Die Vampire von Kim Newman
Anno Dracula | Der Rote Baron | Dracula Cha-Cha-Cha
Rezension von Christian Endres
Eine Gute Sache hat der ausgeblutete Vampir-Trend in Sachen Fantasy-Literatur ja: Ein paar Genre-Klassiker mit Draculas bissig-literarischer Verwandtschaft kommen zu einer wohlverdienten deutschen Neuauflage. Letztes Jahr hat uns Heyne so George R. R. Martins »Fiebertraum« als Paperback-Neuauflage serviert – dieses Jahr ist Kim Newmans Anno Dracula-Reihe dran.
Ein Festmahl für alle, die schon Anfang der 1990er von der Idee begeistert waren, dass der alte Graf Dracula am Ende doch überlebt hat und als Prinzgemahl Britanniens zurückkehrt und im viktorianischen London eine blutsaugende Vampir-Dynastie begründet. Oder dass Dracula der wichtigste Berater des deutschen Kaisers im Ersten Weltkrieg wird und auch im mordgeplagten Rom der späten 50er auf der Matte steht. Newman spielt mit fiktiven und literarischen Figuren, macht Jack the Ripper zum Vampirmörder mit Silbermesser, Edgar Allan Poe zum Vampir-Biografen, Manfred von Richthofen zur mutierten Riesenfledermaus und lässt Orson Welles und Co. zu Draculas Hochzeit in Rom antanzen, wo auch ein Mr. Bond anwesend ist. In diesem Fall ist das Vergnügen mit der Neuauflage allerdings gleich doppelt schön: Denn hinter »Die Vampire« verbirgt sich nicht nur die Neuauflage der Teile eins und zwei von Newmans außergewöhnlicher Reihe, sondern auch erstmals der dritte Band auf Deutsch.
Alles begann mit einer Idee, von der Newman seinem Kollegen Neil Gaiman schon 1984 erzählte. 1988 schrieb er dann die Kurzgeschichte »Red Rain« (dt. als »Dracula A. D.« in »Das große Horror-Lesebuch Bd. 3«, Goldmann). Aus dieser wiederum formte er Anfang der 90er »Anno Dracula«, den ersten Roman der Trilogie (1992-1998), die Heyne nun im Paperback gesammelt hat. Nachdem Festa in der ersten Ausgabe des Paperback-Magazins Omen »Das Schloss in der Wüste« veröffentlicht hat, sind nur noch drei der vier Kurzgeschichten des Dracula-Zyklus von Jack-The-Ripper-Experte Newman unveröffentlicht. Doch auch mit diesem fetten Sammelband hat man so schon genügend Freude.
Ob Orson Welles und Ernest Hemingway in Rom, die von Richthofens in der französischen Pampa, Poe als Vampir im Prager Ghetto, Churchill als neuerweckter Vampir-Minister, oder Jack the Ripper, Dr. Jeckyll, Sherlock Holmes und Lestrade oder der Lone Ranger im viktorianischen Weltbild – Kim Newman geizt in seinen drei Romanen nicht mit Anspielungen auf reale und fiktive Personen. Der Reiz des daraus resultierenden intertextuellen Suchspielchens ist gigantisch. Wer also schon die Werke von z. B. Alan Moore mochte, der wird an Newmans Trilogie seine wahre Freude haben und gar nicht mehr aus dem Staunen heraus kommen, zumal Meta-Newman auch in seinem eigenen Universum fröhlich mit Namen und Personen spielt, wie seine mannigfaltig (z. B. in seinen Warhammer-Romanen als Jack Yeovil) eingesetzte Vampir-Dame Geneviéve beweist.
Nur zwei Dinge trüben den 1280 Seiten starken Blutwein aller feinster Güte: Zum einen fehlt irgendwie ein bisschen das Wappen, welche die deutsche Taschenbuchausgabe Mitte der Neunziger noch geziert hat – und zum anderen macht die überragende Qualität von Newmans drei in diesem Band zusammengefassten Romanen wieder schmerzhaft bewusst, wie sehr der lange versprochene, neuzeitliche vierte Teil der Geschichte gefallen könnte.
Verzeiht man ein paar kleinere Durchhänger im zweiten und dritten Teil, kann man Newmans einzig wahres Vampir-Epos als Fan kluger, anspruchsvoller fantastischer Literatur eigentlich nur anbeten.
Lang lebe Dracula? Pah. Lang lebe Kim Newman!
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