Gerade die Science Fiction ist als Genreliteratur schon immer etwas ambivalent gewesen: einerseits rückwärts gerichtet mit knallharten Actionthemen und andererseits progressiv mit Zukunftsentwürfen und stimulierenden Ideen, gerade auch wenn es darum ging, aktuell brennende Themen wie Gender, Rassismus oder Klima aufzugreifen. Besonders im Bereich der Speculative Fiction dominieren seit einiger Zeit Romane von Frauen und aktuell verstärkt auch Bücher von »nicht-weißen« Autorinnen. Das belebt und bringt ein erfrischendes Mix aus Sichtweisen für die Leserschaft.
Zu den Shooting Stars unter den neuen Autorinnen zählt C Pam Zhang. Die 1990 in Peking geborene Autorin hat mit ihrem Romandebüt Wie viel von diesen Hügeln ist Gold für Furore gesorgt. Und nicht nur, weil das Buch 2020 auf der Liste der Lieblingsbücher von Barack Obama gelandet ist. Es hat gezeigt, was für ein sprachgewaltiges Talent hier mit dem Schreiben begonnen hat. Man war also gespannt, was als nächstes kommen wird.
Zwar gilt Zhang nicht als Genreautorin, aber ihr Lebenslauf hat Parallelen zu dem von Rebecca F. Kuang, die gegenwärtig zu den interessantesten SF/F-Schriftstellerinnen der neuen Generation zählt. Wie Kuang ist Zhang in China geboren und als Kleinkind in die USA ausgewandert, um dort aufzuwachsen und zu studieren. Beide verließen ihr Geburtsland kurioserweise im Alter von vier Jahren. Beide Stimmen sind noch ziemlich jung fürs mitunter kurzlebige Literaturgeschäft.
Der zweite Roman von Zhang heißt Wo Milch und Honig fließen und ist eine Dystopie, die aus dem schier unüberschaubaren Meer der Anti-Utopien der vergangenen zehn Jahre herausragt. Sehr weit sogar. Die Autorin erzählt in einem kurzen YouTube-Videoclip, den sie für den deutschen Verlag aufgenommen hat, dass das Buch von »Liebe und Sex und Essen vor dem Weltuntergang« erzählt. Nach Lektüre des Romans kann ich das zwar bestätigen, würde die Reihenfolge allerdings korrigieren. »Essen« und »Weltuntergang« sind die dominierenden Themen. Liebe kommt auch vor. Und Sex eher am Rande und in Kleinbuchstaben.
Wo ist das »Land, wo Milch und Honig« fließen überhaupt? Die Redewendung kommt aus der Bibel und beschreibt das gelobte Land, in dem es an nichts fehlt. In den Büchern Moses hießt es u. a. »Wenn der Herr uns gnädig ist, so wird er uns in dies Land bringen und es uns geben, ein Land, darin Milch und Honig fließt«. Gemeint ist eigentlich Israel. Bei Zhang ist es Italien.
Die namenlose Protagonistin ist eine Amerikanerin, die in England gestrandet ist, nachdem eine riesige smogartige Umweltkatastrophe nicht nur die Sonne verfinsterte, sondern jegliche Flora erstickte und damit auch die Biodiversität. Es gibt keinen Mais mehr in den USA, keinen Weizen in Kanada, keinen Reis in Südamerika, keine Zitronen in Griechenland, kein Zuckerrohr in Vietnam oder Mangos in Indien. Wildtiere und Nutzvieh sind verhungert. Gleich in Kapitel Eins wird die verheerende Lage auf der Erde zusammengefasst: »Während Wissenschaftler über die Zusammensetzung des Smogs stritten und Politiker über die Ursache – Luftverschmutzung oder zu niedrige CO2-Steuern oder China oder Atomtests oder die USA oder Russland –, fraß sich die leicht saure Dunkelheit durchs fruchtbare Land.«
Wo »Milch und Honig fließen« erzählt von einer jungen Köchin asiatisch-amerikanischer Herkunft, die während der Krise ein Jobangebot annimmt. In einer total dekadenten Enklave auf einem schwer zu erreichenden Berggipfel Italiens muss sie exklusiv für Superreiche kochen: mit seltenen und erlesenen Zutaten, von denen die Menschheit nur noch träumen kann. Sogar Fleisch von ausgestorbenen Tierarten wird kredenzt, während sich alle anderen vorwiegend von einem Mehl aus Algen ernähren müssen und ansonsten auf einem von Menschen auf die Intensivstation geschickten Planeten dahinvegetieren.
C Pam Zhang packt in ihren Roman vieles von dem, was immer mehr Menschen am Herzen liegt. Die allgegenwärtige Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit hat sie geschickt in die Schilderung eines Einzelschicksals verwoben. Aber es geht nicht nur um die menschengemachte Katastrophe, die Dekadenz der Überflussgesellschaft oder den Umgang mit Nahrungsmitteln, sondern auch um, wie eingangs zitiert, Liebe. Und all das passiert in einer lebensfeindlich gewordenen nahen Zukunftswelt.
Zhang hat den Roman während der COVID-19-Pandemie geschrieben, die ganz klar eine Zeit der Entbehrungen war. Er ist voller Lust und Verlangen, in erster Linie nach einer perfekten Mahlzeit mit hochwertigen Zutaten. Gutes Essen ist wie guter Sex. So manchem Leser dürfte bei den detaillierten Beschreibungen das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Doch die Autorin belässt es nicht dabei. Sie entwickelt eine Beziehungsgeschichte der Köchin mit der charismatischen Tochter ihres noch mysteriöseren Arbeitgebers. Sie heißt Aida und ist die einzige handelnde Person mit einem Namen. Auch hier kommt es, wie beim Essen, zu Ausschweifungen. So wird das Überleben in einer unwirtlich gewordenen Welt zum Lusterlebnis auf mehreren Ebenen. Doch die Grenzen des Strebens nach Lust können auf ein unerträgliches Maß überschritten werden, wenn aus zehrendem Hunger die große Gier nach mehr Einfluss wird.
Zu den Highlights des Romans gehört der brillante Schreibstil der Autorin, der an manchen Stellen betörend detailreich, an anderen herrlich poetisch daherkommt. So wird »Wo Milch und Honig fließen« zu einem belletristischen Genuss für alle, die mehr als nur Ideen und Action suchen.
Unter dem Strich ist das Buch eine meisterhafte, literarische Beschreibung der Suche nach köstlichem Essen und reiner Liebe, ja nach dem puren Leben und letztlich nach süchtigmachender Macht.
