Reihe: Cañari Bd. 1
Rezension von Christian Endres
Eigentlich wollen Häuptlingstochter Cañari und ihre drei Geschwister im letzten Moment nur Wasser aus der Heiligen Quelle im Urwald holen, um danach schnellstmöglich zurück zum Markt zu gehen und das Wasser zu verkaufen. Doch ein kurzes Bad im Heiligen Wasser hat fatale Folgen, als Cañaris Bruder Xaotil scheinbar im Tempel oberhalb des Wassers verschwindet. Cañari und ihre verbliebenen Geschwister machen sich auf, den zukünftigen Häuptling ihres Stammes zu suchen – und öffnen unwissentlich die Tore zu Raum und Zeit, welche die Oberwelt mit der Unterwelt verbinden...
Andere Zeit, gleicher Ort: Surfer Wayne und seine hippe Clique suchen einen paradiesischen kleinen Ort am Strand von Mexiko auf. Wayne wartet dort auf die große Welle, obwohl das Wasser ruhig ist wie eine Glasplatte und nur das Innere der Margarita-Gläser unruhig hin und her schwappt. Doch wartet Wayne wirklich auf die große Tsunami-Welle? Zieht ihn vielleicht nicht doch etwas anderes immer wieder an diesen Ort?
Mit dem ersten Hardcover-Album legt der wiederauferstandene Splitter Verlag ein üppiges Stück großartig aufgemachter Comic-Unterhaltung vor, das vom Buchrücken bis zum Titelschriftzug überzeugt. Breitwandige 23 x 32 Zentimeter bieten den atemberaubenden Zeichnungen von Carlos Meglia darüber hinaus viel Raum, sein Talent voll zu entfalten. Dabei ist Meglia mit seinem modernen, durchgestylten Zeichenstil (also seinen bunten Konturen, bei dem die Inks sanft ineinander übergehen und sich den Farbflächen anpassen, und seiner Kolorierung) zeitgenössischen Animations- und Trickfilmen der letzten Jahre näher denn dem klassischen Comic. Cañari entpuppt sich somit bereits auf der ersten Seite als ein dschungelbunter, optisch außergewöhnlicher Leckerbissen irgendwo zwischen Dreamworks Der lange Weg nach El Dorado und US-Zeichenstar Humberto Ramos. Außerdem geben Meglias dynamische, impulsive Zeichnungen, die der temporeichen Story von Didier Crisse in nichts nach stehen und eine kongeniale Symbiose mit dieser eingehen, die hohe Taktfrequenz des Albums vor, die sich auch in der Geschichte wiederspiegelt.
Allerdings ist das auch ein wenig das Manko dieses ersten Bandes von Cañari: Altertümliche Dschungelgötter, hungrige Skelette, Zeitreisen, Weltentore, drogenträumende Vogelhändler, sprechende Panther, kleine nervige Waldgeister, mächtige Artefakte – Crisse mixt unglaublich viele Zutaten zusammen, füllt die 48 großformatigen Seiten mit zahlreichen Elementen und ineinander übergehenden sprunghaften Szenen. Dabei kommt die Geschichte selten zur Ruhe. Zwar wirkt sie trotz allem angenehm homogen und durchdacht – verschnaufen tun sie und ihr Leser jedoch nur dann, wenn der melancholische Surfer Wayne seinen Auftritt hat. So lange es aber um Cañari und ihre Suche in der Zwischenwelt geht, folgt eine Szene der nächsten, Schlag auf Schlag.
So fühlt man sich als Leser von »Die goldenen Tränen« aufgrund so viel inhaltlicher wie visueller Opulenz und Sprunghaftigkeit manchmal fast ein wenig erschlagen und weiß gar nicht, wo man zuerst hinschauen soll, um auch wirklich in den vollen Genuss dieses außergewöhnlichen Comics zu kommen, ehe es schon wieder zur nächsten Seite, zum nächsten der wunderschön gestalteten Panels und dem nächsten spritzigen Einfall Crisses geht.
Trotzdem macht die Achterbahnfahrt durch Dschungel, Tempel und Götterhorte großen Spaß und reißt einen durchaus mit. Der Grundstein für die Fortsetzung ist gelegt, das Interesse zweifellos geweckt, der Leser schwer beeindruckt. Artwork, Story, Setting, Cover, Aufmachung, Gestaltung – es gibt vieles, was an Crisses und Meglias Cañari begeistert und trotz der leichten Überfrachtung dieses furios-feurigen Auftaktbandes zwischen Surfer-Depressionen, Götterzorn und Dimensionssprüngen durch die südamerikanische Landesgeschichte definitiv Hunger auf den nächsten Band macht.