Russische Erzählungen (Herausgeber: J. L. Borges; Bibliothek von Babel Bd. 22)
 
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Russische Erzählungen

Reihe: Die Bibliothek von Babel Bd. 22

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Für den ganz schnörkellos mit Russische Erzählungen betitelten zweiundzwanzigsten Band der Bibliothek von Babel hat Herausgeber J. L. Borges drei russische Schriftsteller mit jeweils einem Text ausgewählt: das lange 1865 entstandene Erzählfragment Das Krokodil von Fjodor M. Dostojewski, die relativ kurze 1906 veröffentlichte Erzählung Lazarus von Leonid N. Andreev und schließlich die 1886 verfasste Erzählung Der Tod des Iwan Iljitsch von Leo Tolstoi. In allen dreien ist das Wunderbare eher Mittel zum Zweck für die Frage nach dem Wert des Lebens.

 

Dostojewski; Das Krokodil. Eine ungewöhnliche Begebenheit (63 S.): In Moskau wird seit Neuestem von einem Deutschen das lebendes Krokodil Karlchen ausgestellt. Jelena Iwanova, die Gattin des aufstrebenden Beamten Iwan Matwejewitschs, will in die Passage um eben jenes Tier zu besehen. Der Ehemann, der Urlaub hat und eigentlich halb auf dem Weg nach Europa ist, lässt sich von ihrer Neugier anstecken und so brechen die beiden zusammen mit Semjon Semjonowitsch, dem Hausfreund des Paars, auf. Indes erweist sich Karlchen als herbe Enttäuschung: Jelena Iwanova befindet es für ein ekelhaftes Scheusal und hält das Tier gar für tot – der Deutsche neckt es mit einem Stock um das Gegenteil zu beweisen. Während die Gattin sich lieber den Affen zuwendet, in denen sie größte Ähnlichkeit zu ihren Verwandten entdeckt, begeht der übermütige Gatte die Torheit es dem Deutschen gleichzutun und – schwups! – untermalt von Jelena Iwanovas Schreien verschlingt Karlchen den braven Beamten mit ein paar Schlucken und Rülpsern. Nun bricht Panik aus. Jelena Iwanova fordert wiederholt: "Aufschlitzen!" – "Wie reaktionär!" denkt sich Semjon Semjonowitsch und gibt zu bedenken, dass es eh' zu spät sei – der Deutsche dagegen ruft seine Mutter herbei und gemeinsam drohen sie alle zu verklagen, falls Karlchen platzen oder gar aufgeschlitzt würde. Da meldet sich Iwan Matwejewitsch aus dem Krokodil – das ökonomische Prinzip sei zu bedenken, der Deutsche habe ganz recht! Es zeigt sich, dass der Beamte im Krokodil große Pläne für die Zukunft zu schmieden beginnt – Sorge hat der nur für die Zeit, da sein Leinenanzug, leider ein minderwertiges russisches Fabrikat, vom Magensaft aufgelöst sein und er selbst angegriffen werden wird.

Diese Groteske ist zugleich eine Gesellschaftssatire. Das spiegelt sich in der Benutzung des Setting (die Geschichte beginnt im Moskau des Jahres 1865 am 13. Januar gegen zwölf Uhr dreißig): Dostojewski flicht immer wieder Details ein, deren Spott nur dem kundigen Leser aufgehen wird; die großen Zusammenhänge lässt er dagegen aus. Damit ist das Setting ein Milieu. Auch die Figuren sind dahingehend entworfene Typen: Alle sind egoistisch und auf ihre Art unklug.

Thematisch verarbeitet Dostojewski das aus Europa nach Russland getragene "ökonomische Prinzip", also den scharfen Kapitalismus – der Mensch gilt nichts neben dem Profit. Und da zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen gerade der 1. Mai ist, noch eine Bemerkung dazu: Die Anhänger des ökonomischen Prinzips vermuten, dass eine Grundsicherung den Arbeiter zur Faulheit animiere – man müsse ihn also an den Rand der Armut treiben, damit man mehr Profit erwirtschaften kann. Kommt diese Überlegung nicht bekannt vor? Es ist darüber hinaus eine Kritik an der weltfremden Beamtenschaft und den starren russischen Gesellschaftsstrukturen.

Der Erzählstil passt perfekt dazu: Die Sätze neigen deutlich zur komplizierten Verschachtelung, die Worte klingen gestelzt und die Dialoge sind herrlich absurd. Das Ganze wird von einer feinen Ironie durchzogen. Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Erzählung nur ein Fragment ist, daher sollte sich der Leser nicht über das abrupte Ende der damit etwas ziellos gewordenen Geschichte oder über kleine Unstimmigkeiten verwundern.

 

Andreev; Lazarus (34 S.): Lazarus war drei Tage tot gewesen. Sein Leib ist im Grab angeschwollen, die Haut teilweise aufgerissen. An den Schläfen, unter den Augen und in der Höhlung seiner Wangen schimmert sein Gesicht blau. Doch diese Veränderungen gehen nach ein paar Tagen, die er wieder unter den Lebenden weilt, zurück, auch wenn sie niemals völlig schwinden. Sein Wesen jedoch hat sich viel tief greifender gewandelt – war er einst ein fröhlicher, aufgeschlossener Mann, so ist er jetzt still und gleichgültig. Am schlimmsten aber ist sein Blick: Wer ihm ins Auge schaut, wird entweder heulen und zähneklappern oder aber schweigend sterben – der Tod greift von drüben nach ihnen. Je länger er unter den Lebenden weilt, desto einsamer wird es um ihn, selbst seine Schwestern Maria und Martha verlassen ihn. Schließlich ruft ihn der große Augustus nach Rom.

Nach dem Johannesevangelium 11,39-44: "Marta, die Schwester des Verstorbenen: Herr, er stinkt schon; denn er liegt seit vier Tagen. [… Jesus rief] mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, gebunden mit Grabtüchern an Füßen und Händen, und sein Gesicht war verhüllt mit einem Schweißtuch."

Mehr erfährt man aus der Bibel nicht über Lazarus, denn Jesus, der mit diesem Wunder seine Göttlichkeit kundtun wollte, wird kurze Zeit später eben aufgrund dieser Tat hingerichtet. Nun gibt es apokryphe Legenden, die Lazarus friedlich entschlafen lassen und solche, die ihn unter den Antichristen Domitian einen Märtyrertod sterben lassen, doch Andreev wählt einen anderen Weg: Er erzählt eine Horrorgeschichte über einen Lebenden Toten, dessen innere Leere für seine Mitmenschen tödlich ist.

Trotz der Kürze der Geschichte gelingt es Andreev überraschend plastisch den Schauplatz – sei es nun die Heilige oder die Ewige Stadt – und auch die Figuren zu schildern; mehr als ausschnitte können es natürlich nicht sein. Stilistisch lehnt sich Andreev an die Bibel an – doch glücklicherweise literarisiert er deutlich.

 

Tolstoi; Der Tod des Iwan Iljitsch (102 S.): Iwan Iljitsch ist seinem Leiden erlegen. Er hatte drei Monate an einer rätselhaften Krankheit gelitten, bei der jeder Arzt eine andere Diagnose stellte. Auf Iwan Iljitschs Kollegen und Freunde kommen damit einige lästige Pflichten zu; ob wohl deswegen das abendliche Kartenspiel ausfällt?

Doch wer war eigentlich dieser Iwan Iljitsch Golowin?

Er war der Sohn eines unnützen Geheimrats, der für eine fiktive Stellung einige nicht fiktive Tausend Rubel bekam. Anfangs tat Iwan Iljitsch sich schwer, doch in der Rechtsschule lernte er, dass man manchmal nur mit garstigen Taten vorankommt; da die anderen, höher gestellten Persönlichkeiten das ähnlich sahen, akzeptierte er es als angemessenes Verhalten. Er strebte eine leichte und angenehme Position in der Provinz an und heiratete später Praskowja Fjodorowna, ein Fräulein aus guter Adelsfamilie. Er liebte sich zwar nicht sonderlich und hätte eine Frau aus besseren Kreisen bekommen können, aber sie liebte ihn und das Umfeld begrüßte die Heirat. Wenn es zwischen ihm und der Frau Streit gab, dann zog er sich auf die Arbeit zurück, der einzigen von seiner Frau akzeptierten Beschäftigung. Er selbst liebte die Macht, die ihm die Stellung am Gericht über Menschen verlieh, auch wenn er sie nie ausnützte. Nach einer tiefen ehelichen Krise strengte er eine Beförderung an und alles schien sich zum Besseren zu wenden – doch dann erkrankte er.

Schauplatz der Geschichte ist das Russland des späten 19. Jh. – Golowin ist fünfundvierzig als er im Februar 1882 stirbt. Allerdings trägt sich das meiste Geschehen im Petersburger Heim der Golowins zu und auch dort erfährt man nur wenig über die Umgebung. Mehr erfährt man über die Sitten der Zeit, die ebenfalls nur beiläufig thematisiert – und kritisiert – werden. Das Setting ist damit ein Milieu.

Die Figuren sind alle potentiell rund, obwohl sie meistens nur skizziert werden. Alleine Iwan Iljitsch wird tiefer gehend charakterisiert. Er ist eine vielschichtige und zum Teil widersprüchliche Figur: Am Ende würde er gerne weinen und getröstet werden, doch gleichzeitig schämt er sich für solche Gefühle.

Der Handlung nach könnte man die Geschichte als stark kondensierten desillusionierenden Bildungsroman lesen. Nachdem der Werdegang der zentralen Figur knapp zusammenfassend geschildert wurde, konzentriert sich die Geschichte auf die fein beobachtete Darstellung des Sterbens. Der Autor setzt sich nicht nur mit dem Sterben und dem Wert des Lebens auseinander, der flicht darin auch eine verhohlene Gesellschaftskritik ein: Das gute Leben Iwan Iljitsch, das gute Leben der Herrschenden, ist ein leeres Leben ohne echte Freundschaft und ohne nachhaltigen Sinn. Die detaillierte Schilderung dieser Leere und des Sterben lassen den Plotfluss schwerfällig erscheinen.

Die Wahl Borges mag zunächst verwundern: Beim ersten Lesen habe ich das Wunder glatt übersehen. Iwan Iljitschs Tod ist die Erlösung. Nach dem irdischen Jammertal kommt das Himmelreich. Man kann es aber auch anders deuten: Die letzte Vision ist nicht mehr als eine Halluzination. Als gläubiger Christ könnte man dagegen einwenden, dass das Himmelreich nichts Phantastisches sei. Diese Offenheit rückt das Ende in den Bereich der todorovschen Phantastik. Aber zählt die ganze hundertneunseitige Geschichte dazu, bloß weil auf der letzten Seite vielleicht ein Wunder geschieht? Gleichwie, dieses ist eine der wenigen Geschichten, die eigentlich mimetisch sind, aber dann ein 'kleines' Wunder einfügen.

Bei der Erzähltechnik ist vor allem auf den wunderbar passenden Erzählrhytmus hinzuweisen, aber auch auf den eigenwilligen Perspektivwechsel: Im prologhaften 1. Kapitel ist die Erzählperspektive deutlich auktorial, doch in den folgenden Kapiteln zentriert sie sich immer stärker auf den Protagonisten, bis sie schließlich als personale Perspektive begriffen werden kann.

 

Fazit:

Ob in der Groteske vom Beamten im Krokodil, der Horrorgeschichte vom Lebenden Toten oder dem Sterbedrama des Beamten, immer befassen sich die Geschichten tiefsinnig mit dem Wert des Lebens und oft genug sind sie zugleich eine Kritik an der russischen Gesellschaft. Das Wunderbare wird dabei sehr unterschiedlich verwendet; vor allem Tolstois Geschichte bietet in dieser Hinsicht etwas Ungewöhnliches. Wieder einmal hat J. L. Borges sehr interessante Geschichten ausgewählt.

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Titel: Russische Erzählungen

Reihe: Die Bibliothek von Babel Bd. 22

Original: Ohne Angabe

Herrausgeber: J. L. Borges

Übersetzer: Svetlana Geier u. a.

Verlag: Edition Büchergilde

Seiten: 210-Gebunden

Titelbild: Bernhard Jäger

ISBN-13: 978-3-940111-22-7

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 08.05.2008, zuletzt aktualisiert: 21.04.2024 14:35, 6468