Interview: Michael Marrak
 
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Interview mit Michael Marrak

geführt von Ralf Steinberg

 

Zum Erscheinen seines Romans Morphogenesis stand uns Michael Marrak bereits 2005 zu einem Interview zur Verfügung. Da wurde es höchste Zeit, ihn anlässlich seines jüngsten Werkes Der Kanon mechanischer Seelen, erneut zu Wort kommen zu lassen:

 

Fantasyguide: Hallo Michael, 2005 standest Du uns das letzte Mal Rede und Antwort, neben einigen unerfüllbaren Dingen wünschtest Du Dir damals für die Zukunft eine Wohnung mit Badewanne. Brachten Dir die vergangenen Jahre die Erfüllung Deiner Wünsche?

 

Michael Marrak: Vorübergehend. Die neue Wohnung hat wieder nur eine »Nasszelle«, um es im Polarforscher-Jargon zu sagen. Wannen kommen, Wannen gehen … ;)

 

Fantasyguide: Dein phantastisches Werk ist breit gefächert. Neidvoll blicke ich auf Deinen Besuch bei HR Giger, Du hast mit Malte S. Sembten zusammengearbeitet – was bedeutet Dir das Vergehen der Zeit?

 

Michael Marrak: Ich komme der Jakobsleiter näher, ob ich will oder nicht. Gefällt mir das? Nein, eigentlich nicht. Vor allem in Hinblick darauf, dass die ein, zwei komischen Talente, die ich in die Wiege gelegt bekommen habe, mit zunehmendem Alter immer besser und perfekter zu beherrschen und auszuüben vermag. Dass das dann irgendwann – plopp! – nicht mehr sein wird, ist bedauerlich. Fakt ist jedoch: Von meiner Verwandtschaft väterlicherseits starben alle männlichen Angehörigen zwischen dem 65. und 68. Lebensjahr an Krebs, zuletzt mein Vater vor knapp zehn Jahren im Alter von 66. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich diesen genetischen Deadline-Code somit ebenfalls in mir trage, lässt mich hin und wieder grübeln und die Nase rümpfen.

 

Fantasyguide: Nach dem Lesen von »Der Kanon der mechanischen Seelen« war ich überrascht, wie toll sich alles zusammenfügte. Wieviel des Kanon-Stoffes hattest Du schon in der Hinterhand beim Verfassen der letzten Novelle für Nova 23?

 

Michael Marrak: Zu diesem Zeitpunkt nur die erste Romanhälfte einschließlich der Reise mit dem Aquaroid, und viele Ideen für den Rest, aber nichts Ausformuliertes. Das eigentliche Roman-Exposé entstand erst, als sich der Arena-Verlag für den Stoff interessiert und meinen Agenten um die Exklusivrechte gebeten hatte. Leider wollten sie, dass ich aus der Geschichte eine Art harmlosen Kinder-Abenteuerroman mache, in dem die Protagonisten nur im Hochland umherstreifen und mit ihren mechanischen Spielzeugen spielen, womit ich ganz und gar nicht einverstanden war. Meine Intentionen waren Lem, Moorcock und Miyazaki, nicht die Augsburger Puppenkiste.

 

Fantasyguide: In der letzten NOVA-Novelle Das Lied der Wind-Auguren erzählst Du nur die Geschichte von Guss’ Reise in die Zukunft. Hattest Du damals schon Pläne für die Abenteuer von Lux und Clogger?

 

Michael Marrak: Ja, aber ich wollte die drei Reisen von vornherein auf drei der elf Buchteile verteilen, um Cutters Verhalten vor und im Chronoversum plausibler zu machen. Vor allem aber, um die Story ausgewogener zu gestalten und die Leser nicht mit der geballten Ladung Zeit- und Dimensionsreisen zu konfrontieren. Die drei beseelten Figuren sind überdies so schrullig, dass sie ihre eigenen kleinen Nebenhandlungsstänge schlichtweg verdient haben – um jeden, der ihren Weg kreuzt, in den Wahnsinn zu treiben …

 

Fantasyguide: Das haben sie definitiv!

Es gibt im Kanon diverse Zwischenqueste. Die Befreiung des Aurora-Sprösslings, die Heilung des Wind-Auguren, Zenobias Reise in die Unterwelt – ist das eine Ehrung von Rollenspielen oder warum fanden diese abenteuerlichen Abstecher ihren Weg ins Buch?

 

Michael Marrak: Ich mag es einfach gerne ein bisschen vertrackt und verwinkelt. Zudem sind derartige Sidequests und Querfeldein-Abstecher vom Haupthandlungsstrang eine schöne Gelegenheit, um dem Leser einzelne Figuren näherzubringen und sie besser kennenzulernen. Etwa um zu erfahren, wie Clogger tickt – obwohl sie eigentlich nie tickt … ;-)

Unterm Strich sind es natürlich auch kleine, aber nicht bewusst geschaffene Hommagen an Action- und Rollenspiele wie Horizon Zero Dawn, The Elder Scrolls, Fallout oder Oddworld: Stranger.

 

Fantasyguide: Im Vergleich zu den Novellen hat sich am deutlichsten die Figur des Cornelius verändert. Sie fiel fast weg. Was ist passiert?

 

Michael Marrak: Er ist nur eine Nebenfigur. Das wird aufgrund der Länge der damals erschienenen NOVA-Novellen natürlich nicht sofort ersichtlich. Ich hatte aber von Anfang an nicht vor, ihn hinter die Mauer »mitzunehmen«. Zudem gibt es bereits in DAS AION einen Roboter in der Protagonisten-Crew, der Cornelius recht ähnlich ist. Im Hinblick auf die 2019 erscheinende Gesamtausgabe ist/war es also sinnvoll, die Figuren ohne Roboter losziehen zu lassen – obwohl Lems Robotermärchen meine Inspiration waren. In der KANON-Welt gibt es auch ohne Cornelius noch genug mechanische Kreaturen, die den Helden das Leben schwer machen.

 

Fantasyguide: Gab es noch mehr Dinge, die Du zur Anpassung an ein Gesamtkonzept über Bord werfen musstest?

 

Michael Marrak: Nur die Anfangsszene der Novelle Der mechanische Dybbuk (in NOVA 22), in der Aris nach einem kleinen Techtelmechtel mit Cornelius in der Krankenstation erwacht. Diese Szene gab es schon in der Ur-Version AURORA für das Readers Digest Jugendbuch 48. Für den Roman habe ich sie nahezu komplett gestrichen, weil sie nicht ins Konzept gepasst hat. Das ist aber auch der einzige Part aus den Novellen, den ich nicht übernommen habe.

 

Fantasyguide: Der »Kanon« steckt voller Humor. Was braucht ein guter Gag, um zu wirken?

 

Michael Marrak: Intelligente Leser, die ihn verstehen … ;-)

 

Fantasyguide: Du sagtest, »Der Kanon mechanischer Seelen« sei ein ähnliches Herzensbuch wie Lord Gamma. Woraus schöpfst Du beim Erschaffen Deiner phantastischen Welten? Sind eher Bilder oder Worte deren Bausteine?

 

Michael Marrak: Sowohl als auch. Bilder, die in Worte gekleidet werden wollen, und Worte, die sich vor dem geistigen Auge zu Bildern, Szenarien und Impressionen manifestieren. Es ist ein synergetischer Prozess. Eine Symbiose von audiovisuellem Denken – bzw. Spinnen – und einem ständigen Dialog der Figuren und Reflektionen ihres Innerspace. Beim KANON war das Kopfkino ziemlich überbordend und verrückt, denn irgendwie hat im Roman jeder und alles, was darin agiert, kreucht, fleucht und beseelt ist, einen kleinen Schuss weg. Oder zumindest ein paar wundersame Marotten, Gaben und Charakterzüge. Das ist die Art von SF und Phantastik, wie ich sie am liebsten schreibe. Augenzwinkernd, ironisch, hintergründig und mit dem Anspruch, im Idealfall dabei noch eine Abenteuergeschichte mit einem gewissen »Sense of Wonder« zu schaffen.

 

Fantasyguide: Den Entwicklungsprozess des Kanons konnten alle Leserinnen und Leser des »Nova« SF-Magazins mehr oder weniger live miterleben. War Dir das doch meist sehr positive Feedback wichtig oder musste die Geschichte einfach raus, egal wie sie ankommt?

 

Michael Marrak: Letzteres triff zweifellos auf die ersten beiden Novellen zu. Aber erst das Leserfeedback nach Erscheinen der zweiten Erzählung, die damals zudem mit dem Kurd Laßwitz-Preis ausgezeichnet worden war, hatte mich fokussiert, dass ich offenbar eine kleine Schatztruhe geöffnet hatte. Mit einem schrulligen, detailverliebten Weltentwurf, der zu schade war, um nur auf ein paar Erzählungen reduziert zu bleiben, die für sich allein zudem zu viele Fragen offen und zu viele Mysterien ungeklärt ließen.

Die Leser wünschten sich, mehr über die beseelte KANON-Welt und ihre Verrücktheiten und vor allem über die geheimnisvolle »Bannmauer« zu erfahren, selbst LeserInnen, die sich damals NOVA 20 zum Zeitvertreib im Bahnhofsbuchhandel gekauft und mit SF eigentlich kaum etwas am Hut hatten. Und dass ich die Geschichte so opulent weiterentwickelte, wie ich es 2012 mit der titelgebenden Novelle begonnen hatte.

 

Einige erinnern sich vielleicht aus alten Interviews an den Entstehungsprozess von »Lord Gamma«. Der Roman sollte damals eigentlich auch nur eine neue Erzählung für eine zweite Shayol-Kurzgeschichtensammlung werden. Dreißig, vierzig Seiten, mehr nicht … Doch dann war beim Schreiben des ersten Kapitels unvermittelt etwas erwacht. Etwas, dem ich mich anfangs nicht gewachsen fühlte. Irgendeine Art mentales, metaphysisches Upgrade, das nicht mehr dorthin zurückkehren wollte, woher es gekommen war.

 

Fantasyguide: Bist Du wirklich fertig mit der Kanon-Welt? Könnte da noch etwas kommen?

 

Michael Marrak: Ich habe Ideen für eine Fortsetzung der Geschichte, mehr aber auch nicht. Zudem bin ich noch zu ausgelaugt vom Schreiben des Romans, um mir ernsthafte Gedanken darüber zu machen. Jetzt folgen erstmal ein kleines Geheim-Herzensprojekt (das bereits Mitte des Jahres erscheinen wird), dann DER GARTEN DES UROBOROS (Herbst 2018) und die AION-Gesamtausgabe (Herbst 2019). Danach werden wir sehen, wie weit die Fortsetzungsidee gediehen ist.

 

Fantasyguide: »Die Stille nach dem Ton« wurde zum Titel der Best-Of Anthologie des DSFP. Welchen Stellenwert räumst Du Kurzgeschichten in Deinem Schaffen ein?

 

Michael Marrak: Es gab eine Zeit, da beantwortete ich diese Frage in etwa mit: Romane sind für einen Autor die zählende Währung, sein Fundament, auf dem er aufbaut, Kurzgeschichten hingegen nur netter, aber wenig beachteter Liebhaber-Firlefanz. Diese Aussage fiel zu einer Zeit, in der ich mich als Autor den Lesern gegenüber fokussiert geben und als Prioritätsmensch mit klarer Ansage und Credo präsentieren wollte – aus dem Wunsch oder Bedürfnis heraus, mich in der Szene zu profilieren und zu zeigen, ich wüsste, woher der Wind weht. Heute betrachte ich das Thema wesentlich entspannter – und meine alten Statements mit einer etwas schmerzlichen Grimasse.

 

Fakt ist, dass ich nie aufgehört habe, Kurzgeschichten oder Novellen zu schreiben, was den Stellenwert verdeutlicht, den ich ihnen einräume. In einer Kurzgeschichte entwickelt bzw. kristallisiert sich oft und zumeist unvorhersehbar die Idee für einen Roman. Eine Idee, auf die man ohne die entstandene Kurzgeschichte vielleicht nie gekommen wäre. Sieh dir »Der Kanon mechanischer Seelen« an, Imagon oder »Morphogenesis«. Diese Romane entstanden aus Erzählungen. Andere griffen Themen und Prämissen zuvor entstandener Kurzgeschichten auf wie etwa »Lord Gamma«. Viele ehemalige Kurzgeschichten wurden so auf die eine oder andere Art in die genannten Werke integriert und Bestandteile derselben – auch der Work-in-Progress-Romane, die noch in der Pipeline stecken.

 

Fantasyguide: In der prämierten Kurzgeschichte »Die Stille nach dem Ton« geht es auch um das Verschwinden von Bedeutung durch das Verschwinden von Begriffen, eine Art umgedrehte Schöpfung. Der Plan sei Defragmentierung, Reproduktion. Etwas Ähnliches sehe ich auch im »Kanon« – steht Dekonstruktion für Dich als Voraussetzung von etwas Neuem?

 

Michael Marrak: In »Die Stille nach dem Ton« geht Wissen vermeintlich verloren, im »Kanon« hingegen wird vor Jahrtausenden verlorenes Wissen zurückgewonnen. Es gibt zu deiner Frage einige schöne Redensarten wie etwa »Ein Ende ist immer ein neuer Anfang« oder »Der Fluss mündet in die Quelle«. Sie rufen das phönixgleiche Werden und Vergehen der Dinge in Erinnerung. In dieser Hinsicht bin ich zu sehr Illustrator. Man benötigt ein leeres Blatt, um ein Bild anfertigen und diese 2D-Welt mit Farben, Formen oder Strichen besiedeln zu können. Ob das literarisch nun auf einer von diversen Kataklysmen »gereinigten« Zukunftswelt wie im »Kanon« von statten geht oder in einem Roman über die Besiedelung einer neu entdeckten Koloniewelt, zugrunde liegt meistens ein leeres Weltenblatt, auf dem aus dem Nichts langsam Neues, Bedeutendes entsteht. Sieht dir an, was in den zwölftausend Jahren seit der letzten Eiszeit mit der menschlichen Zivilisation und dieser Welt passiert ist.

 

Fantasyguide: »Die Stille nach dem Ton« erschien ja auch in dem Band Armageddon mon amour, einer Kollaboration mit Karsten Kruschel und als »Maldoror Sonderband 1« deklariert. Wie geht es da weiter?

 

Michael Marrak: Das war ein sehr spontanes, einmaliges und auf lediglich 99 Exemplare limitiertes Projekt anlässlich unserer gemeinsamen Weltuntergangslesung in Leipzig 2012. Maldoror hatten Malte S. Sembten und ich damals für unsere beiden Horror-Anthologien Der agnostische Saal 1 und 2 ins Leben gerufen. Ein dritter Band war geplant, doch wir waren durch andere Projekte so lange abgelenkt, bis für uns irgendwann klar war, dass es keinen Teil 3 mehr geben wird. Falls je eine weitere Maldoror-Publikation das Licht der Welt erblicken sollte, dann wird das wahrscheinlich ein ebenso unwillkürliches Ding werden wie »Armageddon mon amour«.

 

Fantasyguide: Und passend dazu: Wie steht es mit einem Sammelband Deiner Kurzgeschichten?

 

Michael Marrak: Ist in Arbeit. Angedacht bzw. vom Verleger angeregt ist sogar eine zweibändige Kollektion. Mal sehen, was am Ende dabei rauskommt.

Die einige Fragen zuvor beschriebene Story-Roman-Einverleibung macht es für mich allerdings schwierig, diese (schon seit Jahren angekündigte) Kurzgeschichtensammlung zusammenzustellen. Astrosapiens, Wiedergänger, Der Eistempel, Warten auf Manom Nakat, Die Epigonen von Ekron, Die Augen von Aasac, Relicon, Schattenpark, Lamia, Liliths Töchter, Oxeia, Endemion, Numinos, Wanderaugen … all diese Erzählungen sind inzwischen in Romane integriert oder zu solchen angewachsen. Nichtsdestotrotz ließen sie sich natürlich – deklariert als »frühe Stadien« oder »literarische Sprösslinge« – in eine Storycollection aufnehmen.

 

Fantasyguide: In einem Interview erwähntest Du auch die Idee, einen Bildband per Crowdfunding finanzieren zu wollen. Schwelt der Gedanke noch oder hast Du es verworfen?

 

Michael Marrak: Doch, die Idee wetterleuchtet noch im Hinterkopf, aber ich halte den bisherigen Bilderpool noch nicht für »tief« genug. Zudem bin ich bei weitem kein Oliver Preuss, Mark Freier oder Timo Kümmel, die das tagein tagaus machen. Die Illustrationen für den KANON MECHANISCHER SEELEN einmal ausgenommen, entstehen die meisten meiner Bilder ja eher in der Freizeit oder als Ausgleich zum Schreiben, um den Kopf freizukriegen; als Schreibblockadentherapie, wenn man es so nennen will. Mitte/Ende 2018 wird es eine sechzehn- oder achtzehnseitige Bildergalerie in der Ausgabe 38 des SF-Magazins EXODUS geben, die ich quasi als eine Art Testballon betrachte. Sie wird fast zur Hälfte aus neuen, bisher unveröffentlichten Illustrationen bestehen. Dann erfahre ich, wie die Motive in gedruckter Form aussehen und kann anhand des Leserfeedbacks auch beurteilen, ob sich die Arbeit für einen Bildband wie von mir angedacht überhaupt lohnen würde. Crowdfunding-Kampagnen sind sehr arbeitsintensiv und zeitaufwändig.

 

Fantasyguide: Deine phantastischen Bildwelten schmücken sowohl eigene Texte als auch die anderer Autorinnen und Autoren. Welche Techniken verwendest Du, welche Aspekte des Zeichnens magst Du besonders?

 

Michael Marrak: Die Verfremdung des Alltäglichen und Gewöhnlichen. Das aufeinander Abstimmen von Formen, Raum, Licht und Schatten. Das Spiel mit Komplementärfarben und das Erzeugen von visueller Spannung zwischen Reduzierung und Überfluss. Früher waren Tusche, Polychromos, Tempera und Acryl meine liebsten Mittel. Heute entstehen die meisten Illustrationen auf eine Weise, die man am treffendsten als Digital-Art bezeichnen könnte. Es sind aufwändige, mit Photoshop geschaffene und mit spezieller Filtersoftware gerenderte Kollagen aus Fotografien und eingescannten Airbrush- oder Temperavorlagen.

 

Es gibt (private, bisher noch unveröffentlichte) Bilder, an denen ich monatelang, an einigen wenigen sogar jahrelang saß. An diesen habe immer weiter gewerkelt, sobald sich ein wenig Zeit dafür ergeben hat. Am Ende läuft alles durch nach meinen Wünschen und Bedürfnissen editierte Rendering-Filter, welche die Teilmotive besagter kollagenartiger Vorlagen miteinander verschmelzen lassen und alles in einen Guss bringen. Schöne Beispiele für letzteres sind die Cover von NOVA 21, der PHANTAST-Sonderausgabe, die Illustrationen für die Filmdokumentation Traceroute und natürlich auch das Titelbild für »Der Kanon mechanischer Seelen«.

 

Das heißt aber nicht, dass ich das Traditionelle verkümmern lasse. Es existieren auch neue Tuschebilder. Das meiste ist momentan aber (noch) unveröffentlicht, quasi von mir für mich. Am Erfreulichsten ist letztendlich jedoch, wenn die entstandenen Motive endlich jene Werke zieren, für die sie entstanden sind, oder als Poster an meiner Wand hängen.

 

Fantasyguide: Mir fällt immer wieder Deine Liebe zur sprachlichen Exaktheit auf, Deine Texte beschreiben jedoch meist eher chaotische Systeme. Bist Du ein Mensch, der die Balance zwischen Ordnung und Chaos auslebt?

 

Michael Marrak: Jetzt grüble ich über den kausalen Zusammenhang von literarischer Stilistik und abstrakter Fiktion …

Sagen wir mal so: Im Privatleben oder als Mensch betrachtet ja, denn ich stecke voller emotionaler Widersprüche. Auf meine Geschichten hingegen trifft das nicht unbedingt oder nur oberflächlich gesehen zu. »Morphogenesis« beispielsweise spielt in einer vermeintlich völlig aus den Fugen geratenen Hölle, aber selbst diese Hölle in all ihrer Widernatürlichkeit ist gezwungen, sich an Regeln, Dogmen und Gesetze zu halten, wenn man sich den Plot vor Augen führt. Ich empfinde völlig fremd anmutende Systeme auf den ersten Blick nicht unbedingt als chaotisch, sondern nur als mental überfordernd.

 

Fantasyguide: Du warst 2013 der Grund, weshalb ich ins Second Life wanderte und meiner ersten virtuellen Lesung lauschte. Damals kredenztest Du uns Coen Sloterdykes diametral levitierendes Chronoversum aus »Nova 21«, heute »Kanon«-Bestandteil. Seither konnte ich Dich immer wieder im SL erleben – was bedeutet Dir diese Plattform?

 

Michael Marrak: Ich hatte zwischen der von Störgeräuschen begleiteten Chronoversum-Lesung 2013 und der jüngsten Lesung im Oktober 2017 kein einziges Mal mehr Second Life besucht, weil mein Vorgänger-Notebook nicht die erforderliche Leistung hatte, um mich dort ohne Performanceprobleme herumzutreiben. Mein Avatar materialisierte 2017 am selben Platz, an dem ich ihn 2013 »abgestellt« hatte: Unter Wasser, auf einem U-Boot-Wrack. Daher hast du offenbar eine verzerrte Erinnerung an meine Second Life-Präsenz oder verwechselst jemanden mit mir. Wem oder was auch immer du dort begegnet bist oder »erlebt« hast, ich war es nicht.

 

Ungeachtet dessen empfinde ich Second Life als schöne Bühne für spezielle Events wie z.B den ersten virtuellen Literaturcon, Bildgalerien oder Konzerte, mit zahllosen Agoren als Treffpunkte des gegenseitigen Austauschs. Wer die Möglichkeit hat, sich darauf einzulassen, hat dort eine Menge Spaß, Kunst und Kultur und entdeckt Staunenswertes.

 

Fantasyguide: Da muss ich wohl wirklich von Dir geträumt haben!

Bei Deiner letzten Lesung in SL, am 22.10.2017 auf dem Ersten virtuellen Literaturcon, konnte man mit seinem Avatar durch Deine riesigen 22 Illustrationen zum »Kanon« spazieren. Ist der Stellenwert von Illustrationen in der Phantastik am Sinken? Schränken sie gar die Fantasie ein?

 

Michael Marrak: Im Jugendbuchbereich ist das durchaus denkbar, denn junge LeserInnen machen sich beim Lesen gerne ihr eigenes Bild der Buchwelt und ihrer darin agierenden Figuren. Im Erwachsenenbereich sieht das ganz anders aus. Ich verweise nur auf Kai Meyers Krone der Sterne-Trilogie und die kongenialen Illustrationen von Jens Maria Weber. Im »Kanon« hat sich das aus den begleitenden Illustrationen für die in NOVA erschienenen Novellen so ergeben, da alle Geschichten im Magazin illustriert sind bzw. werden. Ich hatte für jede meiner Novelle zwei Motive angefertigt und wollte diese gerne auch im Roman verwenden. Der besteht allerdings nicht nur aus vier Teilen, sondern aus elf. Daher habe ich mich entschieden, weitere vierzehn Illustrationen zu machen.

 

Fantasyguide: Neulich kam ich mit einer jungen Illustratorin ins Gespräch und spürte ihre Frustration, von ihrer Kunst nicht leben zu können. Wie geht man als Künstler damit um? Ist der fehlende Marktwert Ausdruck einer gesellschaftlichen Geringschätzung? Sollte Kunst überhaupt einen Markt haben?

 

Michael Marrak: Ich glaube, eine ehrenamtlich schaffende Bohème wäre das Ende des Abendlandes. ;) Ein für sich selbst sprechendes und leider trauriges Beispiel in Bezug auf deine Frage ist die Schließung der Thomas-Schlück-Bildagentur vor einigen Jahren. Sie wurde, wie man mir damals erklärt hatte, aufgegeben, weil immer mehr deutsche Verlage für ihre Publikationen auf die Verwendung und Bearbeitung von Stockphotos umgestiegen waren. Oder sie verwendeten von bestehenden Grafiken nur Teilmotive, was für die Agentur offenbar immer unrentabler geworden war. Vieles im Grafiksektor entsteht heutzutage schnell und billig. Der Markt existiert, aber er hat sich innerhalb kurzer Zeit sehr verändert, was das Wirtschaftskonzept vieler klassischer Grafikagenturen leider obsolet gemacht hat.

 

Fantasyguide: Auf dem Ersten virtuellen Literaturcon stelltest Du auch gleich noch Deinen nächsten Roman vor, der im Frühjahr erscheint: »Der Garten des Uroboros« baut den Kurzroman Das Königreich der Tränen aus der Weltuntergangs-Anthologie 2012 – T minus Null aus. Epitaph etwa hieltest Du für auserzählt. Woran machst Du es fest, ob sich ein Stoff für eine Erweiterung eignet?

 

Michael Marrak: Das kann einerseits projektspezifische Gründe haben, andererseits aber auch das Bedürfnis sein, eine gute, aber seinerzeit schlecht oder unbeholfen umgesetzte Idee zu verbessern.

»Das Königreich der Tränen« ist allerdings kein Kurzroman, den ich nachträglich zu einem vollwertigen Roman ausgebaut habe, sondern ein in sich abgeschlossenes UROBOROS-Outtake. Es erzählt leicht gekürzt zwei seiner vier Romanhandlungsstränge. Der UROBOROS erscheint aufgrund der Verzögerung des KANONS allerdings erst im Herbst. Ich halte es für wenig sinnvoll, in zwei Monaten gleich nochmal einen neuen Roman zu veröffentlichen, während das Hauptaugenmerk noch auf dem ersten liegt.

EPITAPH hingegen ist ein Rework von SADEK. Im Grunde habe ich die Novelle damals mit den mir heute zur Verfügung stehenden stilistischen Mitteln und Möglichkeiten fast noch einmal komplett neu geschrieben und dabei auch erweitert. Ähnlich lief es 2002 mit »Imagon«, als Frank Festa gebeten hatte, meine Novelle Der Eistempel zu einem Roman für seine Lovecraft-Reihe auszubauen.

 

Fantasyguide: Der »Kanon« gilt zwar als im Dezember 2017 erschienen, wird aber wohl mit »Uroboros« zum SF-Jahr 2018 gezählt werden. Im Januar bereits gibt es eine erste Lesung im Berliner Otherland – was wird Dein phantastisches 2018 sonst noch bringen?

 

Michael Marrak: Neben der bereits angesprochenen EXODUS-Bildergalerie erscheint im März eine neue Erzählung in der von Christian von Aster herausgegebenen Anthologie BOSCHS VERMÄCHTNIS, die Hieronymus Boschs Altar-Triptychon Der Garten der Lüste zum Thema hat. Ebenfalls im Frühjahr gibt es eventuell auch noch eine Kurzgeschichte in einer spanischen Anthologie. Dafür habe ich aber noch keine endgültige Bestätigung (erfolgt erst Ende Januar), und noch kein fixes Erscheinungsdatum. Irgendwann zwischen März und Mai, schätze ich.

 

Ansonsten schwebt gerade nur noch die (geplante) neue STELLARIS-Kurzgeschichte im Raum, welche entweder in PR 2064 (August) oder in PR 2072 (Oktober) erscheinen könnte. Vor einigen Wochen erhielt ich zudem ein Angebot, vor dem ich im ersten Moment zurückgeschreckt war, nach ein wenig Bedenkzeit aber finde, dass es eigentlich eine ganz witzige Sache werden könnte. Bevor ich zuzusagen und diesen Roman angehen kann, benötige ich von Verlags- und Redaktionsseite jedoch erst einen Berg an Hintergrundinformationen. Die letzten beiden Projekte befinden sich noch in der Brainstorm- und Konzeptphase.

Theoretisch könnte Ende des Jahres sogar noch der erste der beiden Kurzgeschichtenbände erscheinen, aber die Betonung liegt auf »theoretisch«.

 

Fantasyguide: Hast Du daneben noch Zeit für weitere Projekte?

 

Michael Marrak: Ich bin mit denen, die in der Pipeline für 2018 und 2019 stecken, recht ausgelastet. Falls sich dennoch etwas Neues dazwischen drängeln sollte, dann eher unvermutet.

 

Fantasyguide: Zum Abschluss, quasi aus Tradition: Was wünschst Du Dir für Deine Zukunft?

 

Michael Marrak: Eine Wohnung mit Badewanne. ;-)

 

Fantasyguide: Vielen Dank für das Interview!

 

Michael Marrak: Ich habe zu danken!

 

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Buch:

Der Kanon mechanischer Seelen

Autor: Michael Marrak

gebundene Ausgabe, 725 Seiten

Amrûn, 2017

Cover und Illustrationen: Michael Marrak

 

ISBN-10: 3958692575

ISBN-13: 978-3958692572

 

Erhältlich bei: Amazon

 

Kindle-ASIN: B071S5JHV8

 

Erhältlich bei: Amazon


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Erstellt: 30.01.2018, zuletzt aktualisiert: 04.11.2023 19:35, 16447