Der Preis der Unsterblichkeit (Autor: Hermann Weigl, Genre: ScienceFiction)
 
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Leseprobe: Der Preis der Unsterblichkeit

1. Ein ungewöhnlicher Auftrag

 

Mogul hatte mich besucht. Er tat das nur dann, wenn ein gewichtiger Grund vorlag. Er meinte, die Bedrohung sei nun beseitigt und ich könne sie abholen und auf ihre Aufgaben vorbereiten. Ungewöhnlich war dabei, dass er meinte, ich solle mich beeilen. Für einen Unsterblichen hat Zeit keine Bedeutung. Wozu also die Eile? Ich kann es mir nur so erklären, dass die Frau, die ich in den letzten 25 Jahren zu beschützen hatte, in Gefahr schwebte. Noch immer wusste ich nicht, vor welcher Bedrohung sie versteckt worden war. Dem Aufwand nach, der hier betrieben wurde, musste es sich bei Cassandra um eine Person von allerhöchster Wichtigkeit handeln. Mogul gab sich nicht mit Kleinigkeiten ab. Ihn nach weiteren Informationen zu fragen, hatte keinen Sinn. Ich kannte ihn lange genug, um zu wissen, dass er mir nur das Wissen zukommen ließ, das für meinen Auftrag unbedingt erforderlich war.

Ich hatte mich ohne Umschweife auf den Weg gemacht und mein Heimatsystem in dem kleinen der Eastside der Milchstraße Vorgelagerten Nebel, verlassen. Mein Ewigkeitsraumschiff Nepokadnezar brauchte keine Startvorbereitungen. Um das Zielsystem möglichst schnell zu erreichen, wählte ich für meinen Kurs die sternenarmen Regionen über dem Südpol der Milchstraße. Dies bedeutete einen nicht unerheblichen Umweg. Ich konnte jedoch in den Geschwindigkeitsbereich vorstoßen, der normalerweise nur im Leerraum zwischen den Galaxien erreicht wird. So erreichte ich das Zielsystem in einem der äußersten Spiralarme auf der Westside nach 15 Tagen.

15 Tage sind viel Zeit, um sich Gedanken über einen Auftrag machen zu können. Cassandra war weder auffallend hübsch, noch sonderlich intelligent. Selbstverständlich war ich ihr in den letzten 25 Jahren mehrmals persönlich begegnet. Wie hätte ich ihr auch sonst helfen sollen. Allerdings durfte ich mich nicht zu erkennen geben, und trat ihr gegenüber immer in unterschiedlichen Verkleidungen auf. Als Neugeborenes war sie auf dem dritten Planeten des Zielsystems ausgesetzt worden. Man hatte sie als Findelkind vor einem Waisenhaus ausgesetzt. Dort lebte sie, bis sie 13 Jahre alt war. Mit 13 brach sie aus und lebte als Obdachlose in den Slums einer Großstadt auf einem der größten Kontinente dieses Entwicklungsplaneten. Viele Gefahren musste ich von ihr abwenden. Mogul hatte mir immer wieder zu verstehen gegeben, wie wichtig diese Person für die Zukunft der Völker der Milchstraße sei, wie immer natürlich ohne konkrete Details zu nennen. In solchen Augenblicken hasste ich ihn, obwohl ich wusste, dass er mir schon so oft geholfen hatte. Übrigens habe ich vergessen, zu erwähnen, dass Mogul nicht mein Auftraggeber ist, sondern mein Gönner und einer meiner besten Freunde. Meine Auftraggeber sind andere. Später werde ich noch von ihnen berichten.

Das Leben auf der Straße war hart und hatte in 12 Jahren viele Spuren hinterlassen. Schon als Kind hatte man Cassandra nicht als hübsch bezeichnen können. Als ich sie das letzte Mal gesehen hatte, da hatte sie sich auch noch eine hässliche Narbe auf der linken Wange zugezogen, die sehr schlecht verheilt war. Wer weiß, in welche Schlägerei sie mal wieder verwickelt gewesen war. Reichlich Drogenkonsum hatte sich auch nicht fördernd auf ihren ohnehin schon bedauerlichen Intellekt ausgewirkt. Auf welche Art und Weise sollte diese Frau den Völkern der Milchstraße helfen?

Endlich hatte ich die Bahn des äußersten Planeten des Zielsystems erreicht. Ich ging auf Unterlichtgeschwindigkeit zurück und näherte mich dem Trabanten des dritten Planeten von der Rückseite her. Nepokadnezar verließ ich in einem stationären Orbit. Eine kleine Raumfähre konnte in ihrem Ortungsschutz unerkannt die Oberfläche dieses Planeten erreichen. Eigentlich handelt es sich um einen schönen Planeten, einen Klasse M-Typen mit nahezu Standard-Schwerkraft, dachte ich mir, während er aus dem Schatten des Trabanten auftauchte. Das hielt die Eingeborenen aber nicht davon ab, ihre eigene Umwelt zu verseuchen, riesige Waldflächen abzuholzen und sich gegenseitig in aus religiösen Gründen geführten Kriegen abzuschlachten. Der Grund dafür kann nur in deren barbarischem Entwicklungsstand zu suchen sein.

Im Zielgebiet herrschte Dunkelheit. Es war in etwa Mitternacht. Der Trabant sorgte aber für eine mondhelle Nacht, was meine Aufgabe etwas erleichterte. Meine Verkleidung als Slumbewohner hatte ich schon angelegt. Cassandras Aufenthaltsort kannte ich in etwa, denn ihr Aktionskreis beschränkte sich auf die Slums. Da jedoch Eile angesagt war, verwendete ich einen Individualtaster, den ich auf sie abgestimmt hatte. Eigenartigerweise zeigte das Gerät noch keinen Ausschlag, obwohl ich mich schon bis auf 5 km der Planetenoberfläche genähert habe. Sollte sie sich nicht mehr in dieser Stadt aufhalten? Das hielt ich für eher unwahrscheinlich. Die letzten 12 Jahre hatte ich sie immer hier angetroffen. Bei 1800 Metern kam ein erster, sehr schwacher Impuls durch. Der Aufenthaltsort stimmte. Also gab es nur eine andere Erklärung für die Schwäche des Impulses: Sie schwebte im Lebensgefahr!

 

 

2. Rettung

 

Ich erhöhte die Sinkgeschwindigkeit so weit, dass am Zielort gerade noch die Endgeschwindigkeit Null erreicht werden konnte. Mein Schiff war dann zwar akustisch auszumachen, aber zu dieser späten Stunde waren die Bewohner des Slums, soweit sie noch wach waren, mit Sicherheit so betrunken, dass sie die Geräusche einer harmlosen Ursache zuordnen würden. Ich lies das Schiff in seinem Antigravfeld auf halber Höhe der umgebenden Gebäude der Seitenstraße schweben. Die Außenkameras zeigten keine Menschen. Außer ein paar Mullcontainern und einem großen Haufen Müllsäcke war in dieser kurzen Seitenstraße nichts zu erkennen. Schnell steckte ich noch einen medizinischen Scanner ein, öffnete die Heckluke und stieg mit Hilfe des Antigravs meiner Verkleidung aus. Die verpestete Luft dieses Planeten, zusätzlich belastet mit den Ausdünstungen des Mülls, schlug mir entgegen. Cassandra konnte ich nirgends entdecken. Sie musste aber hier ganz in der Nähe sein. Das hatte der Individualtaster eindeutig angezeigt. Also wandte ich mich in Richtung des toten Endes der Straße. Das spärliche Licht der Straßenbeleuchtung drang nur zum Teil in diese Sackgasse ein und das tote Ende lag in vollkommener Finsternis. Meine rechte Hand glitt schon fast wie selbständig zu meiner rechten Hüfte und prüfte den Sitz des Paralysators. Links von mir erkannte ich die Container und dahinter die Müllsäcke. Ich suchte den Spalt zwischen den beiden Containern ab, aber abgesehen von ein paar kleinen Nagetieren, die sofort wegliefen, war er leer. Also ging ich weiter in Richtung des toten Endes der Strasse. Als ich am hinteren Container vorbeikam und versuchte mit meinen Augen die Finsternis der Strasse vor mir zu durchdringen, bemerkte ich einen kurzen Lichtreflex aus dem Haufen der Müllsäcke. Ich ging noch mal einen halben Schritt zurück und konzentrierte mich auf die Müllsäcke. Tatsächlich, irgendein metallischer Gegenstand hatte das Licht des Mondes reflektiert. Ich ging näher heran und schob vorsichtig einen Müllsack zur Seite. Ich erschrak als ein menschlicher Arm kraftlos zur Seite fiel. Schnell räumte ich die restlichen Müllsäcke beiseite und legte eine bewusstlose Frau frei. Das Mondlicht fiel auf ihr blasses Gesicht und ich erkannte sie sofort: Cassandra. Ich aktivierte den medizinischen Scanner und das Gerät zeigte an, dass sie kurz vor einem Stillstand von Atmung und Kreislauf stand. Es bestand also höchste Lebensgefahr für sie. Per Fernimpuls lies ich das Schiff rückwärts in die Gasse fliegen und hinter mir aufsetzen. Mit der linken Hand griff ich unter Cassandras Nacken und richtete sie halb auf. Dabei fiel mein Blick auf eine Spritze mit einer Injektionsnadel, die neben ihr lag. Vorsichtshalber nahm ich sie auf und steckte sie in meine Brusttasche. Vielleicht konnte das Gift oder die Droge, die sie sich gespritzt hatte, damit schneller bestimmt werden. Ich hob Cassandra hoch und trug sie ins Schiff. Die Luke schloss sich hinter mir nach einem akustischen Befehl. Ich legte sie auf die einzige Liege im Boot und startete das Notfallprogramm des Medorobots. Mehr konnte ich jetzt nicht für sie tun. Am Kommandoplatz aktivierte ich den Antrieb im Notfallmodus. Alle Rücksicht außer Acht lassend startete ich mit Maximalbeschleunigung, um Cassandra möglichst schnell in die medizinische Abteilung auf Nepokadnezar bringen zu können.

Auf dem Heckmonitor konnte ich erkennen, wie der Klasse M-Planet schnell kleiner wurde. Nichts sollte mich wieder hier herbringen! Ich versuchte mich zu erinnern, wie die Bewohner diesen Planeten nannten. Da fiel es mir wieder ein: Erde.

 

 

3. Auf der Medostation

 

Die automatischen Systeme der medizinischen Station hatten Cassandras Zustand stabilisiert. Die aktuelle Diagnose ergab, dass sie wieder vollkommen gesund werden wird. Ich atmete auf. Auch wenn sie mir meine Aufgabe kein bisschen erleichtert hatte, so empfand ich doch tiefes Mitleid bei ihrem Anblick. In einem so bedauernswerten Zustand hatte ich sie noch nie gesehen. Ihr Gesicht war schmutzig, die Wangen eingefallen. Ihr Haar war struppig, ungewaschen und schief abgeschnitten. Einige ihrer Fingernägel waren abgebrochen. Die Fingerknöchel waren aufgeschürft. Zahlreiche kleine Narben entstellten ihre Unterarme und ihr Gesicht. Schon als ich sie ins Beiboot getragen hatte, war mir aufgefallen, wie leicht sie war: 42 kg zeigte die Infotafel des Medostands an, viel zu wenig bei einer Körpergröße von 165 cm. Ich nahm einen medizinischen Schwamm und fing an ihr Gesicht zu reinigen. Wie wenig war ein Menschenleben auf diesem Planeten wert? Ich hatte schon viel Leid und Not gesehen und wusste, dass ich nicht alles Unheil bekämpfen konnte. Und ich hatte auch gelernt, meine Emotionen zu beherrschen. Aber der Anblick dieser jungen Frau, die so hilflos vor mir lag, berührte mich zutiefst. Ich beugte mich über sie und küsste ihre Stirn.

Die vollautomatischen Behandlungsgeräte hatten die Überdosis der Droge aus ihrem Blut gewaschen. Die Medostation hatte dazu die natürlichen Entgiftungsfunktionen ihres Körpers beschleunigt. Die Sensoren der Medostation hatten Spuren von zehn weiteren Drogen in ihrem Blut festgestellt. Durch die Behandlung wurde auch ihre Drogensucht behoben.

Ich sah mir die Ergebnisse der medizinischen Scans an: Das Abbild des Skeletts zeigte, dass beide Knochen des linken Unterarms nach einem Bruch schief zusammengewachsen waren. Der Entwicklungsstand des Planeten war aber nicht so niedrig, dass man diese Verletzung hätte nicht so behandeln können, dass sie korrekt abgeheilt wäre. Ich vermutete, dass sie keine medizinische Hilfe erhalten hatte oder keine Hilfe erhalten wollte. Wahrscheinlich war letzteres der Fall. Die drei untersten Rippenbögen auf der linken Brustseite zeigten ebenfalls schlecht verheilte Brüche. Die linke Niere zeigte eine schlecht verheilte Quetschung. Die Nase war ebenfalls gebrochen und schief zusammengewachsen. Dann betrachtete ich die Form der Schädelknochen. Ich stutze. Eigenartig. Auch der feine Aufbau ihres Skeletts. Das passte nicht im Geringsten zu ihrem Erscheinungsbild. Vorsichtshalber rief ich Vergleichsdaten aus der medizinischen Datenbank ab. Auf einem Monitor verglich ich die beiden Skelette. Mein Verdacht bestätigte sich endgültig, als ich ein Differenzbild der beiden Skelettbilder einblendete: Eigentlich müsste Cassandra eine wunderschöne Frau sein.

 

 

4. Erwachen

 

Die Infotafel des Medostands zeigte an, dass sich Cassandras Bewusstsein dem Wachzustand näherte. Sie atmete plötzlich tiefer, schreckte hoch und richtete sich halb auf. Verwirrt blickte sie sich um, bis ihr Blick auf mir ruhen blieb.

„Du brauchst keine Angst zu haben. Du bist in Sicherheit“, redete ich beruhigend auf sie ein.

„Wo bin ich?“ Sie blickte sich ängstlich um und ihre Atmung beschleunigte sich. „Was habt ihr mit mir vor?“

„Hier bin nur ich und ich möchte dir helfen.“ Erneut richtete sie ihren Blick auf mich. „Ich habe dich in einer Seitenstraße nahe der 45sten Ecke 30ste gefunden.“ Nach einer kurzen Pause fügte ich noch hinzu: „Du wärest beinahe gestorben.“

„Das war dieses Schwein von einem Zuhälter!“

„Wie bitte?“

„Ich wollte nicht für ihn anschaffen. Da hat er mir eine Überdosis verpasst.“

Das erklärte einiges. Sie sollte zur Prostitution gezwungen werden und hatte sich dagegen gewehrt. Das sprach zumindest mal für Sie.

„Wo bin ich hier?“

„Auf einer medizinischen Station.“

„Kann ich jetzt wieder gehen?“

„Das dürfte schwierig sein.“

„Wieso?“

„Du bist ziemlich weit von der Straße entfernt wo ich dich gefunden habe.“

„Wie weit ist es denn?“

„So etwa 400000 km.“

Sie überlegte angestrengt: „Du hältst mich wohl für vollkommen bescheuert! Bring mich sofort zu einem Ausgang.“

„Wie du willst“, entgegnete ich und führte sie aus der medizinischen Station zum nächsten Personenschott. Die Umgebung eines Raumschiffes müsste eigentlich für sie vollkommen fremd sein, dachte ich. Sie zeigte aber nicht die geringste Reaktion darauf. Ich öffnete das innere Schleusentor und wir betraten die Kammer. Dann aktivierte ich vor dem Außenschott ein Energiefeld und fuhr das äußere Schott auf. Nepokadnezar schwebte ca. 5000 m über der Mondoberfläche. Die Erde war als Halbkugel am Horizont zu erkennen.

Ich meinte: „Bitte sehr, ein Ausgang. Aber halt die Luft an. Es wird ein bisschen dauern, bis du die 400000 km zurückgelegt hast.“

 

 

5. Das Abkommen

 

Das schien zuviel für Cassandra gewesen zu sein. Mit offenem Mund starrte sie zur Mondoberfläche. Nach ein paar Minuten ließ ich das Außenschott wieder zufahren und sprach sie an: „Du bist nicht mehr auf der Erde, sondern in meinem Raumschiff. Nur hier konnte ich dein Leben retten. Auf der Erde hätte dir niemand mehr helfen können. Die Vergiftung deines Körpers war schon viel zu weit fortgeschritten.“

Mit noch immer offenem Mund starrte sie mich an. „Komm“, forderte ich sie auf. „Gehen wir in einen Besprechungsraum. Hast du Hunger?“

„Ja“

Endlich hatte sie wieder die Sprache gefunden.

„Setz dich“, forderte ich sie auf, als wir im Besprechungsraum angekommen waren. An der Verpflegungskonsole tippte ich für sie eine große Tasse Kaffee, Brötchen mit Schinken und Salami, und für mich ebenfalls einen Kaffee ein. Ich nahm das Tablett aus dem Ausgabeschacht und stellte es vor Cassandra auf den Tisch. Unaufgefordert begann sie alles in sich hineinzuschlingen. Ich nippte an meinem Kaffee und beobachtete sie. Sie war wirklich keine Schönheit. Ihr Blick war trübe, von Intelligenz war keine Spur zu sehen. Tischsitten waren nicht mal im Ansatz vorhanden. Von Körperpflege schien sie auch eine vollkommen andere Vorstellung zu haben, als ich. In den Slums zählt eben nur das Überleben, dachte ich. Schönheit hat hier keinen Bestand.

Geduldig wartete ich, bis sie auch ihren Kaffee hinuntergestürzt hatte.

 

„Wie ist dein Name?“, fragte ich sie.

„Lily.“

„Lily? Das ist ja interessant. Ich dachte du heißt Cassandra.“

Sie schien sehr überrascht. „Woher weißt du das?“

Ich schwieg.

„Seit ich aus dem Waisenhaus abgehauen bin, hab ich niemandem den Namen gesagt.“

„Ich habe einflussreiche Freunde.“

Zumindest hatte ich ihr Interesse geweckt. Sie mustert mich: „Und wer bist du eigentlich?“

„Ich heiße Harpon von Armadaan.“

„Blöder Name.“

„Auf vielen Welten wird dieser Name mit Hochachtung ausgesprochen.“

„Was?“

Ich wechselte das Thema: „Ich möchte mit dir ein Abkommen schließen.“

Nach einigem Zögern meinte sie: „Lass hören!“

„Als Gegenleistung dafür, dass ich dein Leben gerettet habe, möchte ich, dass du für die Dauer von 14 Tagen als Gast auf meinem Schiff bleibst.“

„Was willst du mit mir anfangen, doch wohl nichts Perverses?“

„Glaubst du wirklich, dass ich dir Schaden zufügen möchte, nachdem ich dich vorher gerettet und gesund gepflegt habe? Ich will herausfinden, wer du bist.“

Mit dieser Antwort schien sie nichts anfangen zu können. Ich ergänzte meinen Vorschlag. „Du bekommst ein eigenes Zimmer mit Bad und solch einer Verpflegungskonsole.“ Ich deutete auf die Konsole. „Du kannst so viel essen und trinken wie du willst.“

Das schien sie endgültig zu überzeugen.

„OK“.

Ich atmete auf. Die erste Hürde war überwunden.

Cassandra wies ich eine für Gäste vorgesehene Kabine, neben meiner eigenen Kabine nahe der Kommandozentrale zu. Ich erklärte ihr die Einrichtung der Kabine und gab ihr auch frische Kleidung. „Cassandra, ich lasse dich jetzt allein. In einer Stunde werde ich dich abholen, OK?“

Sie nickte nur. Ich zog mich in meine Kabine zurück. Ich brauchte Zeit und Ruhe um nachzudenken.

Aus meiner Kabine nahm ich zuerst einmal Kontakt mit dem Bordcomputer auf. Wichtige Nachrichten lagen nicht vor. Die Ortung und die Fernortung meldeten keine anderen Schiffe innerhalb des Erfassungsbereiches. Der Gesamtstatus des Schiffes ist sowieso immer 100 Prozent, da es sich selbst wartet. Also konzentrierte ich mich wieder auf meine Aufgabe.

Was hatte ich bisher über Cassandra herausgefunden? Es war nicht viel. Sie lebte als Drogensüchtige in den Slums einer Großstadt auf einem Entwicklungsplaneten der Stufe 2 und hatte sich einen falschen Namen zugelegt. Aber zwei wichtige Schritte waren bereits getan:

- Ich hatte ihr Leben gerettet.

- Sie blieb für die nächsten 14 Tage an Bord

Wie sollte ich nun weiter vorgehen? Vielleicht gab es eine Sperre in ihrem Bewusstsein, die verhinderte, dass sie sich an ihre wahre Bestimmung erinnert. Ich wusste, über welche Möglichkeiten die Superintelligenzen verfügen, um bestimmte Personen ausfindig zu machen. Deswegen musste nicht nur Cassandras Person, sondern auch ihr Geist versteckt werden.

Wie sollte ich diese Sperre durchbrechen? Die medizinischen Scans hatten keinen Hinweis auf einen chirurgischen Eingriff ergeben. Vielleicht bedurfte es einer bestimmten Information, um diese Sperre zu durchbrechen. Ich beschloss, sie mit der Geschichte der Vereinigten Planeten zu konfrontieren. Vielleicht half auch ein stellarer Flug mit einem Beiboot mit Aussichtskuppel.

14 Tage lang hatte ich Zeit, um die Blockade Ihres Bewusstseins zu durchbrechen.

 

 

6. In der Kommandozentrale

 

Ich hatte mir angewöhnt, bei solchen Einsätzen mir immer die Einheiten des Zielsystems anzueignen. Demnach war es nun 10 Uhr und ich hatte also seit 27 Stunden nicht mehr geschlafen.

Ich trat vor ihre Kabinentür und betätigte den Summer. Als ich eintrat, fand ich Cassandra auf ihrem Bett sitzend vor. Sie war gerade dabei einen riesigen Donut zu verdrücken. Dabei machte sie ein Gesicht, als hätte ich sie bei etwas Verbotenem ertappt. „Wie schon gesagt. Du kannst so viel essen und trinken, wie du willst“, beruhigte ich sie. Geduldig wartete ich, bis sie fertig war. Dann erklärte ich ihr, dass ich ihr nun gerne die Kommandozentrale zeigen würde. Erklärend fügte ich hinzu: „Das ist der Raum in einem Raumschiff, von dem aus das Schiff gesteuert wird.“ Ich stellte fest, dass sie die Kleidung gewechselt hatte. Geduscht oder gebadet, hatte sie jedoch nicht.

 

Die Zentrale gleicht von der Form her einer Halbkugel von 100 m Durchmesser mit senkrecht stehender Schnittfläche. Von der Ebene der Kabinen betritt man über einen kurzen Gang die Zentrale und gelangt auf eine halbovale Plattform von etwa 20 m Breite und 10 m Tiefe. Diese Plattform ist an der senkrechten Fläche der Halbkugel auf halber Höhe platziert. Der im Zentrum dieser Plattform aufgestellte Sitz des Kommandanten befindet sich dadurch nahezu im Brennpunkt der Halbkugel. Die senkrechte Schnittfläche dient teilweise als Datensichtfläche. Davor befinden sich pultartige Bedienungseinheiten. Die Senkrechte ist von zwei Eingängen durchbrochen, dem durch den wir gerade die Zentrale betraten, und einem weiteren auf der anderen Seite des Kommandositzes, von dem aus man in den großen Hauptgang gelangt, der die Länge des ganzen Schiffs durchzieht. Von der Mitte der Vorderseite der Plattform aus gelangt man über eine Treppe tiefer auf eine weitere halbrunde Ebene von ca. 5 Metern Durchmesser. Hier lädt eine bequeme Pneumositzbank zum Verweilen ein. Ein Geländer grenzt diese Ebene ab. Ich nenne diese Ebene ‚Kanzel'.

Am meisten beeindruckt aber die Innenseite der Halbkugel. Diese dient als gigantischer dreidimensionaler Bildschirm. Während des Fluges gewinnt man von der Kanzel aus den Eindruck, als würde man frei im Weltall schweben.

Ich hoffte, die Zentrale würde Cassandra beeindrucken oder vielleicht irgendwelche Erinnerungen in ihr wecken. Weder das eine noch das andere war der Fall.

Wir begaben uns zu den Datensichtgeräten. Dort erklärte ich ihr die Form der Milchstraße und die Lage der Erde. Die Reaktionen die ich auf ihrem Gesicht ablesen konnte, waren nur Unglaube und Nichtverstehen.

Also beschloss ich eine andere Vorgehensweise. Vom Kommandositz aus programmierte ich einen Flug zum sechsten Planeten dieses Systems, einem Gasriesen mit konzentrischen Ringen. Wir begaben uns zum nächsten Hangar, in dem eine Lichtkanzel lag. Dabei handelt es sich um ein Beiboot, das eigentlich nur aus einer kleinen Antriebseinheit besteht. Die fehlende Hülle wird durch einen transparenten Energieschirm ersetzt. Die freie Sicht nach allen Seiten wird also lediglich durch die Bedieneinheit beschränkt.

Nachdem wir auf dem Sitz der Lichtkanzel Platz genommen hatten, startete ich den Antrieb und hob so weit vom Boden des Hangars ab, dass ich den Energieschirm aktivieren konnte. Per Fernbefehl startete ich den Ausschleusvorgang. Starke Pumpen liefen an und erzeugten im Hangar ein Vakuum. Dann öffnete sich die Hangarschleuse und ich steuerte die Lichtkanzel in den offenen Weltraum hinaus.

 

 

7. Die Ringe des Saturns

 

Der Blick nach ‚unten' aus einer Lichtkanzel ist gewöhnungsbedürftig, da man innerhalb der Kanzel die normale Schwerkraft verspürt und in eine bodenlose Schwärze blickt.

Nepokadnezar hatte uns bis auf zwei Millionen Kilometer an den Saturn herangebracht. Da Saturn ungefähr den 10-fachen Durchmesser der Erde besitzt, bot sich uns aus dieser Entfernung bereits ein beeindruckender Anblick. Ich ließ die Kanzel auf Saturn zufliegen, steuerte aber nicht Richtung Äquator, sondern Richtung Südpol des Planeten. So glitten wir langsam über den äußeren Ring hinweg, bis dieser den ganzen Gesichtskreis ausfüllte. Ich brachte die Kanzel relativ zum Saturn zum Stillstand und genoss den Anblick. Ich wusste nicht mehr, wie viele Planeten ich in einem langen Leben schon betreten hatte und durch wie viele Systeme ich schon gereist war. Aber Anblicke wie dieser, hinterließen bei mir noch immer einen tiefen Eindruck. Ich dachte mir, ich könne noch eine Steigerung erwirken, indem ich in die Ausläufer des Ringes eindringe. Also steuerte ich die Kanzel Richtung Innenrand des innersten Ringes. Hier war die Materiekonzentration am geringsten. Ich brachte die Kanzel an Innenrand des Ringes zu stehen. Über uns schwebte Saturn und unter uns erstreckte sich die Peripherie des Ringes über das gesamte Gesichtsfeld. Ich selbst war so ergriffen von dem Anblick, dass ich nicht auf Cassandras Reaktion geachtet hatte. „Was empfindest du bei diesem Anblick?“, wollte ich von ihr wissen. „Nichts. Außerdem habe ich schon wieder Hunger.“

 

 

8. Gedanken über die Unsterblichkeit

 

Für heute reichte es mir. Vielleicht war Cassandras Bewusstsein vor der drohenden Gefahr so gut versteckt worden, dass es abgestorben war. Alle meine heute abgegebenen Erklärungen hatten rein gar nichts bewirkt. Wahrscheinlich hätte ich mit dem gleichen Erfolg versuchen können, einem Schmied aus dem Eisenvolk zu erklären, wie ein Überlichttriebwerk funktioniert.

Der Rückflug zur Nepokadnezar glich einer Flucht. Da es schon nach 20 Uhr war, brachte ich Cassandra in ihre Kabine und legte noch ein paar Fernsehkanäle auf ihre Infoeinheit. Ich erklärte ihr nochmals die Funktion von Dusche und Badewanne, in der Hoffnung, dass sie davon Gebrauch machen würde. Ich selbst zog mich in meine Kabine zurück und stellte mich erst mal für ein halbe Stunde unter die Dusche.

Essen wollte ich nicht, denn das Ganze schlug mir auf den Magen. Da ich auch keinen Schlaf finden konnte, holte ich mir aus meiner Bar eine Flasche starken Rotwein und zog mich mit der Flasche und einem Glas auf die Kanzel in der Kommandozentrale zurück. Saturn beherrschte den Panoramabildschirm.

Wie oft hatte ich schon hier gesessen? Wie oft hatte ich hier schon alleine hier gesessen? Unsterblichkeit war ein Segen und gleichzeitig auch ein Fluch. Irgendwie verliert man durch die Unsterblichkeit jede Bodenständigkeit. Alles was man wertschätzt, alle Freunde, Bekannten, alles stirbt oder zerfällt. Aber am schlimmsten ist es, beobachten zu müssen, wie die Frau, die man liebt, altert und stirbt. Wie lange war es jetzt her, seit ich zuletzt mit einer Frau zusammen lebte? 250 Jahre? Nein, ich glaube es waren 270 Jahre.

Dermaßen ins Grübeln geraten, hatte ich dem Rotwein arg zugesetzt. Ich ließ mir von einer der mobilen Wartungseinheiten aus meiner Kabine eine neue Flasche holen.

Ob es irgendwo dort draußen vielleicht eine unsterbliche Frau gibt, die sich genauso einsam fühlt wie ich?

Wenn sie auch noch hübsch wäre...

Und wohlgeformte Beine hätte...

einen festen Hintern ...

schöne Augen ...

lange Haare ...

...

 

Ich wachte auf, als mich jemand an der Schulter rüttelte. Einen kurzen Augenblick brauchte ich, um die Situation zu erfassen. Ich lag noch immer auf der Pneumositzbank und hielt eine halbvolle Weinflasche umarmt. Neben mir stand Cassandra und meinte: „Mittag ist schon vorbei“.

 

 

9. Ein Lichtblick

 

Ich richtete mich langsam auf. Als ich aufstehen wollte, wurde mir schwindlig und ich musste mich noch mal hinsetzten. Im zweiten Anlauf gelang es mir dann, aufstehen.

Ich sah Cassandra an. „Guten Morgen. Oh, du siehst gut aus!“ Sie hatte tatsächlich gebadet. Sie lächelte kurz. Ich hatte sie noch nie lächeln sehen. Es war ein bezauberndes Lächeln, das gar nicht zu ihrem restlichen Erscheinungsbild passen wollte.

Ich machte mir Gedanken über die weitere Vorgehensweise. Sollte ich vielleicht mit ihr zum nächsten bewohnten System fliegen? Nein, ich verwarf den Gedanken. Ich glaube das wäre zu gefährlich, denn ich konnte nicht abschätzen, wie sie reagieren würde.

Hologramme! Das war die Idee. Ich zeige ihr Hologramme der Völker der Milchstraße.

Mit dieser Tätigkeit verging der restliche Tag. Cassandras Reaktionen waren einzigartig. Irgendwie schien ihr die ständige Berieselung mit Informationen zu viel zu werden. Zweimal hatte sie versucht, mich zu verprügeln und einmal hatte sie mich in die linke Hand gebissen. Sie kämpfte wie eine Wildkatze.

Am Abend war ich mit meinen Nerven am Ende. Cassandra tat mir so unendlich leid. Sie hatte keine normale Kindheit erlebt. Auch ihre Eltern hatte sie nicht gekannt. Wer weiß, ob sie jemals geliebt hatte. Woher sollte sie dieses Gefühl auch kennen, wenn sie selbst nie geliebt wurde? Einem inneren Impuls folgend, umarmte ich Cassandra und wunderte mich im gleichen Augenblick, warum sie sich das gefallen ließ. „Es tut mir so leid, Cassandra. Ich habe versagt. Es tut mir so unendlich leid.“ Es hatte keinen Sinn mehr. Vielleicht sollte ich sie noch heute wieder zur Erde bringen.

Wie schon so oft in solchen Situationen der tiefsten Frustriertheit, spielte ich mit dem Gedanken, mein Leben zu beenden, und mich in die nächste Sonne zu stürzen. „Warum willst du dich in die Sonne stürzen?“, fragte mich Cassandra. Ich war wie vom Donner gerührt. Diesen Gedanken hatte ich gar nicht ausgesprochen. „Woher?“, fragte ich sie. Sie wirkte verwirrt. „Ich weiß es nicht. Der Gedanke war plötzlich in meinem Kopf.“

 

 

10. Die Lösung

 

Ich ließ sie los und begann unruhig auf- und abzulaufen. Telepathie war eine seltene Gabe. Um mit dieser Gabe zu arbeiten, bedurfte es jahrelanger Ausbildung. Wenn sie es schaffte, einen meiner Gedanken zu erfassen, musste sie eine latente Begabung besitzen. Solche Fälle latenter Begabung kamen vor, aber niemals bei Lebensformen mit dem Intellekt einer Cassandra. Ich musste irgendein wichtiges Detail übersehen haben.

Aus der medizinischen Datenbank rief ich die Scans ab, die ich auf der Medostation angefertigt hatte. Ich hatte sie schon Dutzende Male kontrolliert, ohne Erfolg. Alle Werte schienen normal. Es gab geringfügige genetische Unterschiede. Aber das deutete auf keine Mutation hin. „Cassandra, darf ich noch einmal einen medizinischen Scan durchführen? Es tut nicht weh. Du wirst nichts spüren.“ Sie schien meine Verzweiflung zu spüren, denn sie willigte ein.

Auf der Medostation bat ich sie, auf der Behandlungsliege Platz zu nehmen und aktivierte den Scanner. Ich suchte nach Spuren von körperfremden Substanzen. Und tatsächlich wurde ich diesmal fündig. Ich kann es mir nur so erklären, dass Cassandra beim ersten Scan so viele Reste von Drogen im Körper hatte, dass diese die Fremdsubstanzen überlagerten. Es waren ihre Augen. Ich fand etwas, das fast wie eine Kontaktlinse aussah. „Warum trägst du Kontaktlinsen? Ich kann keine Augenfehler feststellen“, fragte ich sie, über den Monitor gebeugt. „Ich trage keine Kontaktlinsen.“ Folglich trug sie die Linsen schon immer, wenn sie nichts davon wusste. Ich stellte höchstauflösende Scans ihrer Augen her. In den Linsen konnte ich nun eine Substanz feststellen, die sich allen Untersuchungsmethoden widersetzte. Es war nicht festzustellen, worum es sich dabei handelte.

Die Linsen zu entfernen, sollte jedoch kein Problem darstellen.

 

 

11. Intelligenz

 

Ich erklärte Cassandra was ich vorhatte. „Cassandra, dies ist die Lösung, die Freisetzung deines Bewusstseins. Wenn ich diese Linsen entferne, dann wird dein Geist wieder frei sein.“

„Und wenn nicht?“

„Dann setze ich die Linsen wieder ein!“ Ich musste mich beeilen, dachte ich, weil ich sonst die Nerven verliere, und selbst Betreuung brauchte.

Ich erklärte ihr, dass der Eingriff am besten durchzuführen sei, wenn sie schlafe, dann spüre sie nichts davon. Wenn sie wieder aufwacht, sei alles vorbei. Nach einigen weiteren unqualifizierten Bemerkungen willigte sie endlich ein.

Die Linsen waren mit einem organischen Kleber fixiert. Die Medostation schaffte es innerhalb von fünf Minuten, den Kleber zu lösen und die Linsen zu entfernen. Die Linsen legte ich vorsichtshalber in einen Vakuumbehälter und verschloss den Deckel. Kaum waren die Linsen entfernt, begannen sich Cassandras Gehirnwerte zu ändern. Zuerst war ich zutiefst erschrocken, und dachte es käme zu einer Verschlechterung ihres Zustandes. Dann musste ich jedoch feststellen, dass sich die Werte zum Positiven veränderten. Die Gehirntätigkeit änderte sich um zwei Zehnerpotenzen und näherte sich asymptotisch einem Endwert, der meinem eigenen Wert sehr nahe kam.

Das musste einen Schock für Cassandra bedeuten. Wie würde sie wohl nach dem Aufwachen darauf reagieren? Sollte ich sie länger schlafen lassen? Nein, dachte ich mir. Das würde das Problem nur aufschieben.

Mit gemischten Gefühlen beobachtete ich die Infotafel des Medostands. Gleich musste sie aufwachen. Sie öffnete kurz die Augen, schloss sie aber sofort wieder. Sie holte tief Luft und stieß einen spitzen Schrei aus. „Cassandra, was ist? Hast du Schmerzen?“ Sie legte ihren rechten Unterarm übers Gesicht und drehte sich von mir weg. Ich berührte vorsichtig ihre linke Schulter. „Fass mich nicht an!“, schrie sie, schlug meine Hand weg und fing an zu schluchzen.

Ich konnte nichts anderes tun, als neue Scans anzufertigen. Alle Körperwerte waren normal. Die Gehirntätigkeit blieb konstant.

Ich setzte mich und stellte mich auf eine längere Wartezeit ein. Sie konnte keine Schmerzen haben. Das würde der Scan anzeigen. Was aber in einem Bewusstsein passiert, das 25 Jahre lang eingesperrt war, konnte ich mir nur schwer vorstellen. Also wartete ich und beobachtete Cassandra.

 

 

12. Ein anderer Mensch

 

Langsam wurde sie ruhiger und hörte schließlich auf zu weinen. Inzwischen war es fast Mitternacht geworden. Obwohl sie hier sicher war, wollte ich sie nicht alleine auf der Medostation lassen. Ich versuchte noch einmal, mit ihr zu sprechen „Cassandra? Es ist schon spät.“

„Meine Augen!“

„Was ist damit?“

„Sie tun so weh.“

Das konnte nicht stimmen.

„Vielleicht schmerzen sie, weil du bis jetzt nicht sehen konntest.“

Nach ein paar Sekunden nickte sie.

„Komm mit mir. Schlafe heute Nacht in meiner Kabine. Ich werde auf dem Sofa schlafen.“

„Das helle Licht tut meinen Augen weh.“

Ich dunkelte das ganze Schiff so weit ab, dass ich mich gerade noch orientieren konnte. Cassandra wollte aufstehen, wirkte aber sehr unsicher und taumelte. Ich nahm sie auf die Arme und begann sie zu meiner Kabine zu tragen. Sie atmete schwer und meinte: „Es ist fast so, als ob ich jetzt ein anderer Mensch wäre.“

 

 

 

13. Cassandra

 

Was passierte mit mir? Seit ich auf der Medostation wieder aufgewacht war, arbeitete mein Verstand mit einer Geschwindigkeit und Schärfe, wie ich es vorher nicht für möglich gehalten hätte. Es war, als hätte ich vorher meine Umgebung immer durch einen dichten Nebel gesehen, als wäre mein Verstand in einem kleinen Raum eingesperrt gewesen und als könnte ich jetzt diesen Raum verlassen und ins Freie laufen.

Harpon hatte gemeint, dass es die Kontaktlinsen gewesen seien. Eine mögliche Erklärung wäre das. Da die Augen über die Sehnerven mit dem Gehirn verbunden sind, könnte an dieser Stelle eine mehrdimensional strahlende Fremdsubstanz über den Sehnerv direkt aufs Gehirn einwirken.

Ich wunderte mich sehr, woher ich solche Begriffe kannte. Es schien so, als ob dieses Wissen anderswo gespeichert sei, und mir nun so nach und nach zufließe.

Ich konzentrierte mich wieder auf Harpon. Der arme Kerl hatte in den letzten Tagen einiges mit mir mitmachen müssen.

Aber nun trug er mich auf seinen Armen in seine Kabine. Noch vor ein paar Tagen, hätte ich keinen Kerl an mich heran gelassen. Schon aus weitaus geringeren Gründen hatte ich jemandem den Arm gebrochen. Jetzt jedoch genoss ich diese Situation. Ich legte meinen Kopf an seine linke Brust und hörte sein Herz schlagen. Und ich fühlte mich so geborgen, wie noch nie in meinem Leben.

 

 

14. Harpon

 

Cassandra war gerettet. Unendliche Erleichterung machte sich in mir breit. Das einzige was ich jetzt noch tun konnte, war mir und ihr Schlaf zu gönnen.

Endlich hatte ich meine Kabine erreicht. Vorsichtig legte ich sie auf mein Bett und zog ihr die Schuhe aus. Ich entfaltete die Schlafdecke und deckte Cassandra vorsichtig zu. Als ich mich zurückziehen wollte, griff sie plötzlich nach meinem rechten Handgelenk. „Bleib bei mir!“ Ich war reichlich überrascht, zog aber Schuhe und Hose aus und schlüpfte zu ihr unter die Decke. Im Dunkeln konnte ich ganz schwach das Funkeln ihrer Augen erkennen. „Tun dir die Augen noch immer weh?“

„Nein, in der Finsternis habe ich keine Probleme. Vielleicht muss ich eine Zeit lang eine Sonnenbrille tragen, bis meine Augen von den Kontaktlinsen entwöhnt sind.“ Wieder fiel mir das Funkeln ihrer Augen auf und einem inneren Impuls folgend, begann ich zärtlich ihre Wangen zu streicheln. Überraschenderweise erwiderte sie diese Zärtlichkeit. Irgendwann hat uns dann der Schlaf übermannt.

Als ich wieder aufwachte, merkte ich, dass Cassandra schon wach war. Sie hatte sich aufgesetzt und musterte mich. Als ich sie ansah, lächelte sie und ich hörte in meinem Kopf ihre Stimme: „Guten Morgen mein Retter!“ Ich schrak auf. „Ich bin kein Telepath. Wieso kann ich deine Stimme in meinem Kopf hören?“

„Ich weiß es nicht. Ich muss soviel Neues über mich und meine Umgebung lernen. Ich kann es dir nicht erklären.“

Ich überlegte. Da fiel mir eine alte Sage ein. „Im Zentrum der Milchstraße ist das intelligente Leben viel früher entstanden, als in den sternenarmen Außenbereichen. Unter den Zentralen Welten gibt es Völker die schon seit 50000 Jahren interstellare Raumfahrt betreiben. Dort hörte ich von einer alten Sage: Ein Mann suchte zehntausend Jahre lang auf zehntausend Welten, bis er die Frau seines Herzens fand. Die Liebe zwischen ihnen wurde so stark und die Bindung zwischen ihnen so innig, dass sie keine Worte mehr gebrauchen mussten, um sich zu verständigen.“

Sie legte sich wieder neben mich. Ich griff um ihre Taille und zog sie an mich heran. Ich musterte sie.

„Macht es dir etwas aus, wenn ich die Beleuchtung etwas hochfahre?“

Sie schüttelte den Kopf. Ich griff zur Steuerung an der Wand und erhöhte langsam die Helligkeit. Als Cassandra „Bitte Stopp“ sagte, ging ich mit der Helligkeit ein kleines bisschen wieder zurück. Ich drehte mich wieder zu ihr um. „Cassandra, du musst sehr starke...“ Als ich ihre Augen sah, traf mich der Blitz der Erkenntnis: „Cassandra! Du hast die Augen einer Comyn!“

 

 

 

15. Comyn

 

„Comyn? Was ist das? Ich kenne diesen Begriff nicht.“

„Einst gab es eine Rasse, die sich Chelari nannten. Lange vor allen anderen Völkern hatten sie einen Entwicklungsstand erreicht, der ihnen interstellare Reisen ermöglichte. Sie erforschten das ganze für sie erreichbare Universum und mussten feststellen, dass es außer ihnen kein weiteres intelligentes Leben gab. Sie hatten sich inzwischen weit über das Universum verteilt. Aber die Erkenntnis alleine zu sein, versetzte ihnen einen schweren Schock. Sie stellten die interstellare Raumfahrt ein und zogen sich in die Wälder zurück. Ihre Städte, ihre Raumhäfen und Schiffe verfielen und ihr Wissen geriet in Vergessenheit. Auch als auf anderen Welten intelligentes Leben entstand, hatten sich die Chelari bereits so sehr an diese Lebensweise gewohnt, dass sie scheu in den Wäldern verborgen blieben.

Auf einer Welt jedoch kam es zu einer Ausnahme. Auf dieser Welt vermischten sich einige wenige Menschen mit den Chelari. Daraus entstanden die Comyn. Die Chelari verfügten über außergewöhnlich starke Psi-Kräfte. Ein Teil dieser Kräfte vererbte sich auf die Comyn. Sie lehrten die Comyn auch den Gebrauch der Sternensteine. Dabei handelt es sich um kleine blaue Steine, welche die Energie der Sterne in sich sammeln. Mit ihren Psi-Kräften können die Comyn diese Kräfte freisetzen und umformen. So können sie je nach Begabung mit diesen Kräften Wunden heilen, das Wetter beeinflussen, mit Tieren sprechen, Feuer erschaffen und lenken und vieles mehr.“

„Und wo leben die Comyn heute?“

„So weit ich weiß, sind die Comyn ausgestorben. Sie wurden von einer negativen Superintelligenz ermordet.“

„Woher weißt du dann, dass ich die Augen einer Comyn habe?“

Ich suchte im Regal nach einem Spiegel. „Sieh selbst. Wenn du einmal den Blick einer Comyn-Frau gesehen hast, dann wirst du ihn dein Leben lang nicht mehr vergessen.“

Sie blickte in den Spiegel und erstarrte. Erst nach einigen Minuten blickte sie mich wieder an. Ihre Augen hatten die Farbe hellen Bernsteins. Es waren die schönsten Frauenaugen, die ich je gesehen hatte.

„Du hast also selbst schon eine Comyn gesehen.“

„Ja, aber das ist viele...“, ich brach ab. Aber Cassandra hatte meinen Gedanken schon gelesen.

„Jahrtausende her.“ Beendete Cassandra meinen Satz. „Harpon, solltest du mir nicht ein paar Dinge über dich erzählen? Wie alt bist du?“

„Willst du wissen wie alt ich bin, oder willst du wissen wie lange ich schon lebe?“

„Sag mir beides.“

„Ich bin 42 Jahre alt. Aber ich lebe bereits seit über 13000 Jahren.“

Diese Worte ließ ich erst ein paar Augenblicke wirken. Dann setzte ich fort: „Meine Auftraggeber planen in kosmischen Maßstäben, über sehr große Zeiträume. Die Zeitspanne eines normalen Menschenlebens hat für sie keine Bedeutung. Aber sie brauchen Helfer, die sie bei der Ausführung ihrer Pläne unterstützen. Den Sterblichen, die sie für diese Aufgaben geeignet halten, geben sie eine besondere Eigenschaft. Diese Auserwählten werden nicht älter.“

„Wer sind deine Auftraggeber?“

„Sie nennen sich Yr.“

 

 

16. Verwandlung

 

Nach dem Frühstück gingen wir in die Kommandozentrale. Noch immer beherrschte Saturn mit seinen Ringen den Bildschirm. Ich ließ diesen Anblick lange Zeit auf mich einwirken. Harpon schien meine Ehrfurcht zu bemerken, denn er ließ mich alleine und setzte sich in den Kommandosessel. Ich bedauerte zutiefst, dass meine Erinnerungen an den stellaren Flug nur sehr vage waren. Ob ich auf die Wiederholung eines solchen Fluges hoffen durfte? Harpon kam auf mich zu: „Dein Wunsch ist mir Befehl.“

Als wir aus dem Hangar schwebten, wurde mir erst klar wie gigantisch das Schiff Harpons war. Die Außenwand schien sich nach allen Seiten bis in die Unendlichkeit zu erstrecken. Erst als wir einige Minuten vom Schiff weggeflogen waren, konnte ich erkennen, welche Form es hatte.

Als wir über dem äußeren Ring des Saturns schwebten fragte mich Harpon: „Cassandra, spürst du deine Bestimmung? Glaubst du, dass du auf der Erde deine Erfüllung findest, oder findest du sie zwischen den Sternen?“ Ich ließ meinen Blick am äußeren Ring vorbei wandern, in die namenlose Schwärze zwischen den Sternen. Ein Schauer lief über meinen Rücken. Eine seltsame, nicht greifbare Faszination ging von dieser grenzenlosen Leere aus. Was mochte dahinter liegen? Gab es dort andere Welten, auf denen sich Leben entwickelt hatte? Durchstreiften diese Lebensformen ebenfalls das All? Nein, die Erde konnte nicht meine Bestimmung sein. Meine Fragen mussten beantwortet werden. Ich musste weiter. Ich musste zwischen den Sternen reisen.

„Meine Bestimmung liegt irgendwo dort draußen, zwischen den Sternen.“

„Dann ist meine Aufgabe erfüllt.“ Sein Gesicht wirkte plötzlich verschlossen. Ich erschrak. Was hatte diese Aussage zu bedeuten? Hatte ich etwas Falsches gesagt? Oder bekommt er jetzt eine neue Aufgabe zugewiesen. Was wurde nun aus mir? Brachte er mich wieder zur Erde zurück?

 

Im Hangar stellte ich die Lichtkuppel ab und blickte Cassandra an. Sie wirkte ängstlich, verzweifelt und zitterte. Wenn sie so wichtig war, dass sie 25 Jahre lang versteckt worden war, welche Aufgaben kamen dann auf sie zu? Wie sollte sie ihre Bestimmung zwischen den Sterben finden? Ohne fremde Hilfe war sie nur eine junge Frau. Wer sollte ihr auf ihrem Weg helfen?

„Harpon, wohin wirst du jetzt gehen? Was ist deine nächste Aufgabe? Was wird aus mir?“ Ich sah die Angst in ihren Augen. Tränen rannen ihr übers Gesicht.

„Ich habe noch keine neue Aufgabe erhalten. Ich kann tun was ich will.“

„Glaubst du, dass in deiner Welt Platz für mich ist?“

Ich sah sie lange an. Sie hatte sich seit gestern verändert. Ihr Haar erschien nicht mehr so stumpf, wie in den letzten Tagen. Die kleine Narbe über ihrer rechten Augenbraue war kaum noch zu erkennen. Auch die schlecht verheilte Narbe auf der Wange sah nicht mehr so schrecklich aus. Sogar ihre Stimme hatte sich verändert. Der primitiv-aggressive Ton war vollkommen verschwunden.

Aber ich musste an die vielen Frauen denken, die an meiner Seite alterten und starben, während ich jung blieb und weiter lebte. Aber sie war eine Comyn. Comyn sind sehr langlebig. 500 Jahre sind eine normale Lebensspanne für eine Comyn.

„Cassandra, du bist ein freier Mensch und kannst tun, was du willst. Du bist noch jung und hast ein langes Leben vor dir. Aber ich bringe dir nur den Tod. Viele Frauen sind an meiner Seite gealtert und gestorben. Erspare mir das. Wie so viele andere Unsterbliche, habe auch ich beschlossen, alleine zu leben. Mein Leben kann sehr kompliziert sein. Ich bin oft viele Jahre lang unterwegs. Verhandlungen mit anderen Völkern ziehen sich teilweise über Monate hinweg. Ich wurde auch schon oft in kriegerische Handlungen verwickelt. Unzählige Male habe ich dabei dem Tod ins Auge gesehen. Die Reisen scheinen manchmal nicht enden zu wollen, sind einsam und trist.“

Ich schwieg und starrte sie lange an. „Du hast dort draußen gefühlt, dass deine Bestimmung zwischen den Sternen liegt. Aber deinen Weg zwischen den Sternen musst du selbst finden.“

„Aber wie soll ich das tun? Ich brauche deine Hilfe. Willst du mich etwa wieder zur Erde zurückbringen? Das würde meinen sicheren Tod bedeuten!“

Es stimmte, was sie sagte. Wer außer mir, würde diese verwahrloste, kleine Frau aufnehmen? Wer sonst könnte ihr helfen? Ich dachte an Mogul. Er wusste mit Sicherheit viel mehr über sie, als er mir gegenüber zugab. Alleine die Tatsache, dass er sich um sie kümmerte, bedeutete, dass sie sehr wichtig war. Ich dachte an meine Aufgaben und an die Völker der Milchstraße. Wenn diese Frau für die Völker der Milchstraße so wichtig war, dann war es meine Pflicht mich um sie zu kümmern.

„Wenn du willst, dann kannst du bei mir bleiben. Bestimme es selbst. Aber überlege dir deine Antwort gut. Wenn du dich für meinen Weg entschieden hast, dann gibt es kein Zurück. Ich lasse dir einen Tag Zeit zum überlegen.“

Ich ließ sie einfach stehen und ging in die Zentrale.

 

Ich war verwirrt. Bis vor ein paar Tagen hatte ich gedacht, ich könne bis in alle Ewigkeit alleine bleiben. Aber diese kleine, unscheinbare Frau hatte etwas in mir ausgelöst. Irgendetwas war wieder zu einem zaghaften Leben erwacht. Und dieses Etwas ließ mich in meiner Meinung schwanken.

 

Ich stand alleine in dem großen Hangar und kam mir so verloren vor. Meine Bestimmung liegt zwischen den Sternen. Dessen war ich mir nun bewusst. Aber wie sollte ich dorthin gelangen, ohne Harpons Hilfe?

Ich betrachtete meine Hände und Fingernägel. Kein schöner Anblick, ungepflegt sahen sie aus. Ich beschloss in meine eigene Kabine zu gehen und ein Bad zu nehmen.

Auf dem Bett lag neue Kleidung. Im Badezimmer fand ich Kosmetika und Mittel für die Körperpflege. Ich ließ ein Bad einlaufen und ließ mich langsam ins Wasser gleiten. Wenn ich schon einen Tag warten musste, dann wollte ich mir die Zeit möglichst bequem vertreiben. Ich manikürte meine Fingernägel. Woher wusste ich eigentlich, wie man das tat? Es war wieder etwas von diesem Wissen, das mir einfach so zuflog. Danach wusch ich meine Haare. Überrascht stellte ich fest, dass sie anscheinend gefärbt waren. Die braune Farbe ließ sich abwaschen. Ich konnte mich aber nicht daran erinnern, sie jemals gefärbt zu haben.

In Gedanken spielte ich noch einmal die Ereignisse der letzten Tage durch: Die Slums, der Mordversuch, die Rettung durch Harpon, sein verzweifeltes Bemühen mein Bewusstsein zu retten, das Erwachen und jetzt? Er schien wie ausgewechselt, mürrisch, verbittert, in sich gekehrt und schien jedes Interesse an mir verloren zu haben.

Ich konnte auch seine Gedanken nicht mehr lesen. Schirmte er sich vor mir ab, oder hatte ich die Fähigkeit dazu verloren?

 

 

17. Mogul

 

Nachdem ich mich ausgiebig an der Nahrungskonsole bedient hatte, begab ich mich in die Zentrale.

Harpon stand vor der Konsole eines Datensichtgerätes. Sein mürrischer Blick war auf die Anzeige gerichtet. Er sah nicht mal auf, als ich die Zentrale betrat. Ich blieb neben ihm stehen und wartete. Nach einer Weile wandte er sich von der Konsole ab und blickte mich an. Erstaunen zeigte sich in seinem Gesichtsausdruck. „Deine Haare! Was ist mit deinen Haaren geschehen?“

Ich wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als sich das Bild auf dem Datensichtgerät änderte. Ich sah ein Gesicht, eindeutig nichtmenschlich. Die Hautfarbe war ein dunkles Blau. Er hatte keine Nase. Die Lippen verzogen sich zu einem breiten, wohlwollenden Lächeln. Die Augen waren nicht zu erkennen, da sie tief in ihren Höhlen lagen.

„Darf ich an Bord kommen, Harpon?“

„Mogul, mein Freund, du bist mir immer willkommen.“

Einen Augenblick später stand, oder besser gesagt schwebte Mogul neben uns. Er war etwas größer als Harpon, breit in den Schultern und trug einen Umhang, der die gleiche blaue Farbe hatte wie sein Gesicht. Er hatte keinen Hals. Der Kopf ging direkt in die breiten Schultern über. Ich konnte weder Arme noch Beine erkennen. Er schien einfach ein paar Zentimeter über dem Boden aufzuhören, so als wäre er nicht stofflich. Ich spürte aber deutlich die Präsenz seines Geistes. Also musste er doch stofflich sein?

„Cassandra, darf ich dir meinen besten Freund Mogul vorstellen?“ Mogul wandte sich mir zu und deutete eine leichte Verbeugung an. „Es ist mir eine Ehre, Cassandra.“ Als er sich wieder aufrichtete, sah ich es kurz in seinen Augenhöhlen aufblitzen.

Harpons Laune hatte sich merklich gebessert, seit Mogul eingetroffen war.

„Mogul, was ist der Grund für Deinen Besuch?“

„Ich würde mich gerne mit Cassandra unterhalten, aber nicht hier an Bord Deines Schiffes.“

Harpon wandte sich an mich: „Du kannst ihm vertrauen, Cassandra.“

Mogul sah mich an: „Bist du bereit für eine Reise?“

Ich nickte.

 

Plötzlich war die Kommandozentrale verschwunden. Ich stand auf einer blühenden Frühlingswiese, hörte das Zwitschern von Vögeln und spürte die wärmende Strahlung der Sonne auf meiner Haut. Der Geruch von Blumen und das Summen von Insekten erinnerten mich an die Wiese, die sich hinter dem Waisenhaus bis zum nahen Fluss erstreckt hatte. Ich sah mich um. Die Wiese schien kein Ende zu nehmen. Mogul stand einige Meter von mir entfernt. Langsam ging ich auf ihn zu. Die Fähigkeit Gedanken zu lesen, schien ich verloren zu haben. Aber die Emotionen von Mogul konnte ich deutlich spüren. Obwohl er das Fremdartigste war, was ich je gesehen hatte, wusste ich, dass ich diesem Wesen vertrauen konnte.

 

Mogul begann zu erzählen: „Harpon gehört einem uralten Ritterorden an. Dieser Orden wurde vor Hunderttausenden von Jahren vom Volk der Yr gegründet, zum Schutze der Völker der Milchstraße. Einst gab es viele Ritter der Ewigkeit. Aber nur noch Harpon ist übrig. Alle anderen sind gestorben, verschollen oder wahnsinnig geworden.

Die Ritter der Ewigkeit hatten keine Gefühle und konnten deswegen manche Aufgaben nur unzureichend erfüllen, weil sie sich in die Denkweise fühlender Wesen nicht hineinversetzen konnten.

Harpon ist anders. Man gab ihm seine Menschlichkeit. Das ist seine Stärke, aber auch gleichzeitig seine größte Schwäche. Wie jedes andere fühlende menschliche Wesen braucht auch er Liebe und Zuneigung. Er hatte viele Frauen. Aber sie waren Sterbliche und er musste mit ansehen, wie sie an seiner Seite alterten, zu Greisinnen wurden und starben. Jeder Tod hinterließ eine tiefe Wunde in seiner Seele. Die Wunde verheilte im Laufe der Jahre und er fasste wieder Mut und fand eine neue Geliebte. Aber auch sie starb. Und mit jedem Tod seiner Geliebten dauerte es länger, bis die Wunde in seiner Seele verheilt war. Das geschah viele Male, bis vor 270 Jahren. Beim Tod seiner letzten Geliebten ist in ihm irgendetwas zerbrochen, das nicht mehr verheilt ist.

Harpon hat dir das nicht absichtlich verschwiegen. Er kann einfach nicht darüber sprechen. Deswegen habe ich dir diesen traurigen Teil seiner Geschichte erzählt.“

Schweigen.

„Eine uralte Prophezeiung sagt uns, dass die Sterne erlöschen werden, wenn der letzte Ritter der Ewigkeit stirbt. Auch die meinigen respektieren und fürchten diese Prophezeiung.

Cassandra, Harpon ist für uns unendlich wichtig. Ich bitte dich, hilf uns, indem du ihm hilfst. Bleibe bei ihm. Du hast noch 500 Jahre zu leben. Ich verspreche dir, wenn du bei ihm bleibst, werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um dir zu helfen.“

„Aber wie kann ich ihm helfen? Verglichen mit Harpon bin ich ein Nichts. Was soll ich tun?“

„Es geht um seinen Lebenswillen. Sorge dafür, dass er leben will.

Und um eines bitte ich dich noch: Frage ihn niemals nach der Letzten Krypta.“

Schweigen.

„Wenn du willst, dann bringe ich dich jetzt wieder zurück.“

„Mogul, ich wäre jetzt gerne eine Stunde lang für mich alleine.“

 

Wenn mir auf der Erde jemand diese Geschichte erzählt hätte, dann hätte ich ihn wahrscheinlich ausgelacht. Aber hier unter dem Himmel eines fremden Planeten von so einem phantastischen Wesen wie Mogul diese Geschichte zu hören, war etwas anderes. Ich konnte genau spüren was ein Wesen fühlte. Bei Mogul spürte ich Besorgtheit, aber auch eine unglaublich starke innere Ruhe und Selbstvertrauen. Bei Harpon spürte ich diesen Hauch von Ewigkeit, seine tief vergrabene Trauer um etwas Verlorenes, das er einfach nicht finden konnte und diesen Verlust jeglicher Lebensfreude. Ich spürte auch diese geheimnisvolle Bindung an mich und noch etwas: Liebe, verleugnete Liebe.

 

Ich setzte mich auf die Wiese. Die Blumen und Gräser wiegten sich in der leichten Briese. Auf der Blüte einer Pflanze konnte ich ein Insekt mit einem langen Rüssel erkennen. Wie viele Beine haben die Insekten auf der Erde fragte ich mich? Ich glaube sechs. Und dieser Käfer? Er hatte nur vier. Wie mögen die Insekten wohl auf anderen Welten aussehen? Vielleicht gab es dort gar keine Insekten. Ich würde das gerne herausfinden.

 

Was sollte ich nun tun? Wieder zurück zur Erde gehen in die Slums? Das würde irgendwann meinen sicheren Tod bedeuten. Oder an Harpons Seite durchs Weltall ziehen? Schon einmal hatte ich mich gefragt, was wohl hinter dem Mond liegen würde. Heute hatte ich die Leere hinter dem Saturn gesehen. Und ich hatte gespürt, dass es da draußen zwischen den Sternen etwas gibt, das mich magisch anzieht.

Und Harpon, der Unsterbliche, der seinen Lebenswillen verloren hatte? Für sich wollte er Ruhe und sehnte sich nach dem Tod. Er wusste aber, wie wichtig seine Aufgaben als Ritter der Ewigkeit waren. Daher kam seine innere Zerrissenheit. Er musste leben und wollte es nicht. Wie würde ich mich in seiner Situation fühlen? Er tat mir leid. Wie viel an Schmerzen muss ein Mensch erleiden, damit er seinen Lebenswillen verliert? Ich fand Harpon gleichermaßen abstoßend und anziehend. Abstoßend weil er sterben wollte und anziehend weil er die Ewigkeit gesehen hatte. Und es gab noch etwas an Harpon das mich magisch anzog. Zwischen ihm und mir gab es eine geheimnisvolle Bindung. Und mir schien, als würde diese Bindung jeden Tag stärker.

War er eigentlich immer unterwegs, oder hatte er eine Heimat? Vielleicht war dieses Schiff seine Heimat.

 

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Der Preis der Unsterblichkeit

Reihe: Der Weg zwischen den Sternen 1

Autor: Hermann Weigl

Broschiert: 232 Seiten

Verlag: Books on Demand GmbH; Auflage: 1 (17. Oktober 2007)

Sprache: Deutsch

ISBN-10: 3837011763

ISBN-13: 978-3837011760

Erhältlich bei: Amazon

Disclaimer:

Freigabe zur Weiterveröffentlichung der Leseprobe besteht, soweit vom Autor nicht anders angegeben nur für "FantasyGuide.de". Für alle weiteren Veröffentlichungen ist die schriftliche Zusage des Autors erforderlich.


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Erstellt: 16.01.2008, zuletzt aktualisiert: 23.02.2015 23:33, 5673