Endspiel (Autor: Michael Elflein)
 
Zurück zur Startseite


  Platzhalter

Endspiel

Autor: Michael Elflein

 

»Schachmatt. Ich hab Sie schon wieder geschlagen, amigo!« Barrett grinste und lehnte sich so weit zurück, dass der Klappstuhl auf den sandigen Bodenbrettern gefährlich weit nach hinten kippte. Er fand großen Gefallen an seinem Sieg.

Gilbert starrte durch seine dicken Brillengläser ungläubig auf die Spielfiguren, als müsse er sich davon überzeugen, dass alles mit rechten Dingen zuging. Doch sein neuer Kamerad hatte nicht gemogelt.

»Herrgott noch mal«, brummelte er grimmig. Seine Stirn legte sich in steile Falten. »Wie machen Sie das nur?«

»Talent, mein Lieber. Ich habe eben Talent.« Barrett nahm einen Kräcker in den Mund und stellte die Spielfiguren für die nächste Partie in die Grundstellung.

»Ärgern Sie sich nicht. Wie heißt es so schön: Pech im Spiel, Glück in der Liebe.« Er zwinkerte Gilbert zu.

»Sie wissen ganz genau, dass der Zug für mich längst abgefahren ist, Sie verdammter Idiot!«, schimpfte Gilbert. »Meine Haut ist runzelig wie der Blasebalg eines Akkordeons, in meinen Händen steckt die Arthritis – ich bin froh, wenn ich überhaupt noch die Figuren halten kann, ohne dass sie mir aus den Fingern gleiten!«

Barrett lachte, aber es war ein gutmütiges, herzhaftes Lachen. »Ja, wir sind beide alt und schrullig geworden. Ein Jammer, dass es so ist, aber es ist so – Sie sind dran, mein Freund!«

Gilbert rückte den weißen Läufer diagonal auf das Feld A4. Diesmal nahm er sich fest vor, seinen Kontrahenten zu schlagen, doch er musste sich eingestehen, dass er bei weitem nicht über eine Strategie verfügte, die Barretts spielerischem Können gewachsen war. Letztendlich würde er erneut auf sein Glück vertrauen müssen.

»Erst vor zwei Wochen hab ich mich bei meinem Neffen über den lauten Verkehr beklagt. Heute sehne ich mich beinahe danach.« Gilbert lachte humorlos. »Kaum zu glauben, nicht wahr?«

Barrett und Gilbert, die im Schatten der Palmen auf der Terrasse saßen, hatten die Strandbar für sich alleine. Der Windansea Beach war ebenso leer wie die Metropole dahinter, die gesamte Südwestküste ruhte still am Fuße des Pazifiks. In der Ferne ragte entvölkert und dunkel die Skyline der Millionenstadt empor. Die Fußspuren, die sich einst im Sand abzeichneten, waren längst von den an Land schäumenden Wellen überspült worden.

»Noch können wir gehen«, erinnerte Gilbert und dachte an die in Massen nach Osten geströmten Autos. In der gesamten Stadt hatte der Ausnahmezustand und ein nie enden wollendes Hupkonzert geherrscht, es war kein Durchkommen mehr gewesen. Jeder hatte der Erste sein und sich in Sicherheit bringen wollen.

»Wenn wir sofort aufbrechen und uns beeilen, schaffen wir es vielleicht noch rechtzeitig. Die I-8 Richtung Arizona dürfte ab Alpine inzwischen wieder frei sein.«

Barrett schüttelte den Kopf. »Seit ich denken kann, lebe ich in San Diego. Ich ging hier zur Highschool, und im Abschlussjahr lernte ich Mary-Ann kennen. Ich fand meine Liebe und verlor meine Unschuld. Die Stadt steckt voller Erinnerungen. Nein, das ist nichts mehr für meine alten Knochen. Ich würde eingehen wie ein Gewächs, das man verpflanzt.« Er nahm einen kräftigen Schluck Tequila. »Hier bin ich geboren, hier werde ich sterben.«

Gilbert deutete ein Nicken an. »Geht mir ehrlich gesagt genauso. Auch ich bin müde geworden. Außerdem, ich hab mehr als fünfzig Jahre Ehe überlebt – da werde ich das gleich zweimal überstehen!«

Einen Moment lang lachten beide. Nur das Meer rauschte, an der Oberfläche spiegelte sich blutrot die untergehende Sonne. Gelegentlich schlug die Brandung gegen die Felsen.

Ihre erste Begegnung lag nur wenige Tage zurück. Beide Männer hatten zunächst geglaubt zu träumen, nie und nimmer hatten sie damit gerechnet, in der toten Stadt auf einen anderen Menschen zu treffen. Aber schnell fassten sie Vertrauen zueinander. Inzwischen hatten sie den Eindruck, sich schon ewig zu kennen.

»Wie war sie so, Ihre Frau?«, wollte Barrett wissen.

Gilbert antwortete nicht gleich.

»Sie war ein Juwel«, meinte er schließlich. »Sie brachte mich selbst dann zum Lachen, wenn es mir hundeelend erging, und sie machte die besten Hotdogs der ganzen Stadt. Ich hätte alles getan für diese Hotdogs, das können Sie mir glauben!« Er dachte an die alten Zeiten. »Sie hätten sich bestimmt gut verstanden, Sie und Melinda.«

Barrett, nie verheiratet, lächelte. Er hatte fasziniert zugehört. Beinahe beneidete er seinen Kameraden um diese Erinnerungen.

»Haben Sie Kinder?«, fragte er weiter.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Nun ... Es hat nicht geklappt.«

»Woran hat es denn gelegen? Konnten Sie nicht?«

»Ich? Nein. Im Gegenteil. Ich –« Gilbert stockte. »Meine Frau konnte keine Kinder bekommen«, erwiderte er. »Melinda und ich, wir hatten es jahrelang versucht. Aber es klappte nicht.«

»Das muss ein Schock für sie gewesen sein«, vermutete Barrett.

Gilbert nickte grimmig. »Es war ein Schock für uns beide.«

Betretenes Schweigen setzte ein, nur der Wind fegte über die Küste und durch die leeren Straßen der Stadt. Die Flammen der beiden Kerzen auf dem Tisch begannen zu zucken. Es war bemerkenswert kühl für die Jahreszeit, die Tage wurden kürzer. Am Himmel zogen graue Wolken vorüber.

Nach einer Weile konzentrierten sich die Männer wieder auf das Spiel. Gilbert schlug mit dem Bauern einen schwarzen Springer. Barrett zog überrascht die Augenbrauen hoch.

»Manchmal denke ich, wir sind selbst solche Spielfiguren«, philosophierte er. »Zug für Zug gehen wir einen steinigen Weg. Ob es der richtige ist, erfahren wir erst im Nachhinein.« Er hielt inne und griff zum Tequila-Glas. »Wenn Sie Ihr Leben noch einmal leben könnten, amigo, würden Sie etwas ändern?«

Gilbert sah auf. Er musste darüber nachdenken und ließ sich reichlich Zeit dafür.

»Nein«, antwortete er schließlich.

Barrett nickte nach einem Zögern.

»Das heißt, wenn ich’s mir recht überlege, eine Sache wäre da vielleicht doch.«

»Ja?«

»Ich würde einen Schachkurs belegen.«

Ein schwaches Lächeln. Barrett rückte die Dame in Angriffsposition und wartete auf Gilberts nächsten Zug, doch sein Kamerad starrte stattdessen hinaus aufs Meer.

»Es sieht so friedvoll aus«, murmelte Gilbert. »Kaum zu glauben, dass es uns gefährlich werden könnte, nicht wahr?« Er räusperte sich. »Aber müsste man nicht schon irgendwas sehen?«

Barrett zuckte die Achseln. »Ich würde lachen, wenn die ganze Panikmache umsonst war«, antwortete er. »Wäre nicht das erste Mal, dass die Medien was aufbauschen, nur um der Schlagzeilen willen. Tränen würde ich lachen. Aber ich weiß es nicht.«

Gilbert fröstelte. Dann stand er schweigend auf und trabte schwerfällig zum Tresen im Innenbereich. Jede Minibar wäre bei der Auswahl der dort stehenden Spirituosen vor Neid erblasst. An der Wand hingen verschiedene Wein- und Biergläser.

»Wie möchten Sie Ihren Drink, Mister Bond?« Er imitierte einen britischen Akzent. »Geschüttelt oder gerührt?«

»Gehaltvoll«, rief Barrett. »Sehr gehaltvoll.«

»Sie wissen, dass Sie mit jedem Rausch zwanzig- bis dreißigtausend Gehirnzellen weniger in der Birne haben?« Gilberts Stimme klang tadelnd.

»Mir doch egal. Sie sollten sich vorsehen.«

»Sehr witzig.« Gilbert kam mit zwei vollen Gläsern zurück, setzte sich und zog kräftig am Strohhalm. »Ich hätte es kaum für möglich gehalten, aber inzwischen habe ich einen Narren an diesen Cocktails gefressen.« Er grinste.

»Trotzdem sollten Sie auf Ihre Leberwerte achten«, mahnte Barrett.

»Papperlapapp.« Gilbert winkte ab. »Wenn der Alkohol mich nicht umbringt, dann mein Arzt Dr. Gale, wüsste er, wie ich mit meiner Gesundheit umgehe. Aber soll ich Ihnen was sagen? Es ist mir SCHEISSEGAL!«

Die Männer lachten.

»Ich wünschte, wir hätten uns eher kennen gelernt, amigo.«

»Ja, das wünschte ich auch.«

Nach und nach verschwanden die Spielfiguren vom Schachbrett. Am Ende blieben nur noch die Könige und Bauern übrig. Das Brett war so leergefegt wie die einstige Millionenstadt. Es war eine spannende Partie, bei der Gilbert überraschend aufgeholt hatte, und bei der keiner der beiden Kontrahenten den Kürzeren ziehen wollte.

»Verraten Sie mir eines, Gilbert: Warum hat es uns ausgerechnet hierhin verschlagen? Ich meine, wir könnten genauso gut im Ritz-Carlton in Champagner baden!«

Gilbert verzog angewidert das Gesicht. »Was hab ich davon, in ein goldenes Klo zu scheißen?«, brummelte er. »Und von Schampus krieg ich Kopfschmerzen! Nee, hab mir nie viel aus Luxus gemacht. Hier hingegen hab ich das Meer, den Strand, die frische Luft ... Ist das nicht herrlich?«

»Ja, das ist es«, stimmte Barrett zu. »Das ist es in der Tat.«

Eine Zeit lang schwelgten beide Männer erneut in Erinnerungen. Der Wind wurde stürmischer, er ließ die Palmenblätter erzittern, und die herannahende Gischt schlug nun so heftig gegen die Klippen, dass es zischte und brodelte. Die Nacht verfinsterte die Südwestküste, eine eisige Kälte fuhr wie ein schleichendes Gift in Barretts und Gilberts Glieder. Am Boden raschelte eine achtlos weggeworfene Alufolie.

»Connery«, murmelte Gilbert. »Connery war der Beste.«

Barrett drehte irritiert den Kopf. Er hatte zunächst Mühe, Gilberts Gedankengang zu folgen.

»Ja«, bestätigte er schließlich. »Connery war der Beste.«

Irgendwann spielten die Männer weiter, im Bewusstsein, dass jedes gemeinsame Spiel ihr letzte sein konnte. Sie spielten selbst dann noch, als der Pazifik sich auftürmte, und meterhohe Flutwellen die Millionenstadt zu überrollen drohten.

 

Nach oben

Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 20241012083502b10c233d
Platzhalter

Disclaimer

Die Charaktere dieser Geschichte, sowie alle Handlungen sind geistiges Eigentum des Autors. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten oder Handlungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Der Autor verfolgt kein kommerzielles Interesse an der Veröffentlichung dieser Geschichte.

Freigabe zur Weiterveröffentlichung besteht, soweit vom Autor nicht anders angegeben nur für "FantasyGuide.de". Für alle weiteren Veröffentlichungen ist die schriftliche Zusage des Autors erforderlich.


Platzhalter
Platzhalter
Erstellt: 20.04.2010, zuletzt aktualisiert: 28.12.2018 09:08, 10355