Das graue Meer Teil 2 (Autor: Sebastian Schenk)
 
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Das graue Meer Teil 2

Autor: Sebastian Schenk

 

Sand im Stundenglas

 

23

 

Sie befanden sich auf einer verschneiten Landstraße. Die Tür, durch die sie gegangen waren, war verschwunden. Stattdessen befand sich dort ein hoher Baum. Die Strasse, die nicht viel mehr als ein schmaler Weg für Pferdewagen war, schlängelte sich durch eine verschneite Landschaft. Den Weg säumten dunkle, hohe Tannen und verkrüppelte Laubbäume. Es schneite beständig und war ziemlich kalt. In einiger Entfernung war ein schwaches Licht zu erkennen. Sie bewegten sich auf das Licht zu. Sie konnten schon die Umrisse eines Hauses und Rauch aus dem Schornstein erkennen, da blieb Martin plötzlich stehen. „Seid leise!“ Er hob seine Hand. Kiro hörte nichts, außer dem Pfeifen des Windes. Aber, als es eine Weile still war, hörte er noch etwas. Ein leises Wimmern. Es war nicht zu bestimmen, ob es von einem Menschen oder von einem Tier stammte. Kiro und Martin verließen den Weg und gingen ein Stück in Richtung des Geräusches. Nach kurzem Suchen fanden sie den Ursprung des Wimmerns. Es war ein kleiner, etwa siebenjähriger Junge, der sich in einem Erdloch verkrochen hatte und vor Kälte zitterte. Sein Gesicht konnte Kiro nicht erkennen. Es war verkrustet von Erde und Schnee. Martin reichte dem Jungen seine Hand, aber dieser hatte die Augen geschlossen und sah ihn nicht. Also hoben ihn Martin und Kiro aus dem Erdloch. Mit dem Jungen unter dem Mantel kehrten Kiro und Martin zu den anderen zurück, die über diesen ungewöhnlichen Fund ziemlich erstaunt waren. Gemeinsam setzten sie ihren Weg zum Haus fort. Bald darauf langten sie an dem altertümlichen Fachwerkhaus an. Es war offenbar ein Gasthaus. Über der Tür hing ein Schild mit dem Namen: „Zur Laterne“. Passend dazu hing daneben eine leicht im Wind schwankende Metalllaterne. Martin klopfte. Er wartete einen Moment, doch nichts geschah. Da klopfte er ein zweites Mal. Diesmal länger und stärker. Hinter der Tür waren Schritte zu hören. Langsame Schritte.

Ein Schlüssel wurde im Schloss herumgedreht und die Tür öffnete sich mit einem leisen Quietschen. Vor ihnen stand eine Frau mittleren Alters. Sie hielt eine Laterne in der Hand. Die Kerze darin flackerte leicht. Eines der Gläser war gebrochen und so kam Wind herein. Der schwache Schimmer ließ kaum mehr von ihr erkennen als einen alten, abgetragenen Umhang, dessen Farbe kaum mehr zu bestimmen war. In der anderen Hand hielt sie einen rostigen Schlüssel. Die Frau musterte sie kurz und fragte dann mit gedämpfter Stimme: „Was wollt ihr hier? Es ist spät und meine Gäste schlafen bereits.“ In diesem Moment fiel der Blick der Frau auf den Jungen, der dicht bei dem Stillen stand und dessen Zähne vor Kälte klapperten. Mitleid keimte in ihren Augen. „Ihr habt ein Kind dabei? Bei dieser Kälte? Kommt herein, ich lege etwas Holz im Kamin nach.“

Sie ging beiseite und sie traten ein. Auf zwei altertümlichen Holzbänken vor einem gemauerten Kamin ließen sie sich nieder. Die Frau verriegelte die Tür und kam herüber. Aus einer Nische holte sie ein paar dicke Holzscheite und legte sie auf die Glut im Kamin. Kiro sah sich im Raum um. Außer zwei Tischreihen aus grobem, unbearbeitetem Holz und ein paar Bänken gab es in dem Raum noch eine Theke, hinter der allerlei Krüge, Holzlöffel und anderes Kochgerät hing. Auch einige große Holzfässer standen an der Wand. Im schummerige Licht, dass zwei dicken Kerzen auf dem Tisch spendeten, ließ sich nicht viel mehr erkennen. Eine Treppe neben der Theke führte in die obere Etage. Als die Flammen langsam an dem neuen Holz nagten, konnte man auch einen großen, vom Ruß geschwärzten Kessel über dem Feuer erkennen. Er hing an mehreren Ketten in dem hohen, gemauerten Kamin. „Essen kann ich euch leider keins mehr anbieten.“ Die Stimme der Frau war nun um einiges freundlicher. Sie schien aber immer noch etwas misstrauisch zu sein, denn sie hielt noch deutlich Abstand zu den Neuankömmlingen. Mit neugierigen Augen betrachtete sie das Kind, das, an den Stillen gelehnt, inzwischen eingeschlafen war. „Ist das Deins?“ Sie sah ihn neugierig an. Der Stille wollte schon den Kopf schütteln, besann sich dann aber und nickte. „Wo kommt ihr überhaupt her?“ Sie kniff leicht die Augen zusammen. „So wie ihr ausseht, kommt ihr nicht von hier. Solche Kleider wie eure habe ich noch nie gesehen.“ Kiro wollte gerade anfangen etwas zu sagen, da fiel ihm Martin ins Wort. „Wir kommen von einem Ort namens Eschnak und sind auf der Durchreise. Bei dem vielen Schnee haben wir die Orientierung verloren. Könnt ihr uns sagen, wo wir hier sind?“ Er versuchte ihr zuzulächeln, was ihm aber nur mäßig gelang. Die Frau schien es gar nicht bemerkt zu haben und Martins Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie entspannte sich und wurde ruhiger. „Ihr seid im westlichen Neuntälerwald unweit des Karnu-Flusses. Zwei Tagesreisen nördlich von hier befindet sich die Eisenfestung. Wenn ihr euch westlich haltet, dann könnt ihr in einer Woche das Meer und die Hafenstadt Sund erreichen. Mit euren geringen Vorräten werdet ihr aber nicht weit kommen und in der Eisenfestung der Zauberin könnt ihr kaum mit Hilfe rechnen. Wegen des Kindes will ich euch eine Nacht hier ausruhen lassen, aber morgen müsst ihr weiter. Die Wächter der Zauberin sehen nicht gerne Fremdlinge. Ihr könntet leicht im Gefängnis enden. Neuigkeiten verbreiten sich hier schnell.“ Sie ging hinter die Theke und holte ein paar alte Decken hervor. „Die könnt ihr benutzen. Wenn euch etwas an eurem Leben liegt, dann seid ihr aber morgen früh verschwunden. Die Zauberin ist gerecht, aber auch sehr grausam.“ Die Frau hatte sich schon zum Gehen umgewandt, als sie doch noch einmal zurückkam. „Und lasst es euch nicht einfallen etwas von dem Bier zu trinken. Im Fass neben der Treppe ist Wasser. Davon könnt ihr nehmen.“ Sie ging davon und schlich leise die Treppe hinauf.

Kiro, Wartins, Martin und den Stillen ließ sie verwirrt am Feuer zurück. Nachdem die Vier eine ganze Weile so dagesessen hatten, und ihnen langsam wieder warm wurde, brach Wartins schließlich das Schweigen. „Das kann alles gar nicht wahr sein! Das ist Wahnsinn. Die Dinge werden immer absurder. Jetzt scheint es fast so, als ob wir in einem Märchen wären. Mit Wäldern, Burgen und einer Zauberin. Kommt euch das nicht alles ziemlich verrückt vor?“ Mugh nickte zustimmend. Der Stille stand auf und nahm sich eine der Decken. „Ich denke, wir sollten ihren Rat erst nehmen und möglichst bald wieder von hier verschwinden. Ob verrückt oder nicht. Die Kälte ist real und wir sollten etwas schlafen, bevor es morgen weiter geht.“ Er machte für sich und den Jungen, der noch immer tief und fest schlief, ein Nachtlager in der Nähe des Feuers zurecht und legte sich hin. Der Boden war steinhart, aber für diese eine Nacht war es besser als draußen im Schnee zu liegen. Wartins und Mugh legten sich auch bald hin, während Kiro und Martin noch eine Weile miteinander redeten. Sie untersuchten den Raum näher und fanden eine kleine versteckte Tür zu einem angrenzenden Raum, der wohl eine Art Gebetsraum war. Er war unverschlossen und in seinem Inneren befanden sich prachtvolle Bilder und andere reich verzierte Kunstwerke. Hier stand alles in völligem Kontrast zu der Kargheit im Wirtschaftsraum. Auf einem kleinen, silbrig schimmernden Altar lagen in einer Schale ein paar Münzen und ein grüner Stein, der so aussah, als wäre er ziemlich wertvoll. Martin wollte danach greifen um ihn sich näher anzuschauen, aber Kiro hielt ihn zurück. „Warte, hier stimmt was nicht. Ich denke, wir werden beobachtet.“ Sie sahen sich weiter um. Über dem Altar an der Wand befand sich das Bild einer wunderschönen Frau. Lange, dunkle Haare umspielten ein fein geschnittenes Gesicht. Sie war in ein prachtvolles Gewand gehüllt und in ihrer Hand hielt sie einen kurzen Stab, dessen Spitze zum Himmel zeigte. Hinter ihr waren eine karge Wüste und ein blutroter Himmel zu sehen. So schön sie auch war, ihre blauen Augen blickten ausdruckslos in die Ferne. Einen kurzen Augenblick glaube Kiro in ihnen etwas leuchten zu sehen. Zwei einfache Kerzen in Metallhalterungen an der Wand spendeten hier ein wenig Licht und er schob den Eindruck auf ihr Flackern. Die Sauberkeit war beeindruckend. Nur ein alter Holzhocker, der umgekippt in der Ecke lag, trübte die Ordnung etwas. Es gab keine Fenster, was dem Ganzen einen noch geheimnisvolleren Charakter verlieh. Nachdem sie sich eine Weile umgesehen hatten, beschlossen sie ebenfalls ein wenig zu schlafen, teilten aber vorher noch Wachschichten ein. In dieser Nacht schlief Kiro unruhig. Er träumte wieder:

 

In seinem Traum sah er Nadja. Sie kämpfte mit einem unsichtbaren Gegner. Er hatte sie schon verletzt. Überall an ihrem Körper klafften Wunden. Noch schien sie Kraft zu haben und der Kampf dauerte an, doch sah es so aus, als ob der Gegner ihr immer wieder entwich. Auf einmal drehte Nadja sich zu Kiro um und sah ihm in die Augen. „Sucht Nalataja, geht zur Festung und bringt das Opfer. Ich werde euch solange vor Ihm schützen. Aber beeilt euch. Er ist stark und ich kann ihn nur für eine Weile aufhalten.“ Sie lächelte. „Hab keine Angst, wir werden uns wieder sehen.“ Nadjas Gesicht begann zu verblassen. Das letzte, was Kiro hörte, war ihr schmerzerfüllter Schrei aus der Ferne.

 

24

 

Am nächsten Morgen war es Martin, der alle Anderen weckte. Die Sonne ging gerade auf und nachdem sie das Nachtlager aufgeräumt hatten, rafften sie ihre Habseligkeiten zusammen, bereit aufzubrechen. Ihre Gastgeberin hatte ein paar Vorräte und eine handgezeichnete Straßenkarte auf einen der Tische gelegt. Es lagen noch zwei alte, löchrige Decken dabei, die sie auch mitnahmen. Ein Blick aus dem Fenster ließ ihren Mut sinken. Über Nacht hatte es weiter geschneit und jetzt lag alles unter einem noch dickeren Teppich aus Schnee. Von den Bäumen rings um das Haus war kaum mehr das Grün zu erkennen. Als sie aus der Tür traten, wehte ihnen ein kühler Wind entgegen. Zwar war es nicht so kalt wie gestern, aber ein Spaziergang würde es trotzdem nicht werden. Auf der Karte der Gastwirtin waren die Wege zur Festung und zum Meer eingezeichnet. Da allen klar war, dass sie bei diesem Wetter nicht eine Woche durchhalten würden, beschlossen sie, sich auf den Weg zur Festung zu machen. Auf der Karte war hier nur ein kleiner Turm eingezeichnet. In kryptischen Buchstaben stand etwas daneben, was aber keiner von ihnen entziffern konnte.

Wie erwartet war das Vorankommen mühsam. Sie wechselten sich an der Spitze mit dem anstrengenden Vortreten der Spuren ab. Der Weg war zunächst eben und verlief zwischen den Bäumen in sanft geschwungenen Kurven. Später stieg er leicht an und so mussten sie häufiger pausieren. Sie sprachen trotz der Anstrengung viel miteinander, da ihre Neugierde groß war, was wohl hinter all dem stecken könnte. Sie kamen mehrfach an Kreuzungen und Gabelungen vorbei. An manchen Bäumen waren Wegweiser und Markierungen angebracht.

Gegen Abend blieb Martin, der gerade an der Spitze ging, plötzlich stehen. „Hört ihr das auch?“ Die Gespräche verstummten. Alle spitzten die Ohren und versuchten herauszufinden, was Martin meinte. Der Stille hörte es zuerst. Das leise Klingeln einer Glocke war zu hören. Der Weg machte etwa hundert Meter weiter vorne eine Rechtskurve und so konnten sie nicht erkennen, was die Ursache des Geräuschs war, aber es schien direkt von dort zu kommen. Sie beschlossen, sich hinter ein paar dick verschneiten Bäumen zu verstecken und abzuwarten. Nach einer Weile wurde das Klingeln lauter und andere Geräusche kamen hinzu. Schließlich bog die Ursache der Geräusche um die Kurve und in ihrem Versteck konnten sie sehen, was da auf sie zukam. Es war ein Fuhrwerk, gezogen von zwei riesigen Tieren, die je drei Höcker hatten. Sie stießen große Wolken warmer Atemluft aus. Auf den ersten Blick wirkten sie furchteinflößend. Auf dem Wagen saß ein Mann, der mit einer Peitsche die Tiere antrieb. Er hieb dabei immer wieder heftig auf sie ein. Auf der Ladefläche seines Wagens standen ein paar Fässer und einige Ballen die dick verschnürt waren. Man konnte nicht erkennen, was sie enthielten. Der Grund des Bimmelns war eine kleine Glocke, angebunden an der Seite des Wagens, die bei jeder Bewegung mitschwang. Aber nicht nur sie, sondern auch der Mann auf dem Wagen schwankte hin und her und es sah so aus, als ob er ziemlich betrunken wäre. Er hatte etwas Zigarettenähnliches im Mund und ein großer Hut saß schief auf seinem Kopf, sodass man sein Gesicht nicht erkennen konnte. Mugh wollte in seinem Versteck vor Begeisterung schon aufspringen und zu dem Wagen laufen, aber Martin hielt ihn zurück. Er fand nicht, dass der Fremde besonders vertrauenswürdig aussah. Erst als der Karren vorüber und das Klingeln kaum mehr zu hören war, kamen sie wieder hinter den Bäumen hervor. „Das muss ein Händler gewesen sein.“ Mugh war ganz aufgeregt. „Also sind hier in der Nähe vielleicht noch viel mehr Menschen.“ Diese Aussicht schien ihm neuen Mut und Kraft zu verleihen, denn ab jetzt stapfte er deutlich schneller voran als vorher. Martin war diese Begegnung immer noch nicht ganz geheuer und bis zum Abend setzte er seinen Weg schweigend fort. Ihr Nachtlager bereiteten sie sich unter ein paar dicht stehenden Bäumen wo bisher kaum Schnee gefallen war. In der folgenden Nacht schlief niemand so richtig, denn trotz der alten Decken war es eisig kalt. Der Junge fror am meisten. Gegen Morgen weckte das Klappern seiner Zähne den Stillen, der ihn mit einer Decke eng umwickelt und sich selbst wärmend dazugelegt hatte. Für Kiro war es eine traumlose Nacht.

Weil alle froren, setzten sie beim ersten Tageslicht feucht und übermüdet ihre Reise nach einem kurzen Imbiss fort. Die Stunden des Tages zogen sich endlos dahin, während sie durch immer neue Schneefelder zogen. Bald sprach kaum mehr jemand. Gegen Mittag, als sie um eine weitere Biegung des Weges kamen, konnten sie einen ersten Blick auf die Festung werfen. Sie lag vor ihnen auf der Spitze einer bewaldeten Anhöhe. An ihrem Fuß ragten steile Felsen auf. Der Weg stieg weiter an, da sie aber jetzt das Ziel vor Augen hatten, schien es nicht mehr ganz so anstrengend. Der Schnee wurde ständig weniger, je näher sie der Festung kamen und auch die Temperatur schien anzusteigen. Am späten Nachmittag waren sie so nah gekommen, dass sie erste Details erkennen konnten. Eine etwa 30 Meter hohe Mauer umgab eine hoch aufragende Ansammlung von Türmen und Türmchen. Der graue Stein, aus dem die Festung bestand, war auf den ersten Blick glatt und ohne Fugen. Die Oberfläche spiegelte leicht. In regelmäßigen Abständen wurde die Mauer von Wachtürmen unterbrochen und an der ihnen zugewandten Seite ragte ein großes Tor auf. Abends, kurz vor Sonnenuntergang kamen sie endlich an der Eisenfestung an.

Hier lag gar kein Schnee mehr und von dem Bauwerk ging eine unwahrscheinliche Wärme aus, sodass sie das erste Mal seit ein paar Tagen ihre Mäntel auszogen. Der Weg hatte auf den letzten hundert Metern einen durchaus gepflegten Eindruck gemacht, und war vor dem Tor in eine Rampe übergegangen. Jetzt standen sie unmittelbar vor einem tiefen Graben. Vor dem großen Tor auf der anderen Seite war eine Zugbrücke heraufgezogen. Bei näherer Betrachtung stellte sich jetzt heraus, dass die Oberfläche der Mauern von Metallplatten bedeckt war, die nahtlos ineinander übergingen. Vermutlich aus demselben Metall bestand ein Pfahl, der am Ende der Rampe direkt neben ihnen stand. An seinem Ende befand sich ein kleines Kästchen. Ein blauer Knopf war vorne angebracht und darunter ein Gitter. Es sah so aus, als handelte es sich hierbei um ein Gerät zur Kommunikation. Während die Anderen noch die Festung bestaunten, drückte der Stille auf den Knopf.

 

Erst passierte nichts, aber nach ein paar Sekunden war ein leises Knistern aus dem Kasten zu hören. Es wurde stetig lauter und mit einem Mal vernahmen sie eine deutliche Stimme. Es war nicht auszumachen, ob sie männlich oder weiblich war. Eher hörte es sich nach einer künstlichen Stimme an. „Passworteingabe! Sie haben drei Versuche übrig!“ Sie sahen sich verständnislos an. „Hat irgendjemand von euch eine Ahnung, was das für ein Passwort sein könnte?“ Die Anderen waren inzwischen herangekommen, aber als Martin sie fragte, konnten sie nur mit den Schultern zucken. Während sie noch überlegten, meldete sich die Stimme aus dem Kasten wieder. „Eingabe innerhalb von 10 Sekunden erforderlich!“ Nun begann sie mit einem Countdown von 10 abwärts. „Wir sollten uns lieber schnell was überlegen.“ Kiro drängte zur Eile. Gerade hatte die Stimme die „2“ erreicht und war nun bedrohlich laut geworden, da beugte sich der Stille herunter. „Nalataja“, sprach er laut in den Apparat.

Ein leises Klicken war zu hören, dann wieder nur Rauschen. Etwa 2 Minuten vergingen, bis sich die Stimme wieder meldete. „Falsche Eingabe! Noch zwei Versuche übrig!“ Ratlos sahen sie sich an. Keiner hatte auch nur den Ansatz einer Idee. Wieder begann die Stimme mit dem Countdown. Sie zählte nun deutlich schnell. Martin wollte gerade etwas sagen, als die Stimme bei „0“ angekommen war und lauthals verkündete: „Falsche Eingabe! Noch ein Versuch übrig.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Achtung, Lebensgefahr. Dreimalige Falscheingabe führt zur unmittelbaren Vernichtung!“ Mugh wurde bleich, aber Kiro dachte immer noch angestrengt nach. „Wollen wir uns nicht lieber erst mal ein Stück zurückziehen?“ Wartins trat ein paar Schritte zurück, den Blick fest auf einen dicken Baum in ihrer Nähe gerichtet. „Nein!“ Kiro war zum Kasten gegangen. Kurz darauf meldete sich die Stimme wieder. „Passworteingabe! Noch ein Versuch übrig!“ Noch bevor der Countdown wieder begann, sprach Kiro in den Apparat und sagte: „Passworteingabe!“ Der Apparat blieb stumm. „Was sollte das denn?“ Martin war entsetzt. „Glaubst du, dass das Teil Spaß versteht?“ Kiro sagte Nichts. Er wartete ab, was nun geschehen würde. Eine weitere Minute verging, ohne dass sich etwas tat. Wartins wollte schon erneut den Rückzug vorschlagen, als ein lautes, metallisches Poltern zu hören war.

Mit ohrenbetäubendem Lärm begann sich langsam die Zugbrücke zu senken. Martin sah Kiro erstaunt an und musste gegen den Lärm anbrüllen. „Woher hast du das gewusst?“ Kiro brüllte zurück, aber Martin konnte ihn nicht verstehen. Er beschloss es ihn später erneut zu fragen. Alle anderen hielten sich die Ohren zu und warteten bis die Zugbrücke ganz heruntergekommen war. Das dauerte eine ganze Weile. Man gewann den Eindruck, als ob das schon lange nicht mehr passiert war, denn die Ketten, an denen die Brücke befestigt war, hatten deutliche Spuren von Rost und Verfall. Mit einem dumpfen Schlag setzte sie auf der Rampe auf. Der Junge, der die ganze Zeit neben dem Stillen stand, sagte weiterhin kein einziges Wort. Nicht einmal die Ohren hatte er sich zugehalten. Der Stille dachte darüber nach, ob er vielleicht taubstumm war. Das war auf jeden Fall der seltsamste Junge, der ihm je begegnet war. Die ganze Zeit über hielt er sich zu dem Stillen.

 

25

 

Der Blick war nun frei auf einen großen Torbogen, der hinter der hochgezogenen Brücke verborgen gewesen war. Zu ihrer Überraschung prangten in großen Neonbuchstaben die Worte „Willkommen in der Spaßburg“ über dem Eingang. Die Buchstaben blinkten abwechselnd rosa und gelb. Eigentlich sah das ziemlich hässlich aus, fand Kiro. „Bin ich der Einzige, dem das hier ziemlich verdächtig vorkommt?“ Martin trat einen Schritt auf die Brücke. Sie schien zu halten. „Wir haben wohl kaum eine andere Möglichkeit.“ Kiro ging an ihm vorbei und die Anderen folgten ihm.

Unter ihren Schritten schwankte die Brücke leicht. Sie war so breit, dass sie bequem nebeneinander Platz hatten. Auf beiden Seiten ging es etwa 15 Meter in die Tiefe. Unten befand sich ein Geröllfeld. Einer nach dem Anderen ging unter dem Torbogen hindurch. Mugh kam als Letzter. In dem Moment, als er seinen Fuß von der Brücke nahm, begann sie sich wie von Geisterhand wieder zu heben. Im Inneren war der Lärm nun nicht mehr ganz so stark. Sie befanden sich nun in einem gemauerten Gang, der sich an das Tor anschloss. An der Wand waren Leuchtpfeile angebracht, die den Weg wiesen und den Gang geringfügig erleuchteten. Nachdem sich die Zugbrücke wieder gehoben hatte, war es ziemlich dunkel im Gang geworden. Nach ein paar Metern machte er eine leichte Biegung nach rechts und kurz darauf fanden sie sich auf einem weitläufigen und hellen Hof wieder. Vor ihnen erstreckten sich gepflegte Rasenflächen und gepflasterte Wege, die in Mustern das Gras durchzogen. An ihren Rändern wuchsen bunte Blumen und kleine Statuen von Fabelwesen standen vereinzelt herum. Jenseits der Wiese erhob sich die eigentliche Festung. Ihre Wände stiegen senkrecht auf und nur selten wurde die spiegelglatte Oberfläche von kleinen Fenstern durchbrochen. Am Fuß der Mauer entdeckte Kiro nur eine einzige, kleine Tür. Sie war aus dunklem Holz gefertigt und mit Metallbeschlägen verstärkt. Von weitem sah es so aus, als ob sie einen Spalt breit offen stehen würde. Während Mugh, der Stille und Wartins noch staunend durch den Garten streiften, waren Kiro und Martin zu der Tür gegangen. Vorsichtig schob Martin sie auf. „Scheint so, als ob wir hier weitergehen sollen. Einen anderen Weg kann ich nicht erkennen.“ „Ich denke wir sollten noch etwas den Garten erkunden, bevor wir weitergehen. Wenn sich diese Tür auch hinter uns schließt, gibt es kein Zurück mehr.“ Martin ließ Kiros Einwand gelten und so kehrten sie zu den Anderen zurück. Mugh kam ihnen schon entgegengelaufen. „Wir haben einen Brunnen entdeckt!“ Er war ganz aufgeregt. In seiner Hand hielt er einen prall gefüllten Wasserschlauch. Auf Gesicht und Umhang waren überall Wasserspritzer.

Am einen Ende des Halbmondförmigen Hofes befand sich an der Mauer ein riesiger Brunnen. Aus mehreren steinernen Tierköpfen schoss in dicken Strahlen kristallklares Wasser. Der Stille erzählte Kiro später, dass er Mugh eigentlich hatte aufhalten wollen das Wasser sofort zu trinken, aber dieser war losgestürmt, sobald er den Brunnen gesehen hatte. Fast war er hineingefallen, so stürmisch hatte sich Mugh das Wasser in den Mund geschöpft. Unterhalb der Köpfe befand sich ein halbrundes Becken, welches das Wasser auffing. Es war so groß, dass man sich hätte bequem hineinlegen können. Die eisige Kälte des Wassers hielt sie jedoch davon ab.

Während sich alle erfrischten erkundete Kiro unbemerkt weiter den Hof. Er wollte sehen, was sich am anderen Ende befand. Von Weitem schon sah er, dass sich dort auch ein Brunnen befand. Auf den ersten Blick entsprach er fast genau dem auf ihrer Seite. Er wollte sich gerade wieder abwenden, als ihm etwas auffiel. Das Wasser, das dieser Brunnen ausspie, schien seltsam anders zu sein. Als er näher kam, wehte ihm schon ein fauliger Geruch entgegen und je dichter er herantrat, desto schlimmer wurde es. Auch das Gras war hier nicht mehr saftig und grün, sondern hatte eine hässliche, gelbe Farbe. Die Gesichter der Tiere, welche die dunkle, stinkende Brühe verspritzten, waren auch nicht so fein in den Stein geschnitten wie auf der anderen Seite. Diese Tiere hier waren grobe, entstellte Fratzen und grinsten ihn hämisch an. In der Nähe des Beckens war der Geruch so stark, dass Kiro ihn sogar schon fast schmecken konnte. Für einen Moment atmete er unfreiwillig die Luft tief ein und sofort wurde ihm ganz übel und schwindelig. Er konnte sich gerade noch am Beckenrand festhalten, bevor er das Bewusstsein verlor und zu Boden sank.

 

Wieder sah er Nadja. Sie lag auf dem Boden und aus einer großen Wunde an ihrer Seite quoll Blut. Ihr Umhang war vom Kampf völlig zerrissen und Nadjas Augen waren geschlossen. Ihr Anblick erfüllte ihn mit tiefem Schmerz. Über ihr, einige Meter in der Luft, schwebte eine dunkle, unförmige Gestalt, die sich langsam auf sie herabsenkte. Kiro wollte schreien und zu seiner Überraschung vernahm er auch seine Stimme. Die dunkle Gestalt sah auf. Sie schien ihn gehört zu haben. Langsam stieg sie wieder auf und mit einem Mal war sie verschwunden. Kiro hörte eine leise, säuselnde Stimme. „Ihr könnt nicht entfliehen…“ Das Bild verblasste.

Jemand rüttelte an Kiros Schulter und langsam kam er wieder zu sich. Das Erste was er sah, war Martins Gesicht. „He Mann, wach auf! Was ist mit dir passiert?“ „Der Brunnen…“ Kiro konnte erst nur stammeln. „Welcher Brunnen?“ Martin sah ihn erstaunt an. Langsam setzte sich Kiro auf und sah sich um. Er lag auf dem Gras unweit dem anderen Ende des Hofes. Die Wand, an der sich eben noch der Brunnen mit dem übel riechenden Wasser befunden hatte, war kahl und keine Struktur ließ sich mehr erkennen. Kiro war fassungslos. Er stand stöhnend auf. Behutsam legte er seine Hand auf die Wand. Die Metallplatten fühlten sich glatt und warm an. Seine Gefährten tauschten hinter ihm unsichere Blicke aus. Das Verhalten von Kiro war für sie äußerst merkwürdig. Martin legte ihm die Hand auf die Schulter. „Kiro, was ist passiert? Geht es dir gut?“ Langsam ließ Kiro die Hand sinken. „Nadja. Ihr geht es schlecht. Vielleicht ist sie schon tot…“ Er schloss die Augen. „Wir können nichts für sie tun. Außerdem, woher willst du das denn so genau wissen?“ „Ich habe es gesehen! Eben gerade. Sie hat den Kampf verloren.“ Mugh zog hörbar die Luft ein und der Stille zuckte unwillkürlich zusammen. Kiro fasste sich allmählich wieder und drehte sich zu seinen Freunden um. „Wir müssen uns beeilen. Lasst uns keine Zeit mehr verlieren.“ Niemand erhob Einspruch.

Der Gruppe voraus ging Kiro zurück zu der kleinen Tür. Gemeinsam traten sie hindurch. Im schwachen Licht der Fenster war eine Treppe zu erkennen. Sie verlief spiralförmig nach oben und war so schmal, dass sie nur hintereinander emporsteigen konnten. Schweigend machten sie sich and den Aufstieg. Die kleine Treppe zog sich endlos hinauf. Nur etwa alle drei Umdrehungen warf ein Fenster etwas Licht herein. Wie hoch sie schon gekommen waren, konnte man nicht erkennen, da das Glas der Fenster milchig trüb war uns so keinen klaren Blick zuließ. Mugh, den das Treppensteigen wohl am meisten anstrengte, kamen es wie Stunden vor, die sie mit dem Aufstieg zubrachten. Er musste sich oft hinsetzten um Atem zu schöpfen. Für die Anderen war es zwar nicht ganz so anstrengend, sie nutzen aber die Pausen ohne Murren aus. Nach einer Ewigkeit langten sie endlich am Ende der Treppe an. Kiro trat in den Gang, der sich an das Treppenhaus anschloss. „Eintausend.“ Martin sah ihn fragend an. „Es sind genau 1000 Stufen gewesen.“ „Hast du etwa mitgezählt?“ Martins Blick war ungläubig uns bewundernd zugleich. Kiro wollte schon etwas erwidern, wurde aber von Mugh unterbrochen. „Seht euch das an! – Unglaublich!“ Den Gang, in dem sie sich nun befanden, war eigentlich gar kein Flur, sondern vielmehr eine breite Galerie. Mehrere Meter über ihren Köpfen hingen reich verzierte Leuchter und an den Wänden waren kunstvoll geknüpfte Teppiche angebracht. Alles schien sehr gepflegt zu sein. Nirgends war ein Zeichen des Verfalls zu erkennen. In regelmäßigen Abständen hingen Portraitbilder an der Wand. Das rechts von ihnen zeigte einen alten und ehrwürdig aussehenden Mann in prächtiger Kleidung und mit einer Krone auf dem Kopf. Über dem Bild auf einem goldenen Schildchen befand sich eingravierte wohl der Name, der aber auch hier in kryptischer Schrift geschrieben war und so von keinem entziffert werden konnte. Zu ihrer Linken befanden sich die Bilder von Frauen mit ebenso verschwenderischer Kleidung und Schmuck. Auch wenn alle Bilder frei von Staub und Zerfall waren, wirkten sie doch schon sehr alt. Auf dem Einen oder Anderen bildete sich bereits ein feines Netzwerk von Rissen.

Je weiter sie kamen, desto neuer schienen die Bilder zu sein. Immer paarweise hingen sich ein Mann und eine Frau gegenüber. Insgesamt 23 Bilderpaare zählten sie auf dem Weg den breiten Gang entlang. Auch hier fiel nur wenig Licht durch milchige, bleiverglaste Fenster. Am Ende des Flures befand sich noch ein weiteres Nischenpaar. Jedoch hingen hier keine Bilder. Auf dem Boden davor fanden sie nur einige schwarze Leinwandfetzen und Stücke von einem Rahmen. Das stand auffällig im Kontrast zu dem sonst so sauberen Flur. Die Gruppe war staunend von einem Bild zum nächsten geschritten und ein Bild hatte mehr Bewunderung ausgelöst als das andere. Nun standen sie vor einer massiven Flügeltür aus Holz. Die schwarzen Türflügel waren mit dicken Metallbänden beschlagen. Von der Tür ging eine Härte aus, die so gar nicht zu der Wärme der Galerie passte. Beide Türflügel schlossen nahtlos miteinander ab, sodass der Blick hindurch unmöglich wurde. Weder eine Klinke noch etwas anderes zum Öffnen konnten sie finden. Nur zwei große, schwere Metallringe hingen in Augenhöhe am Holz der beiden Türflügel. Unübersehbar in der Mitte und über beide Flügel hinweg prangte das Symbol, das sie jetzt schon so oft gesehen hatten, auf dem Tor: Der Kreis mit dem Dreieck in der Mitte. Ehrfürchtig versammelten sich alle vor dem Portal. Kiro versuchte einen der Ringe hochzuheben, schaffte es aber nicht. Erst als Martin ihm half, konnten sie den Ring anheben und ließen ihn gegen das schwere Holz krachen. Ein dumpfer Schlag ließ das Tor und den Boden erzittern. Jedoch rührte sich nichts mehr, nachdem der Schlag verklungen war. Noch zwei weitere Male ließen sie den überdimensionalen Türklopfer herunterfallen. Nachdem auch der dritte Schlag verhallt war, setzten sich die Türflügel lautlos in Bewegung. Langsam schwang das Tor auf.

 

26

 

Der Kampf hatte lange gedauert. Obwohl es Nadja wie Stunden vorgekommen war, mussten wohl Tage vergangen sein. Nachdem sie dafür gesorgt hatte, dass ihre Freunde in Sicherheit waren, hatte sie sich ihrem Verfolger gestellt. Von Anfang an war ihr klar gewesen, dass dies ein Kampf auf Leben und Tod sein würde. Durch einen ultimativen Akt der Konzentration war es ihr gelungen eine Barriere zwischen sich und dem Schatten aufzubauen, aber jede seiner Attacken schwächte sie zunehmend. Der Schatten war kein körperliches Wesen, sodass ihr Kampf zunächst ein vollkommen mentaler war. Je mehr aber ihre Schutzbarriere schwand, desto mehr litt sie auch körperlich unter den Angriffen. Der Schatten begann nun Dinge in der Umgebung zu benutzen um ihr Schaden zuzufügen. Er schleuderte ihr Autowracks, Laternenpfähle und ganze Mauerstücke entgegen. In der näheren Umgebung war die Stadt schon völlig zerstört und glich einem einzigen Trümmerfeld. Nach einer Weile war Nadja so geschwächt, dass sie sich nur noch schwer konzentrieren konnte. Sie hatte immer mehr Mühe den Attacken auszuweichen. Ein Metallstück traf hart am Arm und schleuderte sie herum. Kurze Zeit später traf sie auch etwas am Bein. Sie taumelte, konnte sich aber gerade noch aufrecht halten und eine Autotür abwehren, die nur um Zentimeter ihren Kopf verfehlte. Nadja beschwor das Bild Kiros in ihrem Geist herauf und das gab ihr neue Kraft. Ein letztes Mal warf sie dem Schatten alles entgegen, was sie aufbieten konnte. Ihr war bewusst, dass dies das Ende für sie bedeuten konnte.

Mit einem Mal verspürte sie einen brennenden Schmerz an ihrer Seite. Nadja schwankte und dann gaben ihre Beine nach. Sie hob den Kopf. Der große Glassplitter eines Fensters hatte ihre Seite weit aufgerissen. Das Blut strömte aus einer großen Wunde. Langsam verschwammen die Konturen der Umgebung. Gleich würde sie in Schwärze versinken. Nadja spürte den Schatten über sich. Er war ihr nun ganz nah. Sie bündelte ihre letzten mentalen Kräfte und rief im Geist nach Kiro. Dann umfing sie die Dunkelheit. Sie schien zu fallen, immer tiefer und tiefer. Kälte durchströmte sie. Eine Stimme, ganz leise und von fern.

 

„Nadja…Wo willst du hin? Deine Freunde brauchen dich!“ „Ich bin zu schwach. Ich muss jetzt sterben.“ „Es ist noch nicht an der Zeit für dich. Dein Weg geht noch weiter…“ „Hilf mir. Hilf mir zu leben!“ „So soll es sein…“ Ein Licht bewegte sich auf sie zu. Wie ein Suchscheinwerfer in der Nacht. Erst klein und dann immer größer. Schließlich umfing sie das Licht ganz. Sieben Lichter schwebten über ihr. Aus weiter Ferne vernahm sie Stimmen. Geräusche drangen durch eine dicke Wand von Nebel. Piepsen, Gesprächsfetzen, Klirren von Metall und dann Musik, fremde Musik. Nadja sank wieder tiefer und verschwand in der Tiefe des Schlafes. Sie träumte von der Zeit als sie noch klein war. Damals war ihre Welt noch heil gewesen. Ohne Grausamkeit und Schmerz. Mit ihrer Mutter und ihrem älteren Bruder hatte sie auf einem kleinen Mond gelebt, der durch ein wissenschaftliches Terraformingprojekt bewohnbar gemacht worden war. Nadja war mit viel Natur aufgewachsen. Vater und Mutter hatten hart für dieses Leben gearbeitet. Leider hatte sie ihren Vater nie kennen gelernt, da er kurz vor ihrer Geburt bei einem Einsatz als Kampfpilot ums Leben gekommen war. Damals war der Krieg noch weit weg und unbedeutend gewesen. Niemand hatte gedacht, dass es sie einmal direkt betreffen würde. Einige Jahre später hatte es aber eine Wendung im Verlauf des Krieges gegeben. Nach und nach war ein Sternensystem nach dem anderen in die Hände des Feindes gefallen. Nadja selbst kannte zu dieser Zeit die andere Seite nicht. Es wurde den Kindern nur immer wieder erzählt, dass der Feind auf die totale Vernichtung ihrer Rasse aus war und er mit allen Mitteln bekämpft werden musste.

Dann kam die Flucht. Ihr Bruder, den sie über alles liebte, wurde gegen den Willen ihrer Mutter zu den Streitkräften eingezogen und sie selbst mussten die Heimat verlassen. Auf großen Raumschiffen wurden sie evakuiert und durchliefen verschiedene Auffanglager, bevor sie auf einem Planeten im Delta-Sektor landeten. Hier verbrachten sie einige Jahre, aber die Lebensbedingungen waren schlecht und ihre Mutter, die von den Strapazen der Flucht ziemlich ausgezehrt war, wurde bald krank und starb wenig später. Von ihrem Bruder fehlte zu dieser Zeit jede Spur und so kam sie in ein Waisenhaus. Dies sollte die schrecklichste Zeit ihres Lebens werden, aber Nadja lernte dort auch viel. Sie begann sich gegen andere durchzusetzen und verdiente sich Respekt. Die anfänglichen Übergriffe der älteren Kinder wurden weniger und nach einer Weile wurde sie ganz in Ruhe gelassen. Sobald sie Volljährig geworden war, musste sie das Haus verlassen und sah sich augenblicklich mit ganz neuen Herausforderungen konfrontiert. Nadja versuchte sie sich mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen, was aber mehr schlecht als recht gelang. Eines Tages, als sie für eine Bande von Drogenhändlern Schmiere stand, war auf einmal das Militär überall. Die Transaktion war verraten worden. Sie wurde festgenommen und zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Einem der Beamten tat sie aber leid und er bot ihr eine Arbeitsstelle in einem Verwaltungsbüro an. Nadja nutze die Chance und hatte bald schon Gefallen an dem Job gefunden. Die Arbeit war zwar langweilig und nicht besonders anspruchsvoll, aber sie brachte regelmäßiges Geld. Die Zusammenarbeit mit den Kollegen war schwierig und die Eingewöhnung dauerte lang. Nach einer Weile hatte sie akzeptiert, dass sie sich ihre Freunde in anderen Kreisen suchen musste. Wenig später war sie das erste Mal mit den „Verstummten“ in Kontakt gekommen.

 

Ein leichtes Kitzeln an ihrem Ohr ließ sie wieder zu Bewusstsein kommen. Um sie herum war alles sehr hell. Nur verschwommen nahm sie die Umrisse von Menschen wahr, die um sie herum standen. „Sie kommt zu sich.“ Eine männliche Stimme flüsterte etwas, aber Nadja konnte es trotzdem verstehen. „Ein Wunder, dass sie überhaupt noch lebt.“ Nadjas Kopf tat furchtbar weh. Sie versuchte etwas zu sagen, aber ihre Stimme versagte und es kamen nur unverständliche Laute aus ihrem Mund. Sie versuchte sich aufzurichten, aber auch dies gelang ihr nicht. Ihre Muskeln gehorchten ihr nicht mehr. „Beruhigen sie sich. Es gibt keinen Anlass zur Sorge.“ Eine warme Hand legte sich auf ihre Schulter. Nadja erschauderte. Immer noch war ihr Blick verschwommen und sie konnte nicht erkennen, wer zu ihr sprach. „Sie haben eine lange Operation hinter sich und benötigen jetzt viel Ruhe.“ Nadjas Gedanken drehten sich im Kreis. Sie verstand nicht was hier passierte. Sie wollte der Stimme, die sie zu beruhigen versuchte, sagen, dass kaum noch Zeit blieb. Die musste ihre Freunde finden und sie warnen. Mit einem wahnsinnigen Kraftaufwand versuchte sie die Worte zu formulieren. Eins nach dem anderen, doch vor lauter Erschöpfung verlor sie wieder das Bewusstsein.

Als Nadja wieder zu sich kam, war das Licht im Raum viel dunkler. Nachdem sie ein paar Mal geblinzelt hatte, schärfte sich ihr Blick. Sie befand sich in einem hell gestrichenen Raum und lag in einem Bett. Über ihr an der Decke waren zwei lange Röhren angebracht, die ein unangenehm kaltes Licht verströmten. Zuerst dachte Nadja der Raum wäre nach links hin offen, erkannte aber gleich darauf, dass es sich um eine breite Fensterfront handelte, die den Blick auf ein paar Bäume und den rötlichen Abendhimmel freigab. Neben dem Bett stand ein kleiner Tisch, auf dem ein Glas mit Wasser stand. Neben dem Glas befanden sich ein Krug und ein kleiner Teller mit einer gelben Masse. Sie drehte ihren Kopf vorsichtig nach rechts. Zu ihrer Rechten befand sich ein weiteres Bett. Es war leer. An der kahlen Wand entlang wanderte ihr Blick bis zur geschlossenen Tür. Sie schien ungewöhnlich breit zu sein. Ihr Hals schmerze und fühlte sich staubtrocken an. Offenbar war sie nicht gestorben. Wie sie aber hierher gekommen war, konnte sich Nadja im Moment nicht erklären. Sie musste sich in einer Art Krankenhaus befinden, jedoch kam es ihr sehr rückständig vor und sie sah keine Computer oder elektronischen Kontrollgeräte, die typisch für ein Krankenhaus waren so wie sie es kannte. Weiter kam sie nicht mit ihren Gedanken, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür und eine Frau mit einem weißen Kittel und einer seltsamen Haube kam herein. Sie hatte etwas in der Hand und kam auf ihr Bett zu.

„Oh, guten Abend! Sie sind also endlich aufgewacht. Der Doktor hatte sich schon Sorgen gemacht, dass sie so lange schlafen. Sie müssen wohl Einiges hinter sich haben. Was ihnen wohl zugestoßen ist?“ Nadja wollte etwas sagen, aber ihr Mund war immer noch so trocken, dass sie stattdessen einen Hustenanfall bekam, der wieder heftige Schmerzen verursachte. „Warten sie, ich helfe ihnen.“ Die Frau drückte einen Hebel am Bett und hob langsam das Kopfende des Bettes an, bis es mit einem Klicken leicht angewinkelt einrastete. Sie nahm das Glas vom Tisch und führte es Nadja an die Lippen, die vorsichtig einige Schlucke trank. „Mein Name ist übrigens Schwester Tabea“, sagte die Frau, indem sie das Glas zurück auf den Tisch stellte. Nadja ließ sich zurück in das Kissen sinken. In dieser aufrechten Position konnte sie jetzt ihre Beine sehen. Das eine steckte in einem dicken Verband und sie konnte es nicht bewegen. „Nadja“, stieß sie müde hervor. Es klang mehr nach einem Krächzen als nach ihrem Namen. Die Schwester lächelte. „Endlich wissen wir etwas mehr über sie. Offenbar hat man ihnen alles abgenommen, was uns verraten würde wer sie sind. Wenn sie möchten, können sie etwas essen, aber sollten sie sich noch zu schwach fühlen kann das auch noch warten.“ Sie deutete auf einen Metallständer am Kopfende des Bettes, an dem ein durchsichtiger Beutel hing. An ihm war ein dünner Schlauch befestigt, der zu ihrem rechten Arm führte. An dieser Stelle bedeckte ein kleiner Verband ihren Arm. Nadja verstand den Sinn dieser Apparatur nicht, war aber zu müde um die Schwester zu fragen. Diese hatte sich in der Zwischenzeit einen Stuhl herangezogen und den Teller vom Tisch genommen. Sie häufte etwas von dem gelben Brei auf einen Löffel. Eigentlich hatte Nadja keinen Appetit, aber der Hunger gewann die Überhand und sie ließ sich den Löffel in den Mund stecken. Wider Erwarten schmeckte es gut, sogar fast delikat. Erst jetzt wurde Nadja bewusst, wie lange sie schon keine warme Mahlzeit mehr zu sich genommen hatte. Der Geschmack war schwer zu definieren, kam aber der Frucht des Arebobaumes nahe, die sie als Kind gerne gegessen hatte. Die Schwester schien bemerkt zu haben, dass es ihr schmeckte und schob ihr so einen Löffel nach dem anderen in den Mund, bis der Teller fast leer war.

„Nun sollten sie etwas schlafen. Morgen wird der Doktor noch einmal nach ihnen schauen.“ Sie stand auf und mit dem Ding, das sie mitgebracht hatte, ging sie um das Bett herum. In der kleinen Spritze befand sich eine ebenfalls klare Flüssigkeit. Bevor Nadja protestieren konnte, stach die Schwester an einer bestimmten Stelle in den Schlauch an ihrem Arm und drückte die Flüssigkeit langsam hinein. „Das wird ihnen helfen zu schlafen.“ Sie lächelte Nadja noch einmal zu, nahm den Teller mit und goss noch etwas Wasser in das Glas nach, bevor sie zügig den Raum verließ. Ein paar Minuten später sank Nadja in einen traumlosen Schlaf, aus dem sie erst am nächsten Morgen wieder erwachte.

 

Anders als noch am Abend zuvor war der Raum von Licht durchflutet, als Nadja am nächsten Morgen die Augen öffnete. Die Sonne schien zwischen den Wipfeln der Bäume hindurch und durch das geöffnete Fenster wehte ein leichter Wind in das Zimmer. Am Fußende ihres Bettes stand ein Mann. Er trug den gleichen weißen Kittel wie die Schwester gestern. Nadja vermutete, dass er der Doktor war, von dem Schwester Tabea gesprochen hatte. Der Schlaf hatte Nadja einen Teil ihrer Kraft zurückgegeben, doch merkte sie deutlich wie schwach und entkräftet sie noch immer war, als sie versuchte sich im Bett aufzurichten. Der Arzt, der gerade etwas auf einem Blatt las, schaute auf und bemerkte, dass Nadja wach war. „Guten Morgen!“ Sein Gesicht strahlte. „ Mein Name ist Doktor Brenner. Ich hoffe, sie haben gut geschlafen.“ Nadja war noch etwas benommen und nickte geistesabwesend. „Ich hätte noch ein paar Fragen an sie. Vor allem bezüglich ihres Namens. Nur einige Formalitäten.“ Er zückte einen Stift und schrieb etwas auf das Klemmbrett in seiner Hand. „Ihr Name ist Nadja?“ Sie nickte. „Wie lautet ihr vollständiger Name?“ Nadja antwortete nicht auf die Frage. „Wo bin ich hier und wie komme ich hierher?“ Ihre Verwirrung war nicht gespielt. Der Arzt runzelte die Stirn. „Sie können sich nicht mehr erinnern?“ Er schrieb noch eine kurze Notiz nieder und legte dann das Klemmbrett zur Seite. „Ich denke, die Fragen können wir auch später noch klären.“ Er räusperte sich. „Eine Polizeistreife hat sie vor zwei Tagen übel zugerichtet in einem Park ganz in der Nähe gefunden, nachdem ein anonymer Anruf in der Leitstelle eingegangen ist. Sie wurden hier mehr tot als lebendig eingeliefert. Eigentlich ist es ein echtes Wunder, das sie noch leben.“ Er überlegte kurz. „Wissen sie in welcher Stadt sie sich befinden?“ Nadja schüttelte den Kopf. Kaum merklich hob der Arzt die Augenbrauen. „Sie sind hier im städtischen Krankenhaus von New York.“ Von dieser Stadt hatte Nadja noch nie etwas gehört. „Welcher Planet, auf welchem Planeten befinden wir uns?“ Jetzt sah sie der Arzt mit offensichtlichem Staunen an. „Auf der Erde natürlich! Und das Jahr ist 1983. Aber das wussten sie ja bereits.“ Sein Tonfall war nun deutlich sachlicher geworden. Nadja ärgerte sich über ihre unbedachte Äußerung. Jetzt hielt man sie wahrscheinlich auch noch für verrückt. „Ich werde jemanden vorbeischicken, der ihnen die Verbände wechselt.“ Er wand sich zu Gehen. „Wenn ihnen noch etwas einfällt, was sie uns mitteilen möchten, dann brauchen sie nur den roten Knopf neben dem Bett zu drücken. Eine Schwester wird dann nach ihnen sehen. In drei oder vier Tagen können wir probieren, ob sie aufstehen können. Bis dahin bewegen sie sich bitte möglichst wenig.“ Er öffnete die Tür. „Wir sehen uns morgen wieder.“ Kurz darauf war er verschwunden.

Es war Nadja schon klar geworden, als der Arzt die ersten Fragen gestellt hatte, aber jetzt fühlte sie es noch deutlicher. Sie war hier nicht sicher. Man würde nicht aufhören ihr Fragen zu stellen. So schnell es ging musste sie von hier verschwinden. Mit aller Kraft versuchte sie das Bein in dem Verband zu bewegen, aber es gelang ihr nicht. Nur ihre Zehen ließen sich ein wenig bewegen. Als sie sich gerade ein Stück weiter in eine sitzende Position aufrichten wollte, schossen ihr lähmende Schmerzen durch den Bauch. Augenblicklich ließ sie sich wieder in die Kissen sind. Sie schloss die Augen und atmete schwer, bis der Schmerz einigermaßen abgeklungen war. So bald wie sie gerne wollte, würde sie hier wohl nicht verschwinden können. Geduld, sie musste Geduld haben. Wenn das hier wirklich das Jahr 1983 war, würde die Heilung eine Weile dauern. Zu ihrer Zeit wäre die Versorgung dieser Verletzungen vermutlich eine Sache von Stunden gewesen. Aber hier, mit diesen primitiven Techniken und Mitteln konnte sie kaum etwas Ähnliches erwarten. Wut stieg in Nadja hoch, dann ein Gefühl der unendlichen Ohnmacht und schließlich Tränen.

Eine halbe Stunde später klopfte es und eine Schwester kam ins Zimmer. Während sie Nadjas Verbände wechselte, verfolgte diese das Geschehen aufmerksam. Sie wollte unbedingt wissen, wie schwer sie verletzt war. Noch hatte sie nicht aufgegeben. Überall am Körper hatte Nadja Abschürfungen, Prellungen und kleinere Schnittwunden, die aber allesamt nur oberflächlich waren. Ihren linken Arm und das Bein hatte es hingegen schlimmer erwischt. Um den Oberarm lag eine Schiene. Auf ihre Frage teilte ihr die Schwester mit, dass er an zwei Stellen gebrochen war. Die Wunde am Bein war zwar groß und schmerzhaft, jedoch nur eine Fleischwunde und so nicht besonders gefährlich. Eine Narbe würde auf jeden Fall zurückbleiben. Die weitaus größte Verletzung befand sich an ihrer linken Seite. Hier war sie mit vielen Stichen genäht worden und auf ihre weiteren Fragen sagte ihr die Schwester, zunächst nur zögerlich, dass sie auch erhebliche innere Verletzungen erlitten hatte. In einer mehrstündigen Notoperation war sie von den Ärzten wieder zusammengeflickt worden. Nachdem die neuen Verbände angelegt waren, half ihr die Schwester dabei etwas zu essen und anschließend versuchte Nadja etwas zu schlafen. Sie empfand eine tiefe und überwältigende Müdigkeit.

 

Nalataja

 

27

 

Vor ihnen lag ein weiter Saal. Seine Ausmaße waren gigantisch. Säulen stützten die gewölbte Decke ab, die sich gut 20 Meter über ihnen erhob. Der Boden, der aus grau marmoriertem Stein bestand, war glatt und die fugenlose Oberfläche spiegelte alles, was sich darauf befand. In alle Richtungen erstreckte er sich der Saal und verlor sich im Halbdunkel. Das einzige Licht kam durch kleine Fenster an den Flanken der Halle. Mit einem dumpfen Stoß schlossen sich die Flügeltüren hinter ihnen und es trat vollkommene Stille ein. Kiro konnte sich nicht erinnern jemals eine solche Stille erlebt zu haben. Fast schien es, als würde man ein Bild betrachten, so bewegungslos war die Szene.

Kiro trat behutsam einen Schritt vorwärts. Das Geräusch seiner Tritte hallte aus allen Richtungen wider. In gerade Richtung vom Eingang verlief beidseitig zwei Reihen von Säulen zwischen denen sie sich nun in Bewegung setzten. Sie folgten Kiro, der ein kleines Stück vorgegangen war. Je näher sie der Mitte der Halle kamen, desto heller wurde es. Ein immer stärker werdendes, buntes Glitzern nahm ihnen den klaren Blick auf das Zentrum. Mit der Zeit gewöhnten sich ihre Augen daran und das Bild wurde deutlicher. Zur Mitte hin verschwanden die Säulen ganz und ein frei tragendes Gewölbe von unwahrscheinlicher Höhe erhob sich über ihren Köpfen. Darunter, im absoluten Zentrum, befand sich ein Thron aus Stein. Da sie sich ihm von hinten näherten, konnten sie weiter nichts weiter erkennen, als nur die in den rauen Stein eingelassenen, funkelnden Steine. Es war ein prachtvoller Anblick, wie das Licht gebrochen und in allen Farben zurückgeworfen wurde.

Kiro hatte eben das letzte Säulenpaar hinter sich gelassen, als er einen metallischen Klang und gleich darauf einen Schrei vernahm. Er drehte sich um und sah Martin hinter sich am Boden liegen. Er hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Kopf. „Was ist passiert?“ fragte er erschrocken. Mugh war herangekommen, hob seine Hand und bewegte sie langsam vorwärts. An einem bestimmten Punkt blieb sie mitten in der Luft stehen. Mugh versuchte sie weiter vorwärts zu bewegen, aber er kam keinen Zentimeter weiter. „Es ist eine unsichtbare Barriere! So etwas wie ein Kraftfeld!“ Mugh nahm seine Hand zurück. „Sie hat dich passieren lassen, aber wir kommen nicht vorbei.“ Kiro trat einen Schritt auf sie zu und stieß ebenfalls gegen etwas Hartes. Nacheinander versuchten der Stille, Wartins und Martin die unsichtbare Barriere zu überwinden. Alle scheiterten sie. „Du musst weiter.“ Martin sah ihn an. An seinem Kopf bildete sich bereits eine dicke Beule. „Wir werden hier warten.“ Kiro nickte. Er drehte sich um und ging auf den Thron zu. Seine Freunde versuchten ihm in einem Bogen zu folgen, mussten aber feststellen, dass sich die Barriere auch seitlich von ihnen zwischen den Säulen befand und sie so in dem kleinen Bereich hinter dem Thron gefangen waren. Kiro hatte inzwischen den Thron umrundet und stand nun davor. Er war leer. Zuerst war Kiro erstaunt. Unbewusst hatte er jemanden erwartet, aber mit einem leeren Thron hatte er nicht gerechnet. Ein kurzer Anflug von Panik erfasste ihn. Mehrere Minuten stand er reglos da. Dann, einem spontanen Impuls folgend, ging er auf den Thron zu und setzte sich. Der Stein fühlte sich warm an. Auch in die Armlehnen waren verschiedene Steine eingelassen. Auf der rechten Seite schien aber einer zu fehlen, denn hier befand sich ein Loch. Es sah so aus, als hätte man den Stein, der hier einmal gewesen war, heraus gebrochen. Kiro lehnte sich zurück. Trotz der Härte des Steins saß er bequem. Nur irgendetwas an seinem Bein störte ihn. Er griff in seine Tasche, wo etwas drückte. Seine Hand stieß auf einen Gegenstand und er zog ihn heraus. Er hielt den blauen Klangstein aus Fargos Laden in seiner Hand. Der Stein hatte sich verändert und ein pulsierendes Leuchten drang aus seinem Inneren. Während Kiro ihn noch staunend in der Hand hielt, kam ihm eine Idee. Er drehte den Stein etwas um die eigene Achse und führte ihn zu der Öffnung in der Armlehne. Vorsichtig ließ er den blauen Stein hineingleiten. Er passte perfekt. Im gleichen Moment erfasste eine Welle von Wärme Kiros Körper. Ein überwältigendes Gefühl der Behaglichkeit und Geborgenheit breitete sich in ihm aus und er schloss seine Augen.

 

Als Kiro die Augen wieder öffnete, befand er sich nicht mehr in dem gigantischen Saal auf dem steinernen Thron. Er stand in einem kleinen Raum, der von einer schwachen Lampe an der Decke spärlich erleuchtet wurde. Ein paar Schritte von ihm entfernt stand ein Tisch, an dem ein Mann saß und hastig etwas auf einer Schreibmaschine tippte. Überall auf lagen Zettel und zerknülltes Papier herum. Der Mann sah alt aus. In seinem Mund steckte eine Zigarette, von der ruhig ein dünner Faden Rauch emporstieg. Neben der Schreibmaschine lag eine umgekippte Tasse. Ihr dunkelbrauner Inhalt hatte sich über den Tisch ergossen und war eingetrocknet. Offenbar war dies schon vor einiger Zeit geschehen. Hinter dem Mann an der grauen Wand hing eine altertümliche Uhr. Kiro hörte deutlich das Ticken des Uhrwerkes, jedoch hatte sie keine Zeiger. Überhaupt war das Ticken der Uhr das einzige Geräusch, was er bewusst wahrnahm. Kiro trat nach vorne und stand nun unmittelbar vor dem Schreibtisch. Der Mann sah auf. „Was wollen sie?“ Mürrisch blickte er durch Kiro hindurch. Sein Blick streifte Kiros Gesicht. „Ah, sie sind es! Gehen sie hinein, sie werden bereits erwartet.“ Mit der Hand wies er nach rechts auf eine Tür. Kiro wand sich zum Gehen. „Seien sie vorsichtig. Es geht ein paar Stufen hinunter und die Treppe ist nicht mehr im besten Zustand.“ Kiro nickte, ohne wirklich zu verstehen was hier vor sich ging und öffnete die Tür. Eine schmale Holztreppe ohne Geländer schloss sich an die Tür an. Nach einigen Metern befand sich eine weitere Tür. Die Stufen waren tatsächlich in einem erbärmlichen Zustand und sahen so aus, als ob sie jeden Moment zu Staub zerfallen wollten. Links und Rechts von der Treppe ging es ins Bodenlose herunter. Kiro konnte nicht erkennen, was unten war. Vorsichtig stieg er hinab und öffnete die zweite Tür.

Er fand sich in einem weiteren kleinen Raum wieder, der ebenso in Grau gehalten war, wie das Büro des alten Mannes. Eigentlich sah dieser Raum genau gleich aus wie das Büro. Auch hier befand sich ein Schreibtisch, mit der Ausnahme, dass ein wackliger Holzstuhl davor stand. Hinter dem Tisch saß eine Frau. Kiro erkannte sofort wer da saß und ihn mit freundlicher Miene anlächelte. Es war die Frau von dem Bild in dem kleinen Raum des Wirtshauses. Im Gegensatz zu dem Bild war sie aber nicht so prachtvoll gekleidet. Sie trug lediglich einen schwarzen Umhang. Trotz der einfachen Kleidung war ihre Schönheit aber geradezu berauschend. Bis auf ein kleines Holzschildchen, das rechts von ihr auf dem Tisch stand, war dieser leer. Kiro kam näher. Jetzt konnte er auch lesen, was auf dem Schildchen geschrieben stand. In feinen Silberbuchstaben stand dort: „Nalataja“ Und dahinter, etwas kleiner: „Erste Instanz.“ Als sie jetzt seinen Namen aussprach glitt ihm ein warmer Schauer über den Rücken, so sanft und angenehm war ihre Stimme. „Hallo Kiro. Willkommen auf meiner Ebene. Schön, dass du endlich eingetroffen bist.“ Sie wies mit ihrer Hand auf den freien Stuhl. Kiro nahm ohne Widerspruch Platz. Es schien ihm fast, als könnte er gar nicht anders. Ihre Stimme und die Art wie sie sprach waren wohl das Lieblichste, was er je gehört hatte. So sanft wie eine frische Brise am Meer und so wohlklingend wie ein Lied. „Ich dachte mir, dass es besser wäre, wenn wir alleine reden. So werden deine Freunde nicht über die Maßen beunruhigt und wir sind eine Weile ungestört.“ Eine Pause entstand. „Du brauchst dir keine Sorgen um sie zu machen. Im Thronsaal sind sie in Sicherheit.“ Ihr Blick schien in die Ferne zu gleiten. „Zumindest vorläufig…“ Kiro konnte sich langsam wieder konzentrieren und begann seine Gedanken zu ordnen. Sicherheit, ja. Seine Freunde waren in Sicherheit. Das wusste er bereits. Wie ein heller Strahl in Dunkelheit schoss ein Gedanke durch seinen Kopf – Nadja.

Wie, als hätte sie seine Gedanken gelesen, begann Nalataja wieder zu sprechen. „Nadja lebt. Sie ist auf dem Weg der Besserung und erholt sich auf einer anderen Ebene. Warkandoblan selbst hat sie retten lassen. Es ist merkwürdig, ich verstehe nicht, warum er das getan hat…“ Ihr Blick schien wieder abzudriften, aber dann fixierte sie ihn mit ihren klaren, blauen Augen. „Wir haben jetzt aber Anderes zu besprechen. Sicher hast du viele Fragen, auf die du die Antworten bei mir suchst. Mein Wissen ist begrenzt. Ich existiere seit dem Ursprung und wurde erschaffen aus der Quelle. So, wie die Anderen drei. Du kennst ihre Namen bereits. Ebetaminor, Solejier und Warkandoblan, welcher der Größte unter uns ist. Wir verkörpern die vier Winde und unsere Macht ist in den vier Türmen gebunden. Die Türme sind Tore zu anderen Ebenen. Auf diesen Ebenen gibt es keine Konstanten mehr. Alles befindet sich im Fluss. Raum oder Zeit haben hier weder Macht noch Bedeutung. Einst waren unsere Ebenen ein Ort der Zuflucht und der Ordnung, aber nun herrscht Chaos. Um Eschnak zu retten, müssen die Winde neu gebunden und die Türme erneuert werden. So mächtig wir sind zu beschützen, so groß ist auch unsere zerstörerische Kraft. Eschnak muss gerettet werden. Nicht einmal Warkandoblan selbst kennt unsere Bedeutung. Die Einzige, in der die Wahrheit verborgen ist, ist Nadja. Sie kommt direkt von der Quelle.“ Nalataja beugte sich vor und sah ihn durchdringend an. „Du musst sie um jeden Preis beschützen. Es liegt noch ein weiter Weg vor ihr. Nicht alle von euch können das Ziel erreichen. Und darum bist du jetzt hier.“ Nalataja öffnete eine der Schubladen des Schreibtisches und entnahm ihr ein Blatt Papier. Das Papier war beschrieben, aber Kiro konnte die Worte darauf nicht lesen. Wie hypnotisiert hatte er die ganze Zeit auf Nalatajas Lippen geschaut. Wohl hatte er verstanden, was soeben gesagt wurde, aber es kostete ihn unglaubliche Willenskraft seine Augen von ihr zu reißen und sich dem Papier zuzuwenden. „Damit eure Suche fortgesetzt werden kann, muss eine Wahl getroffen werden.“ Sie schob Kiro das Blatt hinüber und legte einen Stift dazu. „Du musst wählen, Kiro. Ein Opfer muss erbracht werden!“

Zuerst verstand Kiro nicht. Was für ein Opfer meinte sie? Nalataja hingegen blieb stumm. Das Ticken der Uhr an der Wand, das Kiro die ganze Zeit unterschwellig wahrgenommen hatte, war das einzige Geräusch, das jetzt noch zu hören war. „Was für ein Opfer?“ fragte er laut. Sie starrte ihn aber nur immer weiter aus ihren meerblauen Augen an und blieb regungslos sitzen. Es kam ihm fast so vor, als säße ihm eine tote Puppe gegenüber. Kiro blickte wieder auf das Blatt. Nachdem er eine Weile darauf gestarrt hatte, geschah etwas Seltsames. Vor seinen Augen begannen die Buchstaben und Symbole zu verschwimmen und veränderten ihre Strukturen, Mehr und mehr konnte Kiro entziffern, was hier stand. Es handelte sich wohl um eine Art Vertrag. „Wiederaufnahme“, stand in großen Lettern oben auf dem Papier. Darunter war in wenigen Zeilen zusammengefasst, was sie bisher erlebt hatte. Die Aufzählung war nicht so genau wie im „Alten Weg der Zeit“, aber die wesentlichen Punkte waren alle vorhanden. Kiro musste seine Augen zusammenkneifen um die winzige Schrift entziffern zu können. Ganz am Ende der Seite stand in einem neuen Absatz nur ein einziger Satz. „Zur Fortsetzung der Reise und des eigenen Lebens in seiner bisherigen Form verpflichtet sich der Vertragspartner zu einem Opfer aus sechs.“ Darunter befanden sich zwei Striche. Hinter dem einen stand „Opfer“, hinter dem anderen „Vertragspartner“. Langsam begann es Kiro zu dämmern, was Nalataja von ihm verlangte. So wunderschön sie auch anzusehen war, so grausam war doch ihre Forderung. Während die Erkenntnis in Kiro noch lähmendes Entsetzen auslöste, hob Nalataja auf einmal die Hand und schnippte mit den Fingern. Sofort verschwand ein Teil der Wand links von ihr und gab den Blick auf ein Bild frei. Kiro brauchte ein paar Sekunden um zu erkennen, was er da sah. Er blickte direkt in den Thronsaal, in dem er sich gerade noch befunden hatte. Das Bild war jedoch kein unbewegtes. Wie im Zeitraffer ging dort alles vonstatten. Die Uhr an der Wand hatte wieder begonnen zu laufen und die Zeiger rasten jetzt vorwärts. Stunden vergingen im Minutentakt. Immer wieder sah er seine Freunde hektisch umherlaufen. Gelegentlich legten sie sich hin um etwas auszuruhen nur um Sekunden später wieder aufzustehen. Kiro verstand. Während er hier über einem unlösbaren Problem brütete, verging für seine Freunde die Zeit wie im Flug. Wenn er nicht zu einer Entscheidung kam, könnte es bald zu spät sein.

Die Zeiger der Uhr rasten weiter. Kalter Schweiß trat Kiro auf die Stirn. Er sollte jemanden seiner Freunde opfern, ihn dem sicheren Tod übergeben. Er überlegte lange und währenddessen verging für seine Gefährten ein ganzer Tag. Die Sonne versank und es wurde dunkel im Thronsaal. Nalataja war wieder in ihrer Erstarrung versunken und zeigte keine Regung. Die Hand vom Schnippen immer noch erhoben, sah ihr ihn ausdruckslos an. Sie schien nicht zu atmen. Als der Morgen im Schloss begann anzubrechen nahm Kiro den Stift in die Hand. Er zitterte leicht. Langsam zog er den Vertrag zu sich, setzte den Stift an und begann zu schreiben. Mitten im Schreiben hielt er inne. Eine einzelne Träne glitzerte in seinem Augenwinkel, während er den Namen fertig auf das Blatt Papier schrieb. Kiro unterschrieb mit seinem eigenen Namen und warf dann den Stift zurück auf den Tisch. Er schloss die Augen, lehnte sich zurück und atmete tief ein. Insgeheim hoffte Kiro, dass wenn er die Augen wieder öffnete, der ganze Spuk vorbei sein würde. Dem war jedoch nicht so. Der Vertrag war verschwunden. Ebenso der Stift und das Bild an der Wand. Die Uhr war stehen geblieben und er blickte geradewegs in Nalatajas lächelndes Gesicht. Sein Magen verkrampfte bei ihrem Anblick. „Du hast deine Wahl getroffen.“ Sie deutete auf eine Tür an der linken Wand, die vorher nicht da gewesen war. „Erneut hast du die Wahl.“ Wählst du den rechten Weg, dann kommst du zurück zu deinen Freunden und ihr werdet den Weg gemeinsam fortsetzten. Wählst du aber den linken, dann führt er dich auf eine andere Ebene. Dorthin, wo jetzt Nadja ist. Sie braucht deine Hilfe, denn sie hat den Kontakt zur Quelle verloren. Ohne Orientierung wird sie es nicht schaffen zurückzukehren. Du aber kannst ihre Orientierung sein.“ Kiro nickte. Diese Wahl würde einfach für ihn sein.

 

28

 

Die letzten vier Tage waren für Nadja weitgehend ereignislos vorüber gezogen. Sie hatte die gesamte Zeit im Bett verbringen müssen. Nur der Besuch des Arztes am Morgen und das Wechseln der Verbände brachten ein wenig Abwechslung. Immer wieder stellte man ihr Fragen. Nadja versuchte so gut sie konnte zu antworten, aber offenbar stellte sie damit niemanden wirklich zufrieden. Der Arzt hielt sie scheinbar immer noch für etwas verwirrt. Die Erlebnisse, die sie tatsächlich in diesen Zustand versetzt hatte, behielt sie aber für sich. Stattdessen erfand sie eine vage Geschichte, in der man sie überfallen und sie selbst das Gedächtnis verloren hatte. Vermutlich hätte sie diese Geschichte selbst nicht geglaubt, wenn man sie ihr erzählt hätte. Der Arzt ließ ihr jedenfalls keine Ruhe mit seinen Fragen.

Gestern hatte sie das erste Mal aufstehen dürfen, aber die Schmerzen waren noch so groß gewesen, dass der Arzt entschieden hatte noch länger abzuwarten. Die Wunden heilten gut, aber sie fühlte sich geistig immer noch sehr schwach und ausgelaugt. Die Schwester hatte ihr Zeitschriften mitgebracht, aber sie konnte damit nicht viel anfangen weil sie die Schrift nicht lesen konnte. So tat sie so, als würde sie lesen und sah sich stattdessen die Bilder an. Besonders interessant war es dennoch nicht. Außer dem Arzt und den Schwestern war sie bisher keinen anderen Menschen begegnet. Man hielt sie in ihrem Zimmer offenbar bewusst isoliert. Von der Tür oder dem geöffneten Fenster waren manchmal Geräusche oder Stimmen zu hören, aber sonst herrschte hier eine erdrückende Stille. Die meiste Zeit sah Nadja aus dem Fenster. Ihr Kopf war leer und keinem Gedanken konnte sie lange folgen. Seit der Konfrontation in der unterirdischen Stadt waren nur wenige Tage vergangen, aber die Ereignisse kamen ihr trotzdem weit entfernt vor. Die geistige Verbindung zu ihren Freunden, die sich nun, weitgehend schutzlos, irgendwo anders befanden, war komplett abgerissen. Seitdem sie hier im Krankenhaus lag, hatte sie nicht mehr geträumt. Nadja ließ sich wieder in das weiche Kissen sinken und schloss die Augen. Gestern hatte ihr die Schwester den Schlauch aus dem Arm gezogen und sie war erstaunt gewesen, was für eine lange Nadel die ganze Zeit in ihrem Arm gesteckt hatte. Das kam ihr schon ein wenig barbarisch vor. Mit Schmerzen hatte sie schon früh in ihrem Leben umgehen müssen. Das Leben im Waisenhaus war ein täglicher Kampf gewesen. Da es ein gemischtes Heim gewesen war, hatte sie sich bald gegen aufdringliche Jungs, die sich von ihr angezogen fühlten, zur Wehr setzen müssen. Leider hatte das nicht immer funktioniert, jedoch hatte sie nie aufgegeben.

Für Morgen früh war ein neuer Versuch geplant das Bett zu verlassen. Sie war nicht gerade scharf auf die Schmerzen, aber der Drang wieder aktiv zu werden und sich auf die Suche nach ihren Freunden zu begeben, wurde mit jeder Stunde stärker. Nur hatte Nadja nicht die kleinste Idee, wo sie mit ihrer Suche beginnen sollte. Sie musste sich bald eingestehen, dass sie allein ziemlich hilflos war. Sie brauchte unbedingt Hilfe.

 

Der Schatten

 

Auch für den Schatten war der Kampf nicht leicht gewesen. Seine Kraft war fast verbraucht gewesen, als er sie schließlich besiegt hatte. Eigentlich wollte er ihr ein endgültiges Ende bereiten, als sie bewusstlos und wehrlos vor ihm lag. Etwas hielt ihn dennoch auf. Ihre Freunde waren noch immer unterwegs. Sein Instinkt sagte ihm, dass es in diesem Moment wichtiger sein würde die Anderen zu verfolgen. Das Mädchen würde sowieso früher oder später an ihren Verletzungen sterben. Das Portal, durch welches sie geflohen waren, hatte sich für immer geschlossen. Der Versuch wäre sinnlos ihnen auf diesem Weg zu folgen. Er stieg in den Raum zwischen den Ebenen auf. Dort begab er sich auf die Suche. Er würde die Spur erneut aufnehmen müssen. In dem Moment, als er den Schauplatz des Kampfes verließ, spürte er etwas Ungewöhnliches. Ein helles Licht schien an ihm vorbei durch den Durchgang zu schlüpfen, den sein Aufstieg geöffnet hatte. Eine negative Energie drang in die Wirklichkeit ein. Ehe er es bewusst wahrnahm, war es schon vorbei und sein Aufstieg vollendet. Seine Gegnerin war dem Tod geweiht. Niemand war dort um ihr zu helfen. Wirklich Niemand ? Zweifel keimten in ihm auf, aber er verscheuchte den Gedanken schnell wieder. Das war jetzt nicht mehr sein Problem. Er hatte die Konfrontation gewonnen. Dies war das Einzige, was Bedeutung hatte. Seine Kräfte regenerierten schnell. Bald schon würde er die Anderen aufgespürt haben. Sein Instinkt führte ihn untrüglich. Während des Kampfes hatte er seltsame Empfindungen gehabt. Er hatte fast so etwas wie Mitleid verspürt, als er den Schmerz und die Qualen seiner Gegnerin gesehen hatte. Er saugte diese Emotionen gierig in sich auf. Auf eine Weise war es interessant sie am Leben zu lassen. Seine Befriedigung war trotzdem grandios gewesen, als sie schließlich am Boden lag. Besiegt und blutend, jedoch nicht tot. Er war überaus gespalten. Seine Wesen war höchst widersprüchlich und gerade diese Eigenart machte ihn so unberechenbar und gefährlich. Zufrieden mit sich selbst und seinem Werk setzte er seine Suche fort.

 

29

 

Nachdem Kiro durch die Tür getreten war, hatte er sich auf einer Landstraße wieder gefunden. Er musste jedoch sofort einen Schritt zurückspringen, um einem herannahenden Fahrzeug auszuweichen, das laut hupend auf ihn zugerast kam. Es war Abend. Gerade ging die Sonne in einem roten Feuerball am Horizont unter und tauchte den Himmel in ein wildes Farbenspiel aus orange, rot und blau. Kiro blickte an sich herab. In der Hand hielt er einen braunen Plastikbeutel. Seine Kleidung hatte sich nicht verändert, aber er trug jetzt andere Schuhe. Sie sahen sehr stabil aus. Er öffnete den Beutel und griff hinein. Zuerst berührte er ein Bündel grüner Papierstreifen. In dem Moment erschien es wie ein Bild in seinem Geist: Er konnte damit irgendetwas bezahlen. Der zweite Gegenstand war ein kleiner, zusammengerollter Zettel. Dieser Zettel würde ihm helfen Nadja zu finden. Dessen war es sich sicher.

Er wand sich nach rechts und begann auf dem Seitenstreifen entlang zu laufen. Neben ihm rasten immer wieder Fahrzeuge auf der zweispurigen Straße vorbei. Aus seiner Schulzeit konnte er sich noch daran erinnern, dass es sich dabei wohl um Autos handeln musste. Sie stammten aus der Vergangenheit der Erde. Um Kiro herum breitete sich eine weitgehend flache Steppenlandschaft aus. Am Horizont konnte er eine kleine Bergkette ausmachen, aber sonst gab es außer der schnurgerade Straße nicht mehr viel zu sehen. In einiger Entfernung befand sich eine Gruppe von Gebäuden am Straßenrand. Immer wieder bogen Fahrzeuge von der Straße dorthin ab oder fuhren davon. Bis zu den Gebäuden verlief die Straße leicht abschüssig. Es wurde nun zügig dunkel und Kiro lief schneller. Ein leichter Wind kam auf und die Plastiktüte raschelte bei jedem Schritt.

Es dauerte nicht lange und Kiro war den Gebäuden so nahe gekommen, dass er Einzelheiten erkennen konnte. Die Beleuchtung ging gerade an und am Straßenrand drehte sich ein großes Schild. Mit gelber und rosa Neonschrift strahlte es grell in die Dämmerung. Über einem großen Dach thronte eine orange leuchtende Kugel mit zwei Zahlen: „76“. Kiro bekam nun langsam eine Vorstellung, worum es sich bei diesem Gebäude handelte. Neben dem überdachten Bereich befand sich ein weiteres, deutlich kleineres Gebäude. An seiner Fassade leuchteten blaue, rote und weiße Neonröhren. Davor parkten einige Autos. Kiro ging darauf zu. Ein paar Leute kamen ihm auf dem Weg entgegen, aber niemand schenkte ihm besondere Beachtung. Eine Weile stand er unschlüssig vor dem Eingang und war sich nicht sicher, ob er es wagen sollte hineinzugehen. Durch die Fenster konnte er im Innenraum an einigen Tischen Menschen essen sehen. Sein Magen zog sich zusammen und erst jetzt merkte er, dass er großen Hunger verspürte. Er konnte sich schon gar nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal eine richtige Mahlzeit verspeist hatte. Ohne noch weiter nachzudenken betrat Kiro das Restaurant.

Innen über der Tür war eine kleine Glocke befestigt, die hell klingelte als er eintrat. Eine Frau hinter dem Tresen schaute kurz zu ihm auf, lächelte unverbindlich und wand sich dann wieder dem Glas zu, das sie gerade mit einer klaren, gelben Flüssigkeit füllte. Im Innenraum war es laut. Die verschiedenen Gespräche überlagerten sich zu einer Geräuschkulisse in der man keine Einzelheiten mehr verstand. Gelegentliches Lachen übertönte das allgemeine Gemurmel. Irgendwo spielte Musik. Die Luft war warm und stickig und der Geruch von Rauch deutlich wahrnehmbar. Kiro ging zum Tresen. Dahinter befanden sich an der Rückwand ein paar Bilder von verschiedenen Gerichten die es hier offenbar zu kaufen gab. Kiro deutete auf eine der Abbildungen. „Ich hätte gerne das da“, sagte er zu der Frau, die immer noch damit beschäftigt war Gläser zu befüllen. „Einen Augenblick, Schätzchen. Gleich bin ich für dich da.“ Sie sah nicht einmal zu ihm auf und füllte noch drei weitere Gläser, stellte sie auf ein Tablett und zog dann einen kleinen Notizblock aus der Tasche ihrer Schürze. „So, was darf es denn sein?“ Kiro deutete noch mal auf das Bild. „Zwei Burger mit Fritten und Salat?“ Kiro verstand zwar die Bezeichnung nicht, nickte aber trotzdem. „Auch was zu trinken?“ Kiro überlegte kurz, aber um Verwirrungen zu vermeiden bestellte er nur Wasser. „Alles klar, such’ dir schon mal einen Platz. Ich bringe es dir dann vorbei.“ Damit drehte sie sich um und ließ ihn stehen. Kiro ging zu den Tischen und setzte sich an den ersten unbesetzten. Viele der anderen Tische waren besetzt. Oft nur mit einem oder zwei Personen. Der meiste Lärm schien von einer Gruppe Männer zu kommen, die im hinteren Teil des Raumes ein paar Tische zusammengestellt hatten und nun lachend und grölend feierten. Auf den Tischen standen massenhaft leere Gläser und gerade wurde eine neue Ladung Getränke gebracht. Kiro vermutete stark, dass es sich dabei um etwas Alkoholisches handelte. Laut den Geschichtsaufzeichnungen war Alkohol die am meisten konsumierte Droge dieser Zeitepoche gewesen. Zu Kiros Zeiten war Alkohol schon lange von weitaus stärkeren und verträglicheren Mitteln abgelöst worden und kaum jemand konsumierte ihn noch.

Am Tisch neben Kiro saßen zwei Männer. Der eine trug eine kurze, schwarze Hose und ein schwarzes T-Shirt. Um Hals und Handgelenke trug er Bänder, die mit Metallspitzen besetzt waren. Die ebenfalls schwarzen Haare standen in wirren Strähnen vom Kopf ab. Sein Gesicht war extrem bleich und von vielen Falten zerfurcht. Sein Gegenüber, das Kiro den Rücken zugewandt hatte, trug einen unscheinbaren, braunen Anzug. Ein Aktenkoffer stand neben ihm auf dem Boden. So ordentlich und korrekt er doch gekleidet war, wirkte er seltsam fehlt am Platz in dieser Umgebung. Beide waren in eine gedämpfte Unterhaltung vertieft und Kiro konnte nicht verstehen, worüber gesprochen wurde. In diesem Moment kam die Kellnerin an seinen Tisch. „Ihre Bestellung“, sagte sie knapp und stellte einen Teller und ein Glas vor Kiro hin. Auf dem Bild hatte Alles deutlich größer gewirkt. Er wollte schon etwas sagen, beherrschte sich dann aber. „Das macht 8,50.“ Kiro griff in seinen Beutel, zog ohne hinzuschauen einen Schein aus dem Bündel und reichte ihn der Kellnerin. Sie warf einen kurzen Blick auf den Schein und sagte dann: „Kleiner hast du es wohl nicht?!“ Kiro sah selbst auf den Schein, den er ihr gegeben hatte und verstand. Er hatte ihr einen Schein im Wert von 100 „Was-auch-immer“ gegeben. Er griff nochmals in den Beutel und sah nach, ob er vielleicht einen kleineren Schein finden konnte. Alle Scheine in seinem Beutel hatten jedoch den gleichen Wert. Er versuchte es mit einem mitleidigen Lächeln und schüttelte den Kopf. Die Kellnerin seufzte. „Na gut, dann musst du kurz warten.“ Sie ließ ihn allein und verschwand wieder hinter dem Tresen.

Kiro beobachtete sie. Die Kellnerin ging nicht zu dem Ort, wo sie ihr Geld aufbewahrte. Stattdessen verschwand sie in einer Tür hinter dem Tresen. Ein paar Minuten vergingen. Kiro wurde schon ungeduldig und wollte gerade aufstehen, als sie wieder auftauchte und ihm das Wechselgeld brachte. Kiro hatte Verdacht geschöpft. Irgendetwas stimmte hier nicht. Er ermahnte sich selbst zur Eile und begann sein Essen hinunterzuschlingen. Es schmeckte nicht besonders gut. Mit dem Wasser spülte er alles hinunter. Selbst das hatte einen Nachgeschmack. Kiro überlegte, wie er nun weiter vorgehen sollte. Zunächst brauchte er unbedingt jemanden, der ihn von hier mitnahm. Zu Fuß kam er zu langsam voran und war schutzlos. Die Herausforderung bestand jetzt darin, eine Mitfahrgelegenheit zu organisieren, ohne übermäßig Aufmerksamkeit zu erregen. Er nahm seinen Beutel und stand auf. Rechte neben der Theke ging es zu den Toiletten. Er steuerte auf die Tür zu. Dabei ging er langsam um niemanden unnötig auf sich Aufmerksam zu machen. Das Gefühl, als ob ihn dutzende Augenpaare verfolgen, ließ ihn nicht los. Zügig öffnete er die Tür und verschwand dahinter.

Sofort schlug ihm ein beißender Gestank nach Urin und Exkrementen entgegen. Eigentlich musste er gar nicht, sondern suchte nur einen ruhigen und unbeobachteten Ort um einen klaren Gedanken zu fassen. Kiro öffnete eine der Kabinen und schloss sich ein. Er klappte den Klodeckel herunter und setzte sich darauf. Für einen Moment schloss er die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. Irgendetwas war zu tun, aber was? Er öffnete seine Augen wieder und holte die Plastiktüte hervor. Ihren Inhalt schüttete er in seinen Schoß. Außer dem Geld und dem Zettel waren da noch drei andere Dinge: Eine kleine, silberne Münze mit einem viereckigen Loch in der Mitte, ein Schlüsselbund mit zwei Schlüsseln, einem kleinen und einem großen, und ein kleines, glänzendes Kästchen. Kiro nahm es in die Hand und drehte es in alle Richtungen. Die Ecken waren abgerundet und etwa auf halber Höhe verlief eine feine Ritze um das Kästchen herum. An der schmaleren Seite befand sich ein winziges Scharnier. Vorsichtig klappte Kiro es auf. Es ratschte leicht und der Deckel klappte auf. Eine helle Flamme schoss aus der Öffnung in die Höhe. Dies war ein Feuerzeug. Es konnte noch nützlich sein. Er verstaute alle Dinge in seinem Mantel und ließ den Beutel in der Ecke liegen. So wäre er weniger auffällig. Gerade wollte Kiro aufstehen, als er hörte, wie die Tür des Toilettenraums geöffnet wurde und jemand hereinkam. Gleich darauf waren das Ratschen eines Reißverschlusses und das Plätschern von Wasser zu hören.

„Und dann hat er tatsächlich geglaubt, dass ihm die Versicherung den Schaden ersetzen würde. Wo es doch offensichtlich war, dass er die Karre manipuliert hatte.“ Ein tiefes, männliches Lachen folgte. Eine andere Stimme sprach nun. „Hast du den Typen gesehen, der vorhin rein gekommen ist? Den mit dem komischen Umhang?“ „Jaa, genau. Der kam mir gleich seltsam vor. Habe gerade mit Tina gesprochen. Sie hat schon den Sheriff gerufen. Er soll ihn sich mal genauer anschauen.“ Der andere lachte wieder. „Es laufen schon komische Typen heutzutage hier rum. Da muss man die Augen offen halten, sonst haben die dir schneller die Kehle durchgeschnitten, als du dich umdrehen kannst. Wenn der Sheriff mit ihm fertig ist, lässt der sich auf jeden Fall hier nicht mehr so schnell wieder blicken.“ Jetzt lachten beide. Kurz darauf klappte die Tür zu und es war still. Kleine Schweißperlen hatten sich auf Kiros Stirn gebildet. Die kurze Unterhaltung bestätigte ihm, was er vermutet hatte. Hier war er alles andere als sicher. Vorsichtig öffnete er die Tür ein Stück um zu sehen, ob die Luft rein war und kam dann aus der Kabine. Am Ende des Raumes neben den Waschbecken war ein kleines Fenster. Gerade groß genug um sich hindurchzuzwängen. Vielleicht könnte er auf diese Weise ungesehen entkommen. Kiro versuchte es zu öffnen, aber es war mit einem Gitter und einem alten, ziemlich verrosteten Vorhängeschloss verriegelt. Plötzlich kam ihm eine Idee. Er holte das kleine Schlüsselbund hervor. Der große Schlüssel würde nicht hineinpassen, aber vielleicht der kleine. Vorsichtig probierte er es. Er musste zwar etwas drücken, aber dann glitt der Schlüssel in das Schloss. Als er versuchte ihn zu bewegen, leistete das Schloss zunächst Widerstand, aber als er kräftiger drehte, löste sich der alte Zylinder unter leisem Quietschen. Rost rieselte auf die Fensterbank. Verfall. Kiro zog am Bügel und das Schloss sprang auf. Schlüssel und Schloss verstaute er in seiner Tasche und zog dann das Gitter auf. Das Fenster ließ sich leicht nach oben schieben und sofort wehte ihm kühle und vor allem frische Abendluft entgegen. Nach dem Gestank in der Toilette war das eine wahre Wohltat. Inzwischen war es vollkommen dunkel geworden. Das Fenster befand sich nur etwa zwei Meter über dem Boden und so konnte Kiro, nachdem er sich hindurchgedrückt hatte, leicht hinunter springen. Er landete unsanft auf einigen Müllsäcken und wäre um ein Haar der Länge nach auf den Boden geschlagen, konnte sich aber in letzter Sekunde an einem Zaun festhalten. Gitter und Fenster zog er sicherheitshalber noch zu und ging dann hinten um das Gebäude herum. Nach ein paar Metern begann der Parkplatz, an den sich die Auffahrt zur Straße anschloss. Immer wieder verließen Autos den Parkplatz. Kiro ging hinüber und blieb unschlüssig stehen. Noch hatte er keine klare Vorstellung, wie er jemanden dazu bringen sollte ihn mitzunehmen.

Diese Frage erübrigte sich jedoch schon ein paar Augenblicke später. Mit quietschenden Reifen hielt ein Auto neben Kiro. Im ersten Moment war er so erschrocken, dass er wie angewurzelt stehen blieb. Das Auto, was jetzt mit laufendem Motor neben ihm stand, war ebenso faszinierend wie verrückt. Das Dach, die zwei Türen, die er sah, sowie die Motorhaube hatten jeweils unterschiedliche Farben. Vorne war außerdem eine riesige gelbe Blume aufgemalt. Noch bevor er das Auto noch weiter bewundern konnte, wurde eine Scheibe heruntergekurbelt und ein dunkelhäutiger Mann mit einer komischen Frisur beugte sich heraus. „Hey Mann, du siehst so verloren aus. Können wir dich irgendwo hin mitnehmen?“ Der Mann grinste breit. Aus seinem Mund hing schlaff eine selbst gedrehte Zigarette. Neben ihm am Steuer des Wagens saß ein weiterer Schwarzer. Aus dem Wagen drang laute Musik. Der Fahrer wippte im Takt vor und zurück. Gleichzeitig trommelte er mit seinen Händen auf das Lenkrad. Kiro war sich unsicher was er sagen sollte. Zwar sahen sie nicht besonders gefährlich aus, aber die beiden Typen und das Auto zogen die Aufmerksamkeit geradezu auf sich. „Wohin fahrt ihr?“ Kiro beugte sich herunter um sich gegen die Musik verständlich zu machen. Der Schwarze drehte sich kurz um und die Musik wurde leiser. „Kommt drauf an. Wohin willst du denn?“ Kiro griff in seine Tasche und holte den Zettel heraus. Er gab ihn dem Mann. Der studierte kurz die wenigen Zeichen die in feiner Handschrift darauf standen und sah ihn dann schief an, wobei er die linke Augenbraue hochzog. „Bist du krank?“ Kiro begriff nicht. „Oder warum willst du ins Krankenhaus?“ Das war es also. Kiro wurde auf einmal klar, wie dieser Zettel ihm helfen würde Nadja zu finden. Sie lag in einem Krankenhaus. Ein wenig war er erleichtert. Er kam voran. „Könnt ihr mich dahin mitnehmen?“ Der Schwarze beugte sich zu seinem Kollegen und sie wechselten ein paar Worte. Dann wendete er sich wieder Kiro zu. Ein breites Lächeln ließ eine Reihe schneeweißer Zähne erkennen. „Klar, spring hinten rein! Aber du musst dir wahrscheinlich erstmal Platz schaffen. Wir werden eine Weile unterwegs sein.“ Dankbar öffnete Kiro die hintere Tür und stieg ein. Er hatte sie noch nicht wieder hinter sich geschlossen, als sie schon mit durchdrehenden Reifen losfuhren. Kurz nach der Ausfahrt passierten sie ein Schild. Es war grün und auf ihm stand in weißer Schrift: „New York: 844“.

 

30

 

Nadja hatte die Nacht unruhig verbracht. Sie lag im Bett und wartete auf die Schwester, die ihr bei ihrem zweiten Versuch aufzustehen, helfen sollte. Die Sonne war vor zwei Stunden aufgegangen und seitdem war Nadja hellwach. Eine unsichtbare Kraft schien sie zu treiben. Sie spürte, dass es bald Zeit sein würde wieder aufzubrechen. Die Schwester hätte längst hier sein müssen. Sie verspätete sich. Ungeduldig rutschte Nadja ein Stück nach oben und versuchte an den Hebel zu kommen, der das Kopfende des Bettes hob. Gerade hatte sie ihn erreicht, als die Tür aufging und die Schwester hereinkam. Als sie sah, wie Nadja sich mit dem Hebel abmühte, kam sie heran und half ihr. „Das müssen sie doch nicht allein tun. Wofür sind wir denn da?“ Ihr Lächeln konnte Nadja nicht mehr täuschen. Sie spürte die Falschheit der Frau fast schon körperlich. Die Schwester hatte einen Rollstuhl mitgebracht. So ein Ding hatte Nadja noch nie gesehen. „Dann wollen wir mal probieren, ob es heute mit dem Aufstehen klappt.“ Sie schlug Nadjas Decke zurück und half ihr erst das eine und dann das andere Bein langsam aus dem Bett zu heben, sodass sie sich aufsetzen konnte. Das ging schon bedeutend besser, als noch vor ein paar Tagen, aber noch immer waren die Schmerzen so groß, das Nadja die Zähne zusammenbeißen musste. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Für die Schwester, dachte sie, wäre es wohl das Schwierigste sie aus dem Bett zu heben, aber da hatte Nadja sich getäuscht. Für einen kurzen Moment vergaß sie ihre Schmerzen, als sie in geübtem Griff angehoben und vorsichtig in den Rollstuhl gesetzt wurde. Die Schwester hatte ihre Verblüffung offenbar bemerkt und lächelte wieder. „Bei ihrem Leichtgewicht macht das ja schon fast Spaß.“ Nadja errötete etwas und in dem Moment als sie ihre Beine auf die Fußablagen des Stuhls stellte, kamen die Schmerzen zurück. Ihre Knie, die solange nicht benutzt worden waren, rebellierten mit heftigen Schmerzen. Immer noch blieb Nadja still.

Einen Moment schien die Schwester zu zögern, dann hellte sich ihre Miene aber wieder auf und sie sagte: „ Nun, das lief ja schon viel besser. Was halten sie davon, wenn wir ein bisschen herumfahren?!“ Eigentlich war das gar keine Frage gewesen und Nadjas Nicken bekam die Schwester gar nicht mehr mit, denn sie hatte sich schon umgedreht und die Tür geöffnet. In zügigem Tempo verließen sie das Zimmer und rollten auf den Gang hinaus. Das war das erste Mal, seitdem Nadja hier war, dass sie ihr Zimmer verlassen durfte und dementsprechend war sie gespannt darauf, was sie erwarten würde. In dem kahlen Flur gab es aber nicht viel zu sehen. Überall waren in regelmäßigen Abständen Türen zu anderen Zimmern, aber keine von ihnen war geöffnet. Am Ende des Korridors wandten sie sich nach rechts und vor einer Metalltür ließ die Schwester sie kurz stehen um auf einen Knopf an der Wand zu drücken. Nadja entspannte sich etwas. Aufzüge waren ihr bekannt. Es dauerte einige Minuten, bis sich die Türen schabend öffneten und sie in den Aufzug geschoben wurde. Zu Nadjas Zeit ging das deutlich schneller. Die Schwester drückte auf den Knopf für das Erdgeschoss und nachdem sich die Türen wieder geschlossen hatten, setzte sich der Aufzug mit einem Ruck in Bewegung. „Wie haben sie denn heute Nacht geschlafen?“ Die Frage der Schwester riss Nadja aus ihren Gedanken. „Gut“, log sie. Im Moment hatte sie keine Lust auf ein Gespräch mit dieser Person. Der Fahrstuhl stoppte und das Licht hinter dem Knopf, auf den Nadja die ganze Zeit über gestarrt hatte, erlosch. Die Türen öffneten sich wieder und Nadja wurde in ein von Licht durchflutetes Foyer geschoben. Überall liefen geschäftig Menschen umher. Hier und da standen kleine Sitzgruppen. Durch die verglasten Wände hatte man einen direkten Blick nach draußen, was das Foyer größer wirken ließ, als es tatsächlich war.

Am Empfang vorbei schob sie die Schwester zu einer Tür, die nach draußen in einen kleinen Park führte, der sich an das Foyer anschloss. Als sie in die frische Luft des Vormittags hinaustraten, schloss Nadja für einen Moment ihre Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Ein paar Vögel zwitscherten und von der Straße her waren die gedämpften Geräusche vom Verkehr zu hören, aber sonst war es sehr still. Diesen einen Moment wollte Nadja ganz für sich allein. Sie wurde noch ein kleines Stückchen weiter geschoben und nach einer Biegung des Weges, an einer Bank, hielt die Schwester an. „Ich lasse sie einen Moment alleine. Ist das in Ordnung für sie?“ Nadja nickte und die Schwester ging den Weg zurück. Sie war jetzt wieder allein. In diesem Moment kamen ihr die Tränen. Alles stürzte auf einmal auf sie ein. Die Schmerzen, ihre Hilflosigkeit und die Isolation. Vor allem die Einsamkeit war kaum zu ertragen. Bisher war ihr noch nie so bewusst geworden, wie sehr sie ihre Freunde vermisste. Vor allem Kiro, der auf sie eine besondere Anziehungskraft ausübte. In diesem Moment legte sich eine Hand auf ihre Schulter.

 

31

 

Sie waren die ganze Nacht hindurch gefahren. Trotz der vielen Flaschen und dem wilden Durcheinander von Kleidungsstücken und leeren Pappkartons auf der Rückbank hatte Kiro sich etwas Raum schaffen können und später sogar Schlaf gefunden. Die beiden Schwarzen stellten sich als Tom und John vor, was ihrerseits sofort einen Lachanfall von beängstigenden Ausmaßen nach sich gezogen hatte. Tom erzählte, dass sie seit etwa einem halben Jahr durch das ganze Land unterwegs waren. Ihre Heimat war das Auto und auf der Straße fühlten sie sich wohl. Handlangerarbeit fanden sie fast überall und so konnten sie sich ein solches Leben leisten. Während sie Kiro abwechselnd ihre Lebensgeschichte erzählten, kam er langsam zur Ruhe und konnte sich entspannen. Das erste Mal seit einer langen Zeit fühlte er sich wieder sicher. Die Beiden schienen sich auch gar nicht weiter dafür zu interessieren, wer Kiro war oder was er vorhatte. Die Rolle des Zuhörers nahm er gerne an und so blickte er aus dem Fenster und ließ die nächtliche Landschaft sowie den anhaltenden Redestrom an sich vorüberziehen.

Immer wieder hellten die Lichtkegel von entgegenkommenden Fahrzeugen die Umgebung auf oder Leuchtreklamen zogen vorbei. Dies war eine seltsame Welt. Vieles hatte sie gemeinsam mit der Welt aus der Kiro kam, aber manches war auch grundverschieden und sehr seltsam. Der allgegenwärtige Prozess des Verfalls war deutlich zu erkennen. Wenn dies wirklich die Vergangenheit seiner Realität war, dann erschauderte er bei der Vorstellung, dass der Prozess schon so lange im Gange war. Manches konnte man sehen, vielleicht sogar eine ganze Menge. Der weitaus größte Teil des langsamen und stetigen Verfalls lief aber im Geist der Menschen ab. Das Vibrieren des Motors und die nun leiser gewordenen Gespräche der beiden Männer auf den Vordersitzen kamen bald nur noch von ferne. Bald drangen nur noch Bruchstücke an Kiros Ohr und kurz darauf war er eingeschlafen.

 

Er träumte wieder. Zusammen mit Nalataja, die nun ebenso gekleidet war wie auf dem Bild in dem Gasthaus, ging er durch einen wunderschönen Garten. Überall blühten die herrlichsten Blumen und die Fülle der Farben war überwältigend. Tiere, ein Wasserfall und der blaue Himmel über seinem Kopf gaben ihm das Gefühl im Paradies zu sein. Es herrschte eine solche Harmonie, wie Kiro sie sich nicht in seinen kühnsten Vorstellungen hätte ausmahlen können. Eine tiefe Freude durchdrang ihn wie ein warmer Strom. „Einst war alles Gut.“ Kiro wandte sich zu Nalataja um, die zu sprechen begonnen hatte. „Es hätte die vollkommene Perfektion sein können. Doch dann kam Er.“ Vor ihnen tauchte aus dem Nichts ein Mensch auf. Er war nackt. „Und mit ihm kam der Verfall.“ Sie senkte den Kopf. Eine einzelne Träne quoll aus ihrem Auge, lief an ihrem perfekten Gesicht herunter. Über ihre Wange, ihr Kinn, verharrte kurz und löste sich. Wie in Zeitlupe fiel sie zu Boden. In dem Moment, als sie auf dem saftigen Grün der Wiese, auf der sie standen, aufschlug, verfinsterte sich der Himmel. Kiro schaute auf. Eine große Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben und sie vollkommen verdeckt. Die Landschaft um ihn herum begann zu ergrauen. Wie im Zeitraffer verloren die Bäume ihre üppige Blätterpracht und der Fluss, der eben noch fröhlich neben ihnen geplätschert hatte, trocknete aus. Nur graue rissige Erde blieb zurück. Ein Wind kam auf und Kiro begann zu frieren. Eine Hand berührte behutsam seine Schulter und er blickte wieder zu Nalataja, die sich ihm zugewandt hatte. Ihre Kleidung war jetzt anders. Aus dem prachtvollen Gewand war ein einfaches, graues Kleid geworden. Auch ihre Krone war verschwunden. Allein ihr Gesicht war noch so schön wie eh und je. Ihr Haar flatterte im Wind. „Verzeih mir, Kiro, aber ich bin nur eine Botschafterin. Ein Werkzeug der Quelle. So wie wir alle. Der Plan, der in Allem steckt wird bald zur Vollendung kommen. Es braucht Kraft und Mut und … Opfer.“ Nalataja trat eine Schritt auf ihn zu und küsste ihn sanft auf die Wange.“ Der Kuss brannte wie Feuer und Kiro wachte auf.

 

Im ersten Moment blendete ihn gleißendes Sonnenlicht und er blinzelte verschlafen. Nach einigen Augenblicken sah er deutlicher. Sie fuhren durch eine Stadt. An Kiro glitten Häuser und Läden mit verschiedensten Auslagen vorbei. An einer Kreuzung blieben sie stehen. Hier war eine große Baustelle. Mehrere Kräne hoben Stahlträger und anderes Material in eine tiefe Grube, deren Wände abgestützt waren. Fasziniert beobachtete Kiro die Arbeiter, die sich gegenseitig zuwinkten und so die Kräne dirigierten. Am Rand der Grube stand eine Gruppe von Männern in feinen Anzügen. Sie hatten alle gelbe Schutzhelme auf dem Kopf, was ein überaus lustiges Bild abgab. Hohe Gitter umgaben die gesamte Baustelle.

„Ist unser Dornröschen endlich aufgewacht!“, dröhnte es mit einem Mal. Ein Lachen folgte und Kiro blickte nach vorne. Tom winkte ihm im Rückspiegel zu. Im gleichen Moment wurde die Ampel grün und sie fuhren an. „Sind wir da?“ Kiro beugte sich zwischen den beiden Sitzen nach vorne. „Fast, aber du hast ja keine Verabredung, oder?“ Tom grinste breit. Er hatte schon wieder eine selbst gedrehte Zigarette im Mund. In der Hand hielt er eine knisternde Tüte, in die er hineingriff und ein paar gelbe, flache Dinger herausholte, die er sich in den Mund steckte. Beim Kauen knackte und knirschte es. Tom hielt Kiro die Tüte hin. Der wollte schon ablehnen, spürte dann aber seinen Hunger und griff zu. Es schmeckte zwar nicht schlecht, aber ihm war im Moment eher nach etwas anderem. Die Fahrt ging weiter und sie kreuzten eine Straße nach der anderen. Offenbar waren die Straßen hier wie in einem Gitternetz angelegt. Je weiter sie kamen, desto höher wurden die Gebäude. Zwar kannte Kiro Hochhäuser, jedoch war dies hier etwas völlig Anderen. Zu seiner Zeit war die Luft voller Dunst und Dreck, sodass man in der Höhe kaum etwas erkennen konnte, hier jedoch war die Luft klar und gab den Blick frei auf die gläsernen Fassaden prächtiger Bauwerke. Am blauen Himmel zogen nur vereinzelt ein paar Wolken entlang. „John hat einen alten Schulfreund von uns angerufen. Den besuchen wir jetzt.“ Er wandte sich, wieder grinsend, zu Kiro um. „Wir sind ziemlich flexibel.“ „Seid ihr die ganze Nacht gefahren?“ „Ja, aber wir haben uns abgewechselt. Außerdem gibt’s ja immer noch die hier!“ Er hob eine Dose vom Boden des Wagens auf und hielt sie hoch. Auf ihr war ein roter Blitz zu sehen. Den aufgedruckten Namen konnte Kiro nicht lesen, spekulierte aber, dass es sich um ein Getränk handelte, das eine stark wach machende Wirkung hatte.

Sie bogen rechts ab und wenig später fuhren sie links weiter. „Da vorne ist es.“ John deutete auf einen Gebäudekomplex vor ihnen. Er war von Hochhäusern umgeben, jedoch nicht ganz so hoch wie seine Nebengebäude. Gespannt blickte Kiro aus dem Fenster, während sie sich weiter näherten. Sie fuhren die breite Einfahrt hoch und hielten an. Vor dem Gebäude war viel Betrieb. Ein großer Wagen mit roten und weißen Blinklichtern auf dem Dach hielt vor dem Eingang und aus dem hinteren Teil wurde jemand auf einem Bett herausgehoben und dann in das Gebäude hineingerollt. Zwei grün gekleidete Männer begleiteten das Bett. „So, da wären wir. War uns eine Freude dich kennen zu lernen.“ Beide schüttelten sie ihm die Hand. „Wenn du Lust hast, dann kannst du uns mal besuchen, solange wir noch in der Stadt sind.“ Tom kritzelte etwas auf einen Zettel und gab ihn Kiro, der ihn geistesabwesend einsteckte und nur nickte. „Du brauchst einfach nur danach zu schauen, wo der Rauch aufsteigt!“ Mit einer Lachsalve als Abschiedsgruß stieg Kiro aus und schon fuhren der Wagen mit durchdrehenden Reifen wieder los. Einmal hupten sie noch und waren dann schon um die nächste Ecke verschwunden.

Kiro hatte ihnen bis zuletzt nachgeschaut und glaubte jetzt seinen Augen nicht zu trauen, als ihm langsam bewusst wurde, was er soeben an der Stoßstange ihres Autos gesehen hatte, kurz bevor es außer Sicht gewesen war. Statt eines Nummernschildes, wie alle Autos, die er bisher gesehen hatte, war an ihrem Auto an dieser Stelle nur ein Symbol gewesen. Es war kein Unbekanntes gewesen, sondern dasselbe, was ihm schon einige Male in den vergangenen Tagen begegnet war. Ein Kreis mit einem Dreieck – Nalatajas Zeichen. Bei ihrer ganzen Grausamkeit hatte sie ihm schließlich doch geholfen. Ihr Einfluss reichte weiter als er gedacht hatte. Kiro drehte sich um und ging die wenigen Stufen zum Eingang hinauf. Er trat durch die Tür und stand im Empfangsbereich des Krankenhauses. Viele Menschen waren hier unterwegs. Er suchte nach einer Möglichkeit, Informationen einzuholen und entdeckte eine Dame hinter einem Schalter rechts neben dem Eingang. Auf dem Weg dorthin wäre er fast mit einer alten Frau zusammengestoßen, der er im letzten Moment gerade noch ausweichen konnte. Es schien so, als ob sie ihn einfach ignoriert hätte. Laut schimpfend zog sie davon. Ihre roten Augen blickten ihm hasserfüllt nach. Die Dame hinter der Informationstheke sah nur kurz auf, als er vortrat. „Was kann ich für sie tun?“ Kiro überlegte kurz, was er sagen sollte und entschied sich dann für den direkten Weg. „Ich suche nach einer Patientin. Ihr Name ist Nadja Chantalos.“ „Einen Augenblick bitte.“ Sie blätterte in einem dicken, schwarzen Ordner, hielt kurz inne und sah ihn über ihre Brille hinweg streng an. „Sind sie mit der Patientin verwandt?“ Kiro, der nicht mit dieser Frage gerechnet hatte, zögerte kurz und nickte dann. Die Frau zog die Stirn in Falten, blätterte dann aber weiter in ihren Unterlagen. Am Ende des Ordners angekommen, sah sie wieder zu ihm auf. „Sind sie sicher, dass diese Person in dieses Krankenhaus eingeliefert wurde? Ich kann niemanden mit diesem Namen finden!“ Kiro spürte, wie Panik in ihm aufstieg. „Können sie bitte noch einmal schauen, ich bin mir absolut sicher.“ Seine Stimme bebte leicht. Wenn nicht hier, wo sollte er Nadja dann finden? Die Frau seufzte, blätterte aber noch einmal von vorne ihren Ordner durch. Unruhig sah sich Kiro um. Auf einmal hatte er einen Kloß im Hals. „Nein tut mir leid. Unter diesem Namen kann ich keinen Patienten finden.“ Sie sah ihn mitleidsvoll an. „Vielleicht ist sie in ein anderes Krankenhaus eingeliefert worden. Probieren sie es doch mal im St. Johns.“ Kiro war benommen von ihrer Auskunft und starrte weiter auf den Ordner. Er glaubte ihr nicht und wollte selbst in ihren Unterlagen nach Nadja suchen. Die Dame räusperte sich. „Wenn sie keine weiteren Fragen mehr haben, dann würde ich sie bitten für den Nächsten Platz zu machen.“ Kiro drehte sich um. Hinter ihm hatte sich eine kleine Schlange gebildet. Enttäuscht verließ er den Infobereich und ging auf eine Sitzgruppe in der Nähe der verglasten Wand zu. Er ließ sich in einen weichen Sessel fallen und blickte hinaus in den Park, der sich an das Foyer anschloss. Ihm gingen die Optionen aus. Er konnte schlecht das gesamte Krankenhaus nach Nadja absuchen. Das würde bei Weitem zu viel Aufmerksamkeit erregen und dann hätte er wohl einige unangenehme Fragen zu beantworten. Er wusste ja nicht einmal, ob er überhaupt am richtigen Ort war, oder ob ihn die beiden verrückten Schwarzen nicht einfach an irgendeinem Krankenhaus abgesetzt hatten. Er schloss die Augen und versuche seine Gedanken zu fokussieren. Was war als Nächstes zu tun? Er rief sich Nadjas Gesicht vor sein geistiges Auge. Die Erkenntnis durchzuckte ihn wie ein Blitz. Sie war in der Nähe. Er spürte es deutlich.

Kiro riss die Augen auf und erhob sich mit einem Ruck. Er blickte umher. Es waren einfach zu viele Menschen hier. Er ließ sich von seinem Instinkt leiten, verließ die Sitzgruppe und ging an der Glasfassade entlang, den Blick nach draußen gerichtet. Mit wachsamen Augen suchte er die Straße und den Park ab. Gerade wollte er sich wieder dem Foyer zuwenden, als er die Tür nach draußen entdeckte. Er zögerte einen Moment, trat dann aber durch die Tür ins Freie. Er folgte dem Weg tiefer in den Park. Hier war kaum jemand unterwegs. Immer wieder standen Bänke am Weg. Die Meisten waren leer. Mit dem Rücken zu ihm stand da nur ein Rollstuhl, in dem eine zusammengesunkene Gestalt saß. Kiro konnte nur ihre Haare erkennen. Sie bewegten sich im Wind. Das kam ihm bekannt vor und er ging auf den Rollstuhl zu. Als er ganz nahe war, bemerkte er, wie die Frau im Rollstuhl leise weinte. Ihr Gesicht hatte sie in einer Hand verborgen. Die andere Hand war verbunden. Kiro blieb stehen. Sie musste es sein. Er war sich sicher. Behutsam legte er ihr seine Hand auf die Schulter. Ein Gefühl umfassender Freude begann sich in ihm auszubreiten. Noch bevor Nadja zu ihm aufsah, wusste Kiro, dass er sie gefunden hatte. Ihr Gesicht war rot und ganz feucht von Tränen. Im ersten Moment starrte sie ihn nur ungläubig an und schien nicht zu begreifen, aber dann weiteten sich ihre Augen. Selbst mit ihren rot geweinten Augen und dem verquollenen Gesicht war sie für Kiro immer noch wunderschön. Er beugte sich zu ihr hinunter und noch bevor sie irgendetwas sagen konnte umarmte Kiro sie. Lange hielten sie sich aneinander fest. Kiro empfand in diesem Moment nur Dankbarkeit und Freude. Nadja ging es nicht anders. Sie konnte nicht glauben, dass genau in diesem Moment der größten Verzweiflung ihr tiefster Wunsch in Erfüllung gegangen war. Aber er war Wirklichkeit. Kiro hatte sie gefunden.

 

Der Schatten

 

Der Schatten hatte eine neue Spur. Der Großteil der Gruppe schien vorerst außerhalb seiner Reichweite zu sein, aber sie hatten sich anscheinend getrennt. Seinen wachsamen Ohren war das Geflüster der Spione nicht entgangen. Sie überwachten die Übergänge zwischen den Ebenen. Nur noch selten benutzte jemand die alten Wege. Auf diese Weise waren sie auf seine Spur gekommen. Fast hätten sie ihn sicher gehabt, aber er war ihnen entwischt. Das beunruhigte den Schatten jedoch nicht weiter. Er würde sich nun selbst auf die Jagd machen, jetzt, wo er eine frische Spur hatte. Auf diese Weise würde seine Befriedigung noch größer sein wenn er ihn fing. Er machte sich auf den Weg. Die Unzuverlässigkeit seiner Diener würde nicht ohne Folgen bleiben. Die Sonne war gerade aufgegangen, als er wie aus dem Nichts nahe der Auffahrt zur Tankstelle an der Landstraße auftauchte. Das Schild mit der Leuchtreklame drehte sich noch. In diesem Moment erloschen die Lichter.

 

32

 

Für Martin, Wartins, Mugh und den Stillen war die Zeit unendlich langsam vergangen. Seit Kiro am Thron verschwunden war, hatten sie kein Lebenszeichen mehr von ihm erhalten. Viele Stunden waren vergangen und es war dunkel geworden. Die Nacht hatten sie unruhig verbracht. Sie hielten wieder in Schichten Wache, wobei das einzige Licht das schwache Leuchten war, das vom Thron ausging. In dem weitläufigen Saal sorgte das für eine gespenstische Stimmung, denn es verlor sich schon nach wenigen Metern in der Dunkelheit. Die Säulen warfen lange Schatten. Die Stille, die zunächst gar nicht so unangenehm gewesen war, entwickelte sich langsam zu einer zermürbenden Qual. Die Temperatur im Saal war nach dem Untergang der Sonne bald merklich gefallen, sodass sie nun auf dem harten Steinboden eng beieinander lagen.

Als der Morgen langsam begann zu grauen, war Mugh auf seinem Wachposten schon fast eingeschlafen. Mit dem Rücken lehnte er an der Barriere und von dem leichten Kribbeln, welches das unsichtbare Feld an seinem Rücken bewirkte, fielen ihm gerade langsam die Augen zu, als er mit einem Mal den Halt verlor und nach hinten fiel. Wild mit den Armen rudernd konnte er aber nichts mehr dagegen unternehmen, dass er hart mit dem Kopf auf dem Boden aufschlug. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen, aber dann rappelte er sich wieder auf und rieb sich seinen schmerzenden Hinterkopf. Warum musste immer ihm so was passieren. Erst jetzt wurde ihm langsam bewusst was eigentlich geschehen war. Er saß auf dem Boden, jedoch befand er sich etwa einen Meter außerhalb der Barriere. Vorsichtig bewegte er seine Hand nach vorne. Stück für Stück. Keine unsichtbare Wand, nichts. Die Barriere war verschwunden.

Aufgeregt weckte er die Anderen, was recht einfach war, da niemand wirklich tief geschlafen hatte. Nachdem sei aufgestanden hatte, prüften sie noch einmal in allen Richtungen nach, ob der Weg wirklich frei war. Zum Thron hin gab es keine Barriere mehr, jedoch versperrt eine Wand immer noch den Rückweg. Sie verlief quer durch den Raum. Als sie den Thron umrundet hatten fanden sie ihn leer. Ratlos standen sie vor dem steinernen Gebilde und keiner wusste so recht etwas zu sagen. In diesem Moment horchte Martin auf. Er hatte etwas gehört. Wartins hörte es auch und drehte sich um. Das Geräusch von Schritten hallte durch den Saal. Erst leise und dann immer lauter. Aus dem Halbdunkel der Umgebung löste sich allmählich ein Umriss heraus. Jemand kam auf sie zu. Erst als die Person bis auf wenige Meter herangekommen war und dann stehen blieb, konnte Martin sie genauer erkennen. Es war ein alter Mann. Sein Gesicht war faltig und auf seinem Kopf trug er nur noch einzelne weiße Haarsträhnen, die nach hinten gekämmt waren. Er trug einen schwarzen Anzug und hatte die Hände hinter seinem Rücken verschränkt. Während die Gruppe ihn noch anstarrte, begann er zu sprechen. „Wenn die Herrschaften mir bitte folgen würden.“ Seine Stimme war fest und bestimmend, aber doch auf eine Weise angenehm. Er weiß mit der Hand in die Richtung, aus der er gekommen war und ging, nachdem er kurz gewartet hatte, voraus. Martin fiel auf, dass er beim Gehen ein klein wenig zu humpeln schien. Der Alte war schon ein Stück vorausgegangen, als Martin sich in Bewegung setzte. Wartins hielt in an der Schulter fest. „Was hast du vor?“, zischte er Martin zu. „Ihm folgen“, sagte Martin kühl, „Oder willst du hier vergammeln?“ Wartins ließ ihn los, sagte aber nichts mehr. Martin ging weiter und seine Freunde folgten ihm.

So durchquerten sie, einer nach dem anderen, die andere Hälfte der Halle. Wartins ging zuletzt. Er hatte noch immer kein gutes Gefühl bei der Sache. Der Stille hielt den Knaben an der Hand, der still neben ihm herlief und keinen Laut von sich gab. Die rückwärtige Wand kam immer näher und jetzt erkannt Martin, worauf sie zugingen. Unmittelbar vor ihnen befand sich eine unscheinbare Tür an der Mauer. Sie bestand aus Metall und war fast vollständig von Rost überzogen. Als der Alte bei ihr anlangte, legte er die Hand auf die Klinke und drehte sich zu seiner Nachhut um. „Sein sie vorsichtig. Unter Umständen ist es glatt. Dieser Weg wird nicht mehr oft benutzt.“ Mit einer schwungvollen Bewegung zog er die Tür auf. Sie öffnete sich kreischend und sofort schlug ihnen ein fauliger Geruch entgegen. An die Tür schloss sich ein Gang an. Er verlief abwärts und seine Wände bestanden aus grob behauenen Steinen, die mit einer dünnen Moosschicht überzogen waren. Hier und da sprossen kleine Pilze aus den Ritzen zwischen den unregelmäßig geformten Steinen. Eine Treppe führte nach unten. Die Stufen glänzten feucht und es gab kein Geländer, an dem man sich hätte festhalten können. Der alte Mann war neben der geöffneten Tür stehen geblieben und hielt die Arme wieder hinter dem Rücken verschränkt. „Sie können gerne hier verweilen und sich überlegen was sie tun wollen, aber diese Passage wird sich in etwa einer Minute für immer schließen. Dies wäre dann ihr sicherer Tod.“ Er wartete kurz, schob den Ärmel seines Jacketts hoch und blickte auf eine altertümliche Armbanduhr. Er nickte. „55 Sekunden habe sie noch.“

Martin stieg als Erster in den niedrigen Gang. Er musste sich ein wenig bücken. Offenbar hatten die Erbauer mit weniger großen Menschen gerechnet, als sie dies hier errichtet hatten. Unterschwellig fragte er sich, ob der Gang überhaupt für Menschen gemacht war. Mugh, der Stille und das Kind, was dieser immer noch an der Hand hielt, folgten ihm. Der Gang war gerade so breit, dass zwei Personen eng nebeneinander Platz hatten. Als Wartins gerade nachkommen wollte, trat der Alte blitzschnell einen Schritt vor und versperrte den Zugang. Mit einem metallischen Knall fiel die Tür ins Schloss und war Sekundenbruchteile später verschwunden. „Ihr Weg endet hier.“ Die Stimme des Alten war immer noch bar jeglicher Gefühlsregung. „So ist es entschieden worden.“ Wartins wollte etwas sagen, doch im selben Moment gaben seine Beine nach und er brach tot zusammen. Der alte Mann betrachtete den Leichnam mit ausdruckslosen Augen. Innerhalb weniger Augenblicke verweste der Körper vollständig. Zurück blieben nur ein unregelmäßiger Haufen Staub und einige Münzen, die Wartins wohl in seiner Tasche aufbewahrt hatte. Mit einer raschen Bewegung zog der Mann seine Krawatte zurecht, hustete kurz und wandte sich dann ab. In seinem humpelnden Gang entfernte er sich mit zügigen Schritten. Schon nach wenigen Metern wurden seine Umrisse transparent und seine Gestalt verschwand im Zwielicht des Saals. Es schien fast so, als ob er niemals existiert hätte. Stille senkte sich wieder über den Thronsaal.

 

Auf der anderen Seite der Tür starrten Martin, Mugh und der Stille auf eine massive Wand. An der Stelle, wo eben noch ein Durchgang gewesen war, befand sich jetzt eine glatte, steinerne Fläche ohne jede Fuge. Das Geräusch der zufallenden Tür hatte sie schlagartig herumfahren lassen und erst im nächsten Moment fiel Martin auf, dass jemand fehlte. Mugh sprang zur Wand und schlug wild mit den Fäusten dagegen. Immer wieder rief er Wartins’ Namen. Aber das half alles nichts. Kein Laut drang zu ihnen durch. Die Wand war dick und massiv. Martin war paralysiert. Er wusste nicht, was er tun sollte. Der Junge, den der Stille an der Hand hielt fing an zu wimmern. Der Stille merkte erst jetzt wie stark er die Hand des Kindes drückte und lockerte seinen verkrampften Griff. Martin senkte den Blick. Das Gefühl von grenzenloser Ohnmacht und der Schock saßen tief. Langsam drehte er sich um und stieg weiter die Treppe hinab. Mugh hatte es aufgegeben zu rufen. Sein Atem ging schwer. Der Stille und schließlich auch Mugh schlossen sich Martin an. Schweigend stiegen sie immer tiefer herunter. Martin kam es vor, als ob sie in ein Grab hinabsteigen würden. Wieder war jemand aus ihrer Gruppe gewaltsam herausgerissen worden. Die Luft wurde stetig feuchter und gleichzeitig stieg die Temperatur. Die Moose und Flechten an den Wänden wurden immer dichter und bald sah man kaum noch den Stein. Von der Decke hingen immer öfter dicke Spinnweben und an vielen Stellen tropfte ihnen Wasser auf den Kopf. In unregelmäßigen Abständen befanden sich elektrische Lampen an der Wand, aber viele waren ausgefallen. Martin vermutete, dass dies mit der Feuchtigkeit zu tun hatte. Ganze Strecken konnten sie sich nur vorantasten. Der Gang verlief nicht gerade, sondern machte immer wieder Kurven nach rechts und links. Irgendwann erreichten sie das Ende der Treppe. Der weitere Gang verlief nun nahezu waagerecht. Ganz an seinem Ende konnte Kiro einen hellen Schimmer erkennen. Die Lampen in diesem Teil des Ganges waren fast alle ausgefallen. Sie gingen auf den Schimmer zu und mit jedem Schritt wurde es heller. Endlich erreichten sie das Ende des Tunnels und traten ins Frei hinaus. Sie standen mitten in einem Wald. Das Geschrei von Vögeln ertönte hoch über ihnen in den Wipfeln von gigantischen Bäumen. Überall wuchsen verschiedenste Pflanzen. Das Gras unter ihren Füßen war saftig und feucht. Es regnete leicht, aber die Luft war angenehm warm.

 

Flucht

 

33

 

Nadja und Kiro lagen sich lange in den Armen. Allmählich beruhigte sich Nadja und ihr Atem, der warm an Kiros Hals entlang strömte, ging nun regelmäßiger. „Danke, dass du gekommen bist.“ Sie konnte nur flüstern. Zu überwältigend war ihr Freude. Nach einer Weile lösten sie sich voneinander. Er blickte ihr in die blauen Augen und sie lächelte ihn an. Die Schmerzen waren für den Moment vergessen. Sie dachte an die Schwester, die jeden Moment zurückkommen konnte. Kiro bemerkte ihre Unruhe. „Lass uns von hier verschwinden. Kannst du laufen?“ Er sah an Nadja herunter, aber ihre Beine waren unter einer Decke verborgen. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, das wird noch nicht klappen.“ „Gut, dann werden wir wohl erstmal mit diesem „Monster“ hier abhauen müssen. Er trat hinter den Stuhl und wollte gerade mit Nadja los, als ihm noch etwas einfiel. Aus seiner Manteltasche holte Kiro das Geldbündel, nahm ein paar Scheine heraus und legte den Rest auf die Bank. Er hoffte, dass das Geld den Weg zur richtigen Person finden würde, denn er hatte jetzt keine Zeit mehr sich auch noch darum zu kümmern.

Auf dem Weg zum Krankenhaus hatte Kiro einen zweiten Zugang des Parks zu einem Parkplatz hin gesehen. Dorthin schob er den Rollstuhl jetzt. Er war den Umgang mit dem Stuhl noch nicht gewohnt und so wohl etwas stürmisch, denn Nadja hielt sich anfangs überrascht an der Armlehne fest. Gerade waren sie am Rand des Parkplatzes angekommen, als sie lautes Rufen hinter ihnen hörten. „Fahr schneller.“ Die Angst in Nadjas Stimme alarmierte Kiro und er legte einen Zahn zu. Ohne sich umzudrehen überquerten sie zügig den Parkplatz, der fast vollständig belegt war und so ein wenig Deckung bot. Gerade waren sie an der Straße angelangt, als jemand hinter ihnen her rief: „He sie da, bleiben sie sofort stehen! Wo wollen sie mit der Patientin hin?“ Ein flüchtiger Blick nach hinten bestätigte Kiro, dass sie verfolgt wurden. „Halt dich fest!“, rief er Nadja zu und begann zu rennen.

Auf dem Gehweg waren viele Leute unterwegs und so wurde die Fahrt zu einem regelrechten Hindernislauf. Mehrmals streiften sie Passanten. Kiro murmelte nur kurze Entschuldigungen und ließ die fluchenden Leute schnell hinter sich. Ihre Verfolger waren ihnen weiterhin dicht auf den Fersen. So bald er konnte, bog Kiro in eine Nebenstraße ein, in der weniger Betrieb herrschte. So kamen sie deutlich schneller voran. Immer wieder blickte sich Kiro zu ihren Verfolgern um, die langsam, aber sicher, näher kamen. Soweit er es erkennen konnte, handelte es sich um zwei Männer in blauen Uniformen und eine Krankenschwester. „Bleiben sie stehen, oder wir eröffnen das Feuer!“ Einer der Männer hinter ihnen brüllte keuchend. Also waren sie bewaffnet, aber Kiro hatte keine Wahl. Sich jetzt zu stellen würde alles nur noch viel komplizierter machen. Außerdem wollte er Nadja um keinen Preis mehr allein lassen. Sie mussten sich irgendwo verstecken, sonst wären sie früher oder später eingeholt. Ein lauter Knall hallte hinter Kiro von den Gebäudewänden wieder. Im selben Moment zischte etwas links an seinem Kopf vorbei und schlug vor ihnen in eine Mauer ein. Nun wurde es interessant. „Da vorn!“, Nadja zeigte auf eine schmale Lücke zwischen zwei Häusern. Kiro lief noch etwas schneller und sie näherten sich schnell. Ein weiterer Knall und gleich darauf der Einschlag des Geschosses auf dem Gehweg folgten. „Hören sie auf zu schießen! Sie gefährden das Leben der Patientin!“ Diesmal war es die Krankenschwester, die rief. Sie schien schon völlig außer Atem.

Als sie die schmale Lücke erreichten, bremste Kiro hart. Nadja verlor ihren ohnehin schon unsicheren Halt, aber Kiro hielt sie gerade noch an der Schulter fest, bevor sie aus dem Rollstuhl fallen konnte. Er konnte es nicht sehen, aber vor Schmerzen verzog Nadja das Gesicht und stöhnte leise. Die schmale Gasse, die jetzt vor ihnen lag, war voller Müll. Die Tonnen, die überall herumstanden quollen über. Kiro zögerte keinen Augenblick und lenkte den Rollstuhl hinein. Überall waren großen Pfützen und dreckiges Wasser spritze hoch, wenn sie hindurch fuhren. Nachdem sie ein Stück zurückgelegt hatten, sah Kiro sich noch einmal um. Hinter ihnen blockierte einer der Männer die Gasse. Er stand nur da und bewegte sich nicht. Die anderen Verfolger waren verschwunden. Das brachte Kiro jedoch nicht dazu sein Tempo zu verringern. Er hielt weiter auf den Ausgang der Gasse zu, der direkt vor ihnen lag. In diesem Moment trat dort der zweite Uniformierte in die Lücke und versperrte sie.

Jäh bremst Kiro ab. Nadja zog scharf die Luft ein. Kiro stand regungslos da. Sie saßen in der Falle. Der Mann begann auf sie zuzugehen. In der Gasse war es auf einmal sehr still. „Pst. He ihr da!“ Ein Flüstern ließ Kiro herumfahren, aber er konnte im Zwielicht der Gasse erst nichts erkennen. Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm er einen schmächtigen Jungen wahr, der wenige Meter von ihnen entfernt im Schatten eines großen Müllcontainers stand. Seine Kleidung war zerlumpt und das kleine Gesicht völlig verdreckt. Er winkte sie heran. Kiro verstand erst nicht, was der Junge wollte, aber dann erspähte er die schwachen Umrisse einer niedrigen Tür direkt neben dem Container. Während die beiden Beamten von beiden Enden der Gasse schweigend auf sie zukamen, rollte Kiro den Rollstuhl vorsichtig zum Container. Der Junge griff nach der Klinke und zog die Tür auf. Kiro wurde es heiß. Mit dem Rollstuhl kämen sie nie durch die schmale Tür. Nadja sah fragend zu ihm auf. Auch sie hatte es bemerkt. Ohne viel Zeit zu verlieren, beugte Kiro sich zu ihr hinunter, lächelte sie an und hob sie vorsichtig aus ihrem Stuhl. Wie leicht sie doch war. Kiro duckte sich und gemeinsam schritten sie über die Schwelle. Staub rieselte hinab und Nadja musste niesen. Hinter ihnen wurde die Tür lautlos geschlossen, jedoch waren sie nicht allein. Der Junge war ihnen gefolgt.

Sie standen in einem Flur. Überall hing die Tapete in Fetzen von der Wand. Der Putz hatte an vielen Stellen Löcher und es roch nach Feuchtigkeit. Die Türen zu den angrenzenden Räumen fehlen und beim Vorbeigehen blickten sie in leere und ebenso heruntergekommene Räume. Die Fenster waren vernagelt. Ein wenig Licht kam durch Ritzen in der Decke und den Wänden. In den Lichtkegeln tanzte der Staub. Das ganze wirke auf Kiro unwirklich und geheimnisvoll. Immer weiter folgten sie dem langen Gang, bis er an einer weiteren Tür endete. In großen, schwarzen und ein wenig krummen Buchstaben stand darauf nur ein einziges Wort: „Ebetaminor“. Nadja und Kiro sahen sich erschrocken an. Beide sagten nichts. Sie konnten nichts sagen. Es gab kein Entkommen.

Der Junge, der vor ihnen auch zum Stehen gekommen war, griff in seine Tasche und zog eine kleine, goldene Taschenuhr hervor. Er klappte sie auf, warf einen Blick hinein und ließ sie wieder verschwinden. Freundlich strahlte er sie an. „Ihr müsst euch noch einen Moment gedulden. Seid ein bisschen früh dran. Du bist wohl ziemlich gerannt, was?!“ Er lächelte Kiro verschmitzt zu und warf dabei auch einen kurzen Blick auf Nadja, die sich mit ihrem gesunden Arm an Kiros Hals festhielt. „Ach ja, fast hätte ich es vergessen…“ Er kramte in seiner anderen Hosentasche und brachte ein kleines, durchsichtiges Fläschchen zum Vorschein. In ihm befanden sich viele kleine, weiße Kügelchen. „Eine davon zu jeder Mahlzeit, oder dreimal am Tag. Nimm sie bitte, bis sie verbraucht sind.“ Da Kiro mit beiden Händen Nadja festhielt, steckte der Junge es Kiro in die Tasche. Vor Staunen konnten Beide immer noch kein Wort herausbringen. So vergingen ein paar Minuten und alle drei schwiegen. Kiro wollte gerade ansetzen und den Knirps etwas fragen, als es leise klickte und die Tür vor ihnen einen spaltbreit aufschwang. Tageslicht fiel herein. „Na dann. Macht’s gut und passt auf euch auf.“ Mit diesem Worten zog er die Tür vollständig auf. Mit seiner Nadja in den Armen trat Kiro hinaus ins Freie. Noch bevor Kiro sich umdrehte, wusste er schon, dass die Tür verschwunden war.

 

Der Schatten

 

Die beiden Polizisten trafen sich unterdessen in der engen Gasse und sahen einander fragend an. Von ihrer Beute war nichts mehr zu sehen. Nur ein alter Rollstuhl stand ziemlich verrostet neben einem großen Müllcontainer. Das Verschwinden der Beute konnten sie sich nicht erklären. Sie sahen sich noch eine Weile um und dann verließen sie ratlos den Ort des Geschehens um ihren Vorgesetzten Bericht zu erstatten. Am nächsten Tag dominierte eine Schlagzeile die Zeitungen. Es ging um einen großen Bankraub in der Innenstadt. Jedoch waren zwei weitere Artikel weitaus interessanter. „Tankstellenexplosion in der Wüste – 52 Tote“, verkündete der Erste. Der Zwei, noch kleinere, berichtete vom Verschwinden einer Patientin aus dem städtischen Krankenhaus. Unter dem Artikel war ein kleines Bild von Nadja abgedruckt und die Polizei bat um sachdienliche Hinweise. Der Schatten schlug die Zeitung zu, in der er eben noch gelesen hatte. Wieder waren sie ihm entwischt. Und diesmal war er so nahe gewesen. Jedoch wusste er, wohin sie wollten. Der Ort ihres Verschwindens verriet es ihm. Er würde sie abfangen. Bei Ebetaminor konnte er schnell sein. Der Schatten warf die Zeitung in den Mülleimer neben sich und ging davon. Eine Woche später fand man die Körper von zwei Polizisten in der Kanalisation ein paar Straßen weiter. Ihre Leichen waren schon sehr stark verwest und der Gerichtsmediziner konnte die Todesursache nicht klären. Die Akte wurde bald geschlossen und niemand stellte Fragen.

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 202404172315097487eddd
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Erstellt: 05.09.2007, zuletzt aktualisiert: 28.12.2018 09:08, 4835