Der Mann am Kamin sagte, sein Bruder hätte einen Kameraden im Gebirge verloren, weil seine Hand die des Freundes nicht hätte packen können. Direkt neben ihm wäre er abgestürzt mit dem Tod in den Augen und einer letzten Frage: Warum hast du mich fallen gelassen?
Er sah mich lauernd an, dann, als ich nichts entgegnete, fast enttäuscht. Ich hätte wohl betroffen reagieren müssen, aber das wäre ihm nicht gerecht geworden. Er wusste mehr, als er zugeben wollte.
Ich dachte zurück: Es war einer dieser entsetzlich schwülen Urlaubstage, die Kinder quengeln lassen. Ich gehörte zu den Stillen, die mit ernster Miene neben ihren Eltern auf staubigen, steilen Rundwanderwegen trotten und ihnen nur schweigend die Schuld geben. An der Hitze. An den roten Sandalen, in denen die nackten Füße kleben. An den Mücken. Am Ziel, das mich nicht wirklich interessierte: Ein Aussichtslokal mit eingezäunter Plattform, von der aus man das ganze Tal betrachten konnte. Ich ging am Gitterzaun in die Hocke, blickte durch die Stäbe hinunter und überlegte, wie lange es dauern würde, bis meine Spucke irgendwo in einer Baumkrone oder auf einem Ameisenhaufen landen würde. Vielleicht auch im Wasser.
Dort ganz tief unten war ein See, und ich dachte, wäre ich jetzt etwas kleiner und würde durch das Gitter passen, dann könnte mich jemand schubsen oder in den Rücken treten und ich würde fallen. Mag sein, nicht sofort. Ich würde schwanken und taumeln und vermutlich nach meinen Eltern rufen, aber bis die das gehört, das alles überhaupt bemerkt hätten, wäre es längst zu spät. Keine Hilfe. Keine Hand. Ich würde hinunterstürzen und dabei hin und her schwanken und rudern und flattern und es wissen. Meine Eltern würden sich dort oben über die Brüstung lehnen und ihre Arme nach mir ausstrecken und schreien: »Wer hat das getan?«
Während ich durch die Stäbe nach unten blickte, war ich bereits tot, und ich drehte mich kurz um und schaute mir all die fremden Leute an, die auf der Plattform standen. Ich suchte meinen Mörder, fand ihn nicht, dachte ihn mir aus und versank wieder in der Tiefe.
Dann sah ich es fallen. Ich starrte ihm hinterher, bis der See es verschluckte. Es ließ mich schaurig werden. Noch mehr.
Es war das Halstuch einer Frau.
Es war ein Kind. Es war meine Schwester, die eben noch neben meinem Vater am Aussichtsfernrohr gestanden hatte. Sie hielt mir ihre kleine Hand entgegen, und ich griff nach ihr und griff ins Leere.
Sie fiel und sah mich an, und ihre Augen fragten warum. Sie sind grün. Aber sie waren gelb. Ihr Gesicht war schuppig und völlig verzerrt, sie hatte ganz blutige Lippen, und ihre Zähne waren braun und spitz. Ihre Hand, die ich plötzlich doch in meiner hatte, fühlte sich pelzig, groß und böse an. Ich ließ sie los und atmete auf. Sie fiel.
Ich schenkte ihr drei Groschen vor unserem Abstieg. »Für Kaugummi«, flüsterte ich, »erzähl das Mama nicht.«
Der Mann am Kamin sagte, er würde nichts aus einem Brunnen ziehen, das gelbe Augen hätte. Ich sagte, manchmal muss man das, egal, was kommt. Das sind nur Geschichten, sagte er, und hinter den Spiegel gehe ich längst nicht mehr.