Dementophobia (Quellenband)
 
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Dementophobia (Quellenband)

Rezension von Inga Pokora

 

In der rollenspielerischen Öffentlichkeit halten sich manche Klischees mit erstaunlicher Hartnäckigkeit. Eines der prominentesten ist, dass typische „Cthulhu“ – Charaktere für gewöhnlich schnell sterben und vorher wahnsinnig geworden sind. Oder einfach nur wahnsinnig werden. Fest steht, dass „Cthulhu“ und Wahnsinn untrennbar miteinander verbunden sind. Die Komponente des Wahns gehört tatsächlich zu den grundlegenden Spielprinzipien und macht einen Teil des Reizes dieses Rollenspiels aus. Leider hatte der Spielleiter bisher nicht wirklich viel Material an der Hand, um dieses Grundelement über das schlichte Verlieren von Stabilitätspunkten und aus dem Grundregelwerk geklaubten geistigen Störungen hinaus in das Spielgeschehen einzubinden. Dieser missliche Umstand wurde nun behoben durch das neue Grundlagenwerk „Dementophobia“.

 

Das Buch kommt im gewohnt guten Design mit stimmigem Cover und der zu erwartenden Aufmachung als Foliant daher. Das Lesebändchen erfreut den Leser sehr, um sich wichtige Stellen gleich zu markieren. Auch am Layout hat sich – zum Glück – nichts geändert.

Doch nun zum Inhalt. Das Buch teilt sich in zwei große Teile: Hintergrund und Abenteuer. Der erste Teil wird eingeleitet von einem geschichtlichen Überblick über die Auseinandersetzung mit dem Wahnsinn. Begonnen wird hier in der tiefen Antike mit Hippokrates, der 4-Säfte-Lehre und endet zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hier wäre es schön gewesen, dem Ausbau der „Cthulhu now“ – Linie Rechnung zu tragen und die Geschichte entsprechend weiter zu erzählen, um auch dem neuzeitlich orientierten Spielleiter ein paar Namen und Theorien an die Hand zu geben. Das folgende größere Kapitel widmet sich dem Spielleiter und dem Wahnsinn. Hier wird noch einmal herausgestellt, dass Wahnsinn die bedeutendste Komponente des Spiels sei, also besondere Aufmerksamkeit verdient. Die Leitfrage ist hier, wie sich etwas so hochkomplexes wie Wahnsinn in ein „normales“ Spiel integrieren lässt, ohne ihm jedoch unnötig viel Aufmerksamkeit zu widmen, damit die eigentlichen Abenteuer und Szenarien nicht zu sehr im Hintergrund verschwinden. Es werden viele Mechanismen und Gelegenheiten aufgezeigt, um im alltäglichen Spiel Wahnsinn spielbar und erfahrbar zu machen. Hier finden sich bemerkenswert viele sehr inspirierende Ideen, die sich elegant ins laufende Spiel einstreuen lassen. Mit eingestreut sind Szenarioideen, welche wieder auf gewohnt hohem Niveau einsteigen.

Es folgt ein Kessel Buntes an geistigen Störungen verschiedenster Stärkung und Ausprägung samt Symptom-Katalog und eventueller Heilmethoden und Spieltipps. Dieses Kapitel ist im Großen die erweiterte und ausgearbeitete Variante des entsprechenden Kapitels im Spielleiterhandbuch.

Doch was tun, wenn es tatsächlich einen der Spielercharaktere „erwischt“? Das gewohnte Muster, mit soundsovielen W6- oder W10- bestimmten Wochen Aufenthalt im Sanatorium soll hier mit Leben gefüllt werden. Das Kapitel, welches sich mit Kur und Heilung befasst, beginnt mit einem Überblick über die wichtigsten Gesundheitssysteme. Es folgen verschiedene Heilungsansätze. Solch progressive und unetablierte wie Psychotherapie stehen in einer Linie mit medikamentösen Kuren und altbewährten Rosskuren wie der Elektrokrampftherapie oder der weidlich bekannten Lobotomie. Hier bekommt der Spielleiter einiges in die Hand, um einen Kur – bzw. Sanatoriumsaufenthalt so authentisch und lebendig wie möglich zu gestalten... Auch der Ort der zu erhoffenden Heilung, die Anstalt selbst, gerät im nächsten Kapitel in den Focus der Aufmerksamkeit. Leitfragen sind hier, welchen Abläufen ein Anstaltstag folgt, auf welche Behandlungen sich der Eingelieferte gefasst machen kann und auf welches Personal er trifft. Neben Kurzcharakteristiken finden sich hier die Bausteine zum Selberbasteln für „ Anstalten für den Hausgebrauch“ nebst einiger typischer Vertreter der Anstalt um 1920. Neben luxuriösen Pflegeheimen, in denen es den Patienten an nichts fehlt und in denen Aufenthalt so angenehm wie möglich gemacht wird, finden sich hier auch Anstalten, in denen lustig mit den Patienten experimentiert wird bis hin zu Löchern, in denen man nicht begraben sein, geschweige denn eingeliefert sein möchte.. Mit all diesen Informationen gewappnet haben jetzt vielleicht mehr Spielleiter den Mut, bzw. die Lust haben, dieses bisher eher stiefmütterlich behandelte Thema mit in die Spielplanung miteinzubeziehen. Die aufgeführten Mechanismen sind, wie der Spieltest ergeben hat, gut und unkompliziert in laufende Geschichten zu integrieren und verleihen mit wenig Aufwand dem Spiel neue Tiefe und neue Aspekte. Das Klischee darf also mit bestem Gewissen bestätigt werden: ja, bei „Cthulhu“ werden alle irgendwann wahnsinnig. Aber dann fängt das Spiel erst richtig an!

Um auch das neu angeeignete Wissen gleich benutzen zu können, sind dem Band noch drei Abenteuer beigegeben. Die Abenteuer sind höchst unterschiedlich, was Komplexität und Möglichkeiten der Einbindung in eigene Kampagnen angeht.

Das erste Abenteuer lässt sich in aktuelles Spielgeschehen gut einbinden, erfordert aber einen erfahrenen Spielleiter. In „Das verlorene Gestern“ beginnt die Geschichte für die Charaktere gleich in einer Irrenanstalt. Die Spieler sind Insassen einer Anstalt, gelten als Gefahr für sich und andere und werden deswegen mit Medikamenten ruhig gestellt. Keiner der Spieler hat irgendeine Erinnerung daran, was in den letzten Tagen/Wochen geschehen ist oder gar wie man in die Anstalt gekommen ist. Mit dieser fulminanten Ouvertüre beginnt ein Abenteuer, welches in Teilen in der Gegenwart, in Teilen aber auch in Rückblenden spielt. Die Spieler befreien sich (hoffentlich) und erleben in willkürlich ausgelösten Rückblenden die Geschehnisse, die sie in die Anstalt gebracht haben. Die Spieler hatten den Auftrag, ein Inkaartefakt zu finden und für einen Archäologen zu besorgen. Es zeigt sich, dass die Spieler ein Ritual, für das sie wertvolle Vorarbeit geleistet haben, in der Gegenwart mit dem allmählich zurückkehrenden Wissen aus der verlorenen Vergangenheit verhindern müssen. Das „Verlorene Gestern“ ist ein für deutsche Cthulhu – Autoren typisches Szenario mit Verwirrspielen, überraschenden Wendungen und Mythosbezug und rundet das im Informationsteil des Bandes gewonnene Wissen ab und lädt zum Ausprobieren und Anwenden des selbigen ein. Als Spielwiese für den SL und als knackiges Mythosabenteuer mit der richtigen Mischung aus Action und Detektivarbeit ist es ein rundherum gelungenes Abenteuer.

Deutlich sperriger ist das darauf folgende Szenario „In Scherben“. Es wird mit vorgefertigten Charakteren gespielt und erzählt den geistigen Verfall einer Familie. Der reiche Patriarch stirbt und hinterlässt die Charaktere als Erben einer Spiegelfabrik. Das Abenteuer arbeitet wenig mit klassischen Elementen wie Mythosbezug allerorten, Kultisten, die die Welt erobern wollen oder detektivischer Feinarbeit. Vielmehr geht es hier Neid, Hass und das Aufbrechen alter Wunden in den Tagen um die Testamentseröffnung. Das Abenteuer richtet sich ausdrücklich an erfahrene Spielleiter und ebenso erfahrene Spieler, die bereit sind, sich auf ein psychologisches Experiment einzulassen, da das Szenario selbst mehr Bühne und roter Faden ist, denn richtiges geradliniges Abenteuer. Mit einer spielfreudigen Gruppe mit Lust zum Drama und einer Portion Erfahrung kann dieses Szenario ein echtes Erlebnis werden, als nettes Zwischendurch – Abenteuer bei Bier und Brezeln taugt es jedoch nicht.

Das genaue Gegenteil dazu ist das letzte Abenteuer, welches kurz und schmerzlos einfach den Titel „Das Sanatorium“ trägt. Es stammt aus amerikanischer Feder und liegt hier in Übersetzung vor. Der geneigte Cthulhu – Spieler ahnt schon, dass hier klassische Hausmannskost geboten wird. Das Szenario hat einen durchschnittlichen Plot: die Charaktere werden von einem bekannten Arzt auf eine Insel mit Sanatorium eingeladen, um über den Anstaltsleiter zu schreiben. Auf der Insel angekommen, stellen sie fest, dass alle bestialisch ermordert wurden und es startet ein chtulhoides Whodunnit . Das Abenteuer bietet Action, Splatter, Monster, hohe Stabilitätsverluste und die in amerikanischen Abenteuern wohl übliche hohe Charaktersterblichkeit. Als Gegenpol zu den beiden anderen Abenteuern ist es zu Recht und gut ausgesucht mit in den Band gekommen. Zwar überzeugt es nicht durch seine Raffinesse und erschröckliche Mythosverwicklungen, aber als etwas entspannteres Szenario zwischen zwei verwickelten ist es sehr angenehm und geradlinig zu spielen. Manchmal möchte man ja Mythosprobleme auch auf alte, amerikanische Weise mit möglichst vielen Waffen und etwas Kollateralschaden lösen...

 

Fazit:

Es ist schon beinahe langweilig, deutsche Cthulhu-Publikationen zu rezensieren, da sie sich einheitlich zwischen sehr gut und exorbitant gut bewegen. „Dementophobia“ macht hier keine Ausnahme. Es bereitet eines der Kernthemen von „Cthulhu“, nämlich Wahnsinn und den geistigen Verfall umfassend und ergiebig auf. Auf gewohnt hohem Niveau wird in dieses hochkomplexe Thema eingeführt, zunächst mit einem sehr gelungenen Geschichtsabschnitt. Für den Spielleiter interessanter ist jedoch der Teil, welcher helfen und inspirieren soll, Wahnsinn als spielbare und trotzdem angemessen facettenreiche Komponente in das Spiel zu integrieren. Dieses Vorhaben ist auf ganzer Linie gelungen. So bekommt man genügend Ideen und Tipps an die Hand, um diesem Thema angemessenen Raum zu verschaffen, ohne es zu sehr in den Vordergrund zu stellen und „normales“ Spiel zu ersticken. In diesem Balanceakt liegt eine der Hauptleistungen dieser Publikation.

Zur Veranschaulichung enthält der Band noch drei Szenarien unterschiedlichsten Zuschnittes, vom einfach gestrickten Splatterspannungsabenteuer bis hin zu echten rollenspielerischen Herausforderungen, an die sich eine Gruppe noch lange erinnern dürfte. Zu bemerken bleibt also, dass dieser Band, ebenso wie die meisten anderen Quellenbände in keiner gut sortierten Bibliothek fehlen sollte.

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20240418215001bc5bfe2f
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Dementophobia (Quellenband)

System: Cthulhu

Herausgeber: Heiko Gill

Gebundene Ausgabe

232 Seiten

Verlag: Pegasus Spiele

Erschienen: September 2007

ISBN-10: 3937826777

ISBN-13: 978-3939726776

Erhältlich bei: Amazon

 


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Erstellt: 25.05.2008, zuletzt aktualisiert: 30.01.2015 19:25, 6562