Clive Barker's Der Dieb der Zeit
 
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Clive Barkers Der Dieb der Zeit

Rezension von Christian Endres

 

»The great gray beast February had eaten Harvey Swick alive.«

 

Geht eine Horror-Kurzgeschichte trotz aller Modernität dergestalt poetisch und wortgewaltig los, dann gibt es meiner Meinung nach nur drei zeitgenössische Schriftsteller (der Phantastik), die sie geschrieben haben können: Ray Bradbury, Neil Gaiman oder Clive Barker. Im vorliegenden Fall stammt der erste Satz des Buches von letzterem, also Universal-Talent Barker, seines Zeichens Schriftsteller (Bücher des Blutes), Regisseur und Drehbuchautor (Hellraiser) und neuerdings auch traditionell-erfolgreicher Weltenschöpfer, Kartograph, Chronist und Maler (Abarat). Nicht nur die Disney-Studios haben das Potential von Barkers Geschichten erkannt, als sie die Rechte an Abarat einkauften, um Barkers Phantasiewelt mit Kinoverfilmungen und Lizenzprodukten bald schon C. S. Lewis’ Narnia-Boom folgen zu lassen. Doch schon vor knapp zwei Jahren und dem Disney-Deal um Abarat (eine völlig andere Baustelle, im Übrigen) gingen Skripter Kris Oprikso und Zeichner Gabriel Hernandez heran und adaptierten und inszenierten Barkers Kurzgeschichte The Thief of Always (hierzulande als Das Haus der verschwundenen Jahre [Heyne] bzw. Der Dieb der Zeit [Edition Phantasia] erschienen) aus dem Jahre 1992 als Comic in drei Teilen, der nun von Ehapa als umfangreicher Hardcover-Sammelband herausgegeben worden ist, um die trostlose Zeit mit der großen grauen Bestie Februar besser zu überstehen ...

 

Harvey Swicks kindlichem Gemüt tut der triste Februar nicht gut. Der ewig gleiche Trott – Schule, Heimweg, in seinem Zimmer beschäftigen, Hausaufgaben, und so weiter, und so fort – dieses gefährlichen Monats lastet schwer auf seiner Seele, die sich nach Unbekümmertheit, Spiel und Spaß und Freiheit sehnt. Seinen Hilfeschrei und seine Unzufriedenheit locken bald schon einen seltsamen Gast an, der plötzlich in Harveys Zimmer auftaucht: Den geheimnisvollen Mister Rictus.

 

Dieser wiederum bietet Harvey die einmalige Chance, dem Sog des eisengrauen Februars zu entkommen. Dazu muss sich Harvey allerdings entscheiden, ob er dem seltsamen Rictus vertrauen und ihm ferner zu einem ganz bestimmen Ferienhaus am anderen Ende der Stadt folgen möchte, das durch eine verzauberte Mauer von der Außenwelt abgeschnitten wird – und wo dank der Zaubermacht von Mr. Hood alle Wünsche wahr zu werden scheinen ...

 

Der zauberhafte Schwung des Anfangs, gewissermaßen der runderneuerte Charme von Alice im Wunderland, verfliegt zur Mitte des Comics hin ein wenig. Wenn wir mit Harvey das Ferienhaus erkunden und uns langsam aber sicher dessen Tücken und subtilen Teufeleien (und ganz besonderen vier Teufeln) nähern, weiß das Tempo der Geschichte nicht immer zu gefallen, während die Ereignisse – und Jahreszeiten – hinter der Mauer vor der Wirklichkeit ihren Lauf nehmen und das magisch-dämonische Grauen des Anwesens langsam wie Nebel aus dem Bund des Comics kriecht und sich über die Seiten ausbreitet ...

 

Glücklicherweise fängt sich die Story wieder, und es geht Schlag auf Schlag weiter: Steht der Entschluss, die trügerische Idylle des seelenraubenden Paradieses zu verlassen, nämlich erst einmal, rückt sich die Geschichte wieder wie von selbst in die Spur zurück und steuert wie eine schnaubende, rußig-dunkle Dampflokomotive auf das große Finale zu, wo Harvey tapfer den Kampf mit Rictus und dessen unheiligen Geschwistern, aber eben auch dem mysteriösen Mr. Hood – und damit dem Haus der verschwundenen Jahre selbst – aufnehmen muss ...

 

Gabriel Hernandez’ Bilder leben von dem eigenartigen Zwiespalt, der ihnen inne wohnt: Auf der einen Seite hat sein Artwork keine Probleme damit, einen fliegenden gelben Mann mit Zylinder darzustellen und dem Betrachter als reale, völlig plausible Begebenheit zu verkaufen – auf der anderen Seite wirkt es spätestens ab der Gestaltung des Ferienhauses sehr surreal und verschwommen. Hernandez’ verwaschener Strich hat zwar den Blick für Details, lebt aber dennoch auch bis zu einem gewissen Grad vom Verschleierten, vom Nebelhaften und Hintergründigen, der auch einmal eine Interpretation zulässt oder nicht jeden Strich konsequent zu Ende führt. Es ist der ideale Zeichenstil, um eine subtile Horrorgeschichte für Kinder und Jugendliche aus der Feder von Clive Barker zu visualisieren. Figuren, Hintergründe, Zwischentöne – es sieht alles sehr phantastisch aus, und das im doppeldeutigen Sinn des Wortes. Kein Wunder jedenfalls, dass Barker im Interview von Hernandez’ Artwork nur so schwärmt und sich über die weitere Zusammenarbeit mit dem Künstler freut, während man als Fan und Leser nur hoffen kann, dass man diesen auch als Storybord-Zeichner für die geplante Verfilmung der Geschichte mit an Bord nehmen und Einfluss auf das Design des Films nehmen lassen wird ...

 

Die Aufmachung des 144 Seiten starken Ehapa-Hardcovers muss sich trotz gewohnt solider Verarbeitung dieses Mal den ein oder anderen Kritikpunkt gefallen lassen und überzeugt nicht ausnahmslos: So ist das Format nicht zwingend lesefreudig, wenn die Schrift so verspielt und verschnörkelt ist wie beispielsweise im Fall von Mr. Hood. Manchmal ist der Hintergrund der Textkästen zudem etwas zu dunkel, die Schrift eben auch zu unklar – da ist das Entziffern des Gesprochenen nicht immer ganz einfach. Auch tut sich »Clive Barker’s Der Dieb der Zeit« nicht gerade durch die schönste aller Covergestaltungen in der Geschichte der Comicliteratur hervor – da wäre definitiv mehr drin gewesen, selbst wenn man nur das Originalcover zum ersten US-Heft genommen hätte. Ansonsten trösten tolles, dickes Papier, die stabile Verarbeitung und vor allem die schönen Extras im Anschluss an die eigentliche Geschichte – etwa ein sehr aufschlussreiches Interview mit Barker oder eine kleine Galerie mit Skizzen und Kommentaren von Gabriel Hernandez– sehr schön über diese ungewohnten Schwächen hinweg und machen einiges wieder gut.

 

Fazit: Kris Oprisko ist es gelungen, die schwarze Magie von Barkers Kurzgeschichte The Thief of Always in das Medium Comic zu übertragen, ohne der Story ihre Leichtigkeit oder ihren düsteren Grundton zu nehmen. Gabriel Hernandez’ verwaschene Bilder tun schließlich ihr übriges dazu, den tiefdunklen Bass dieses Zerrbilds einer »Carollnesquen« Kindergeschichte als stimmige Comic-Version aufs Papier zu bannen.

 

Ein düsteres Märchen in passend düsteren Bildern, Farben und Worten – und damit die fast perfekte Adaption eines wieder einmal recht surrealen Werks des wohl vielseitigsten Horror-Schriftstellers unserer Zeit.

 

Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240425174334bedf4d35
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Comic:

Der Dieb der Zeit

Autor: Clive Barker

Skript: Kris Oprisko

Zeichner: Gabriel Hernandez

Verlag: Ehapa Comic Collection

Hardcover-Album, 144 Seiten

Sprache: Deutsch

ISBN-Code: 9783770430581

Erhältlich bei Amazon


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Erstellt: 03.02.2007, zuletzt aktualisiert: 11.04.2024 08:09, 3441