Die geheime Geschichte Moskaus (Autorin: Ekaterina Sedia)
 
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Die geheime Geschichte Moskaus von Ekaterina Sedia

Rezension von Oliver Kotowski

 

Rezension:

Während die junge Moskauerin Galina sich noch über die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und ihrer Mutter im Besonderen ärgert, geschieht etwas höchst Sonderbares: Ihre schwangere Schwester Mascha verschwindet einfach – eben hatte sie noch die Badezimmertür hinter sich abgeschlossen und dann war sie weg. Galina und ihre Mutter brechen die Tür auf und da ist nur noch das Baby und eine Dohle, die um Galinas Aufmerksamkeit buhlt. Doch das kann nicht sein, Menschen verwandeln sich nicht in Vögel! Als Galina nach der Arbeit durch die Stadt stromert, taucht plötzlich ein Wolke von allen möglichen Vögeln auf – sogar Eulen sind dabei, und das am helllichten Tage. Und wieder die Dohle. Halluziniert Galina? Ein Straßenkünstler – ein Alkoholiker namens Fjodor – hatte sie auch gesehen. Am Abend, so der junge Trinker, könne er ihr etwas damit im Zusammenhang Stehendes zeigen. Sie kommt zusammen mit dem Polizisten Jakov, der wegen der zahllosen vermissten Personen ermittelt, zurück. Fjodor führt die beiden in die U-Bahn und nimmt sie durch ein Tor mit in den Untergrund. In den Untergrund flüchten sich nicht nur die von der Gesellschaft Ausgestoßenen, auch die Mythen, die nicht mehr benötigt werden, verstecken sich dort. Und ganze Vogelschwärme. Galina macht sich auf eine bizarre Suche nach ihrer Schwester.

 

Die Geschichte spielt in der Gegenwart: Das Moskau ist postsowjetisch und kapitalistisch. Es gibt Glitzerpaläste und schäbige Wohnsilos. Die Straßen sind mit Autos voll gestopft und in den verdreckten Bahnhöfen lungern zwielichtige Gestalten herum. Der KGB ist bloß noch eine Erinnerung, die ohnmächtige Polizei wird nicht gefürchtet, sondern verlacht – die kurzhaarigen Schläger arbeiten nicht mehr für den Staat, sondern sind kleine Gangster geworden, die die kleinen Hehler der Straßenbasare oder Besitzer von kleinen Konsumgenossenschaften erpressen. Schön ist das neue Russland nur an ausgesuchten Orten und auch da nur an der Oberfläche – darunter setzt ein tief greifender Verfall ein.

Mit dem Untergrund kommen wir zu den phantastischen Elementen. Unter Moskau gibt es einen Ort für die, welche an der Oberfläche keinen Platz mehr haben. Im ewigen Zwielicht leben sie in einer kleinen Stadt, die von einem eigenartigen Wald umgeben ist. In der Kneipe trinken die Flüchtlinge von Pogromen, Invasionen und ausgediente Götter Tee oder Bier. Da die Menschen nicht mehr altern, findet sich neben dem Opfer von Stalins Terror ein Tatar aus dem 14. Jh. In den Häusern betteln Domowoj um Brotkanten und in den Gewässern gehen Rusalki ihrem schaurigen Treiben nach. Damit gibt es zwei Arten von phantastischen Elementen: Einmal die konservierende Magie des Ortes selbst, die ein Zusammentreffen von Menschen aus den verschiedensten Zeiten erlaubt, und dann die russischen Mythen entstammenden Figuren. Zwar sind die meisten aus Märchen und Sagen entlehnt, doch einige stammen auch aus der sowjetischen Propaganda wie etwa die erste Kavallerie.

Seit Alice dem Kaninchen folgte, folgen Leser immer wieder Protagonisten in bizarre Gegengesellschaften. Galinas Reise erinnert hier mehr an Neil Gaimans Niemalsland als an China Miévilles Un Lon Dun; der Untergrund weist – nicht nur von der Stimmung her – Ähnlichkeiten zu Haruki Murakamis Hardboiled Wonderland auf. Doch die Ähnlichkeiten bestehen nur in der Anlage der Gegengesellschaft, in der Ausführung gibt es deutliche Unterschiede.

Insgesamt wird den Schauplatz nicht sonderlich viel Aufmerksamkeit geschenkt, das Setting wird vor allem durch die Figuren erfahrbar. Diese Eigenheit verknüpft die Figuren eng mit dem Setting, doch da die Figuren so unterschiedlich Hintergründe haben, erwächst aus ihnen kein kohärentes Setting; deshalb ist das Setting ein durchaus milieuhaftes Ambiente ohne ein Milieu zu werden.

 

Die Zahl der Figuren ist recht hoch: Der Roman hat neunzehn Kapitel und in beinahe jedem wird eine Figur Ausschnittsweise porträtiert – es wird knapp das Wesen der Figur skizziert und dann erzählt, wie sie in den Untergrund gelangte; die Figuren reichen dabei vom Tartaren Timur-Bey über die adlige Protofeministin Elena zum Gott Kaschtschei dem Todlosen. Die Flüchtlinge sind dabei per definitionem Außenseiter, denn andere gelangen nicht in den Untergrund. Dennoch wirken sie wie typische Vertreter ihrer gesellschaftlichen Gruppe – so seltsam es klingt, die Figuren sind zentrische Exzentriker. Aufgrund der großen Breite ist natürlich kein sonderlicher Tiefgang zu erwarten; sieht man von den wichtigsten Figuren ab, so bleiben sie Skizzen – das Figurenensemble gleicht der Skizze eines Durchschnitts durch die Jahrhunderte der Moskauer Außenseiter. Damit ist der Roman quasi die zerkratzte Seite der Münze, dessen blitzblanke Seite von Viktor Pelewins Das fünfte Imperium wiedergegeben wird: Dort ging es um die 'super-coolen Stecher', die über der Moskauer Gesellschaft stehen, hier geht es um die Loser, die aus ihr herausfallen.

Die wichtigsten Figuren sind natürlich Galina, Jakov und Fjodor. Galina ist eine junge Frau Mitte Zwanzig, die seit ihrer Jugend unter Schizophrenie leidet (oder zumindest darauf behandelt wird). Ihren Schulabschluss konnte sie nicht machen, weil sie in der psychiatrischen Klinik langfristig behandelt wurde. Glücklicherweise sind ihr Englisch und Deutsch gut genug um als Übersetzerin für einen kleinen Fachverlag arbeiten zu können. Sie lebt noch bei ihrer Mutter, die schon völlig verzweifelt ist, weil Galina nie einen Mann abbekommen wird, so störrisch ist sie – Galina will auch keinen. Ihre kleine Schwester Mascha liebt sie allerdings sehr, auch wenn ihre Mutter diese klar bevorzugt. Der dreißig Jahre alte Jakov lebt ebenfalls noch mit seiner Mutter zusammen. Der Polizist war einst verheiratet, hatte sich dann aber von seiner Frau getrennt. Eigentlich ist er ein passiver Mensch, der gerne seine Alltagsroutine absolviert und sonst in Ruhe gelassen werden will. Eine Siebzehnjährige, deren Mutter zu den Vermissten gehört, rührt jedoch sein Herz an, sodass er sich mürrisch, aber pflichtbewusst auf die Suche begibt. Fjodor dagegen ist ein ziemlicher Anti-Held. Er ist ein Straßenkünstler, der sich mit Bildern von Touristen und Taschendiebstahl über Wasser hält. Als Kind hatte man ihm gesagt, dass die Zigeuner Kinder stehlen, und als er dann aus Furcht vor den Zigeunern nicht nach Draußen wollte, meinte sein Stiefvater, dass die Zigeuner doch nicht blöd seien – wertlose Kinder würden auch die nicht stehlen. Lange wartete Fjodor darauf, dass er gestohlen würde, damit bewiesen werde, dass er kein wertloses Kind sei. Gestohlen wurde er dann doch nicht, doch deswegen sind ihm Zigeuner keineswegs lieber, ganz im Gegenteil. Und jetzt auf sein Glück wartend ertränkt er seinen Frust im Alkohol.

Keine der Figuren ist makellos oder gar charmant – alle haben ihre dunklen Seiten und Charakterfehler, doch alle haben auch ihre liebenswerten Seiten.

 

Die Suche Galinas nach ihrer Schwester ist eine Art märchenhafter Queste mit ungewöhnlichem Personal. Eben diesem Personal wird die meiste Aufmerksamkeit zuteil. Die vielen kleinen Geschichtchen starten sehr unterschiedlich, laufen aber am Ende stets auf eine Flucht hinaus – der Leser wird überrascht sein wie vielfältig sich dieses Thema verarbeiten lässt. Der Plotfluss der Rahmenerzählung ist ob der vielen episodischen Einschübe selbstverständlich recht langsam.

Die Spannungsquellen sind entsprechend weit gestreut: Es gibt direkte Bedrohungen, das Rätsel um die verwandelten Menschen, bizarre Figuren und mit der Flucht der Götter und der damit zusammenhängenden Verschärfung wird das in der Fantasy oft behandelte Thema des thinnings behandelt. Dazu gesellen sich sogar ein paar transversal wirksame: So wird etwa die Frage behandelt, was mit Göttern geschieht, an die niemand mehr glaubt. Terry Pratchett hat das Thema in Einfach Göttlich zwar deutlich genauer ausgeleuchtet, aber nicht wesentlich tief greifender behandelt.

Zwei Spannungsquellen sind allerdings noch zu erwähnen. Schon angeklungen ist die Komik. Ein wichtiger Aspekt hierbei ist der Kontrast zwischen ehrwürdigen Göttern und Feenwesen und respektlosen modernen Menschen, wobei der Roman dichter an James Branch Cabells Jürgen oder Oscar Wildes Das Gespenst von Canterville liegt als an Tom Holts Wer hat Angst vor Beowulf oder ähnlichen Klamaukstücken, denn die Götter umweht stets ein Hauch melancholischer Würde.

Die andere Spannungsquelle ist die dichte Intertextualität. Da wären zunächst die vielen Sagen und Märchenfiguren zu nennen, die wiederum nicht zum ersten Mal jenseits dieser Texte verwendet wurden; Kaschtschei hatte bereits als Koshchei in Jürgen der Titelfigur einen zweifelhaften Gefallen erwiesen und Robert A. Heinlein hatte diesen in Das neue Buch Hiob weiterverwendet. Dann ist der Untergrund als magisches Asyl für überall Verfolgte Michael Moorcocks Tanelorn ähnlich, die bizarren Schicksale erinnern bisweilen an Jeff VanderMeers Secret Life (dt. Ein Herz für Lukretia); manches davon ist wohl eine bewusste Anspielung – wie die auf Edgar Allen Poes Der Rabe – anderes eher nicht – wie die Ähnlichkeit zu Michael Endes Unendliche Geschichte.

 

Die Erzähltechnik spiegelt die anderen Aspekte des Romans wider. Es gibt einen Handlungsstrang, der aus einer Vielzahl von personalen Perspektiven erzählt wird, sodass es durchaus auktorial wirken kann. Der Handlungsaufbau der Rahmenhandlung ist dramatisch, aber von vielen episodischen Einschüben unterbrochen; progressive und regressive Momente halten sich die Waage.

Der Stil macht einen ähnlichen Spagat – einerseits sind die Dialoge oft in einem modern-vulgären, rotzfrechen Tonfall gehalten, andererseits ist die Erzählerrede bei Beschreibungen getragen märchenhaft. Die Sätze sind sehr abwechslungsreich, sie reichen von kurzen, lakonischen Einzeilern hin zu komplizierten Schachtelsätzen; übermäßig kompliziert werden sie allerdings nie.

 

Fazit:

Galinas Schwester Mascha verschwindet – hat sie sich in eine Dohle verwandelt? Auf der Suche nach ihrer Schwester gerät Galina in den Moskauer Untergrund und lernt viele befremdliche Wesen kennen und einen gänzlich neuen Blick auf den Wahrheitsgehalt von Mythen zu werfen. Mit Die geheime Geschichte Moskaus hat Ekaterina Sedia eine mal amüsante, mal spannende Urban Fantasy verfasst, die den Leser auf eine sight-seeing-tour durch Russlands Mythen und das moderne Moskau schickt.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202405071324458863bbd0
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Roman:

Titel: Die geheime Geschichte Moskaus

Reihe: -

Original: The Secret History of Moscow (2007)

Autor: Ekaterina Sedia

Übersetzer: Olaf Schenk

Verlag: Klett-Cotta (März 2009)

Seiten: 329 - Gebunden

Titelbild: Unbekannt

ISBN-13: 978-3-608-93873-9

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 11.04.2009, zuletzt aktualisiert: 05.05.2024 12:12, 8542