verstört doch in der festen Überzeugung, dass sein geliebter Bruder noch lebt...

 

Moskau 1953

In der Stadt herrscht, wie überall im Land, eine Atmosphäre der Furcht. Jeder bespitzelt jeden, jeder misstraut jedem, denn jeder könnte ein potentieller Feind des Volkes sein und jeder könnte einen anderen wegen einer Kleinigkeit oder eines unbedachten Wortes bei der Staatssicherheit denunzieren.

 

Leo Demidow ist ein hoher Geheimdienstoffizier und hat seine Arbeit, die ihn nicht gerade beliebt macht, bislang nicht in Frage gestellt. Wie alle anderen ist er indoktriniert, aber auch ihn quält beständige Angst: Die Angst, einen Fehler zu machen, den andere ausnutzen konnten, um ihn loszuwerden. Wie sein Partner Wassili Nikitin zum Beispiel.

 

So ist ihm auch nicht wohl dabei, einen Beobachtungsfall einfach schleifen zu lassen, nur um der Familie eines Kollegen beizubringen, dass es für sie alle gefährlich ist, weiter zu behaupten, dass ihr kleiner Sohn ermordet wurde. Das Kind war übel zugerichtet neben Bahngleisen gefunden worden. Die offizielle Version lautet auf Unfall, denn in einem Staat, in dem alle gleich sind, gibt es keine Verbrechen.

 

In der Zwischenzeit ist der Tierarzt, den Leo eigentlich schon hätte festnehmen sollen, verschwunden und ist damit für alle schuldig. Leo hat den besseren Riecher als sein Feind Wassili und kann den Mann tatsächlich unter Einsatz seines eigenen Lebens gefangen nehmen. Wassili jedoch erschießt das Ehepaar, in deren Scheune der angebliche Verräter übernachtet hat. Bevor er auch die Kinder töten kann, greift Leo ein und zieht Wassilis unversöhnlichen Hass auf sich.

 

Er wird dazu gezwungen, beim Verhör des Tierarztes zugegen zu sein. Geschwächt von Unterkühlung und den Entzugserscheinungen der Amphetamine begreift Leo, dass der Mann, der da vor ihm gefoltert wird, tatsächlich unschuldig ist. Da er wegen hohem Fieber das Verhör nicht weiter verfolgen kann, bekommt er nicht mit, dass plötzlich auf der Liste der Namen, die der vermeintliche Spion nennt, ein Name auftaucht, der vermutlich von Wassili untergeschoben wurde: Der Name seiner Frau Raisa.

 

Er selbst soll sie beobachten und ihm wird klar, was das alles zu bedeuten hat. Denunziert er Raisa, muss sie sterben. Behauptet er, sie sei unschuldig, bringt er sich und seine Eltern mit in Gefahr. Er entscheidet sich trotzdem für Letzteres, weil er überzeugt ist, dass es stimmt und er sein Gesicht wahren will, auch wenn er weiß, dass seine Ehe nur eine Zweckgemeinschaft ist. Doch sie werden nicht verhaftet. Stalin ist gestorben.

 

Dennoch bleibt die Demütigung für Leo und Raisa nicht aus: Er wird degradiert und zur Miliz in einer abgelegenen Fabrikstadt versetzt und sie müssen dort unter unwürdigen Bedingungen hausen, misstrauisch beäugt von den Kollegen der Miliz und den Bewohnern der Stadt. Desillusioniert und in beständiger Angst um seine Eltern, die nun der Willkür Wassilis ausgeliefert sind, der Leo am Boden kriechen sehen will, beginnt er ohne großen Eifer seine Arbeit. Doch dann bekommt er eine Akte in die Hand, die ihn aufrüttelt: Ein junges Mädchen wurde ermordet, die Umstände lassen auf den gleichen Täter schließen, der schon den Jungen seines Kollegen umbrachte. Aber kann das sein? Die Miliz hat schon einen Täter parat, einen geistig zurückgebliebenen Jugendlichen, der eine Haarlocke des Mädchens besaß.

 

Obwohl er sich der Gefahr für sich und seine Familie bewusst ist, beginnt Leo zu ermitteln. Er findet ein weiteres ermordetes Kind und kann seinen Vorgesetzten überreden zu helfen. Der fragt nach ähnlichen Fällen – und findet heraus, dass das ermordete Kind in Moskau bereits Nummer 44 war. Der Milizgeneral macht sich damit nicht gerade beliebt aber er versucht Leo zur Flucht zu verhelfen. Raisa und er werden verhaftet und deportiert. Sie können aus dem Zug fliehen und eine gnadenlose Jagd beginnt.

 

Auch Leo hat ein schreckliches, lange verdrängtes Geheimnis, ist nicht ganz der, der behauptet zu sein. Seine Vergangenheit holt ihn ein und er steht dem Mörder näher als ihm lieb sein kann...

 

 

 

Ein beklemmendes Bild aus einer bleiernen Zeit. Man weiß zwar, irgendwoher hat man es im Hinterkopf, dass zu Zeiten von Stalins Herrschaft kaum weniger Menschen starben als unter Hitlers Schreckensherrschaft – exekutiert oder zum Sterben in Gulags durch Zwangsarbeit verurteilt - aber man hat keinen Eindruck davon, wie die Menschen in dieser Zeit lebten. Es ist dem Westen so fremd, als wäre es auf dem Mond geschehen.

 

Auch wenn Tom Rob Smith das alles ebenso nur aus zweiter oder dritter Hand weiß, er ist in der Lage, es so zu beschreiben, dass man ein Gefühl dafür bekommt, ein realistisches. Ein Gefühl für die beständige Angst, mit der die Menschen lebten, für das Elend, in dem sie existierten und die Illusionen, die sie sich von einem besseren Leben machten. Die Illusionen, die ihnen von den Herrschern eingeimpft wurden und sich nie erfüllten. Man kann sich hineinversetzen in die Darstellung des Elends und der Furcht, die Nächte mit unruhigem Schlaf.

 

Ebenso kann man sich in die Charaktere hineinversetzen, denn sie werden in eine glaubwürdige Auseinandersetzung mit ihrer Situation hinein beschrieben. Selbst Leos Wandel vom stumpfsinnigen verlängerten Arm der Regierung und der Angstmachenden Maschinerie hin zu dem gnadenlosen Jäger, der sich um die Sicherheit der Kinder sorgt, die er selbst nie haben kann, weil Raisa den Großen Vaterländischen Krieg nicht unberührt und unbeschadet überstanden hat, ist glaubwürdig. Ebenso Raisa, die sich schließlich und endlich sogar in ihren eigenen Mann verlieben kann.

 

Ein Buch, das man, wenn man sich erst einmal richtig auf die Geschichte eingelassen hat, nur schwer wieder beiseite legen kann. Das von der ersten bis zur letzten Seite fesselt und in einem furiosen, atemlosen Finale endet. Wer nach dieser Lektüre nicht schweißgebadet aus dem Schlaf schreckt, wenn morgens um vier die Dielen knarren, der ist ein Stein.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 2024050214071342123a5f
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Kind 44

Autor: Tom Rob Smith

Gebundene Ausgabe: 512 Seiten

Verlag: Dumont Buchverlag; Auflage: 1 (Januar 2008)

Sprache: Deutsch

Aus dem Englischen von Armin Gontermann

Umschlaggestaltung: Zero München

ISBN-10: 3832180567

ISBN-13: 978-3832180560

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 13.03.2008, zuletzt aktualisiert: 30.10.2022 10:08, 6035