Ersatzteil (Autor: Ralf Steinberg)
 
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Ersatzteil

Autor: Ralf Steinberg

 

Er drehte die Sense, holte den Schleifstein aus der Beintasche und begann, mit ruhigen Bewegungen die Schneide zu schärfen. Die Wiese stand hoch, der Geruch des geschnittenen Grases lag schwer und süß in der Luft und vermischte sich mit den kräftigen Sonnenstrahlen zu einem perfekten Morgen.

Peter setzte seine Arbeit ohne Hast fort, bis er genug Gras für eine hoch bepackte Heukarre zusammen hatte.

Die schwarze Schlacke der Straße staubte nur leicht, als er den Weg zum Stall einschlug; noch hingen Reste des Taus in allen Dingen. In Spinnenweben, an den eisernen Beschlägen der Stalltür - überall dort, wohin die Sonne noch nicht drang.

Das bohrende Gefühl in seinem Bauch, das er für Hunger gehalten hatte, war Angst, stellte Peter plötzlich fest. Lampenfieber.

Eine merkwürdige Unruhe in ihm, die er aushalten musste, bis zum Mittag.

Im Stall wurde er laut begrüßt, Quieken und Muhen, nur die Kaninchen stoben lautlos durch ihre Käfige. Über dem Füttern konnte Peter das Denken verdrängen, doch als er danach in der Küche stand, sich Eier briet und auf das Zischen der Kaffeemaschine wartete, musste er an seinen Besuch denken und sein Herz schlug schneller, so dass er überlegte, Milch anstelle des Kaffees zu trinken. Doch der Geruch verlockte ihn, dann aß er hastig und eilte, ohne ausgetrunken zu haben, zum Live-Room.

Wie immer vernahm Peter ein leises Flüstern, von dem er wusste, dass es eine Einbildung war und ganz allein in seinen Kopf stattfand.

Da lagen die fünf; ein jeder von ihnen in einem eigenen kleinen Zentrum aus Licht und geheimnisvoller Starre. Dunkel, im Schatten der ausgeschalteten Terminals und Anzeigen, stand neben den anderen die Liege, deren Anblick ihn störte; auf der ein halb in den Geräten verschwundener Körper fehlte. Lisas Körper.

Mechanisch nahm er die Statusanzeigen der fünf besetzten Liegen wahr.

»Guten Morgen!«, sagte er.

Guten Morgen, Peter! erschien im zentralen Hologramm des Raumes.

Er wartete kurz. Doch sie sagten nichts über sein Gespräch nachher. Erneut schaute er auf Lisas Liege. Wenn er Glück hatte, musste er sich an einen neuen Namen gewöhnen.

Peter versuchte zu erkennen, ob die anderen auch aufgeregt waren. Doch in den fahlen Gesichtern der Gruppe regte sich nichts.

Früher hatte er versucht, in dem, was nicht von Schläuchen und Filtern bedeckt war, Gefühle zu entdecken, doch da fand sich nie auch nur die kleinste Spur. Kein Zittern, keine Vertiefung von Falten - nichts.

Als er Lisas leblosen Körper aus der Maschine gepellt hatte, erstaunte ihn ihr Gesicht. Obwohl er sich die Gesichter seiner Gruppe jederzeit hätte anschauen können, mied er die virtuellen Galerien, wie überhaupt alles, was das Leben der Gruppe, aber nicht ihn betraf.

Die Anzeigen verrieten nichts, was er nicht auch erwartet hatte. Seit Lisas Tod blieb die Gruppe den großen Communities fern und schonte somit ihre geistigen Ressourcen. Alles blieb im Mittelfeld, keine Spitzen für Aktivität und Stoffwechsel.

Samantha und Hans schienen ein eigenes Projekt zu betreiben, ihre Wachphasen lagen im selben Zeitraum.

Peter überlegte kurz am Terminal, dann fügte er dem Speiseplan Kuchen hinzu. Vielleicht gab es ja etwas zu feiern nachher.

Im Office-Bereich der Anwendung fand Peter einen kurzen Sendehinweis von Mia, der Jüngsten in der Gruppe, über den monatlichen Bericht zur Lebensmittelsicherheit; nichts was er zu lesen gedachte.

Es war nicht so, dass er den Verwaltungskram hasste, aber es kostete ihn viel Kraft, hinter die ganzen Verordnungen und Gesetze zu steigen, denen ein Energiewirt wie er zu folgen hatte. Mia handhabte die gesamte Bürokratie jedoch virtuos, Peter vermutete, dass keiner in der Gruppe ihr dabei etwas vormachen konnte, obwohl er auch das kaum einschätzen konnte. Zu wenig verstand er von ihrem virtuellen Leben, diesem rein elektronischen Reden, Arbeiten...

Das Kraftwerk-Monitoring zeigte überall grüne Lampen, der Reaktor lieferte kontinuierlich Strom ins Netz, nur seine Ernteeinschätzung fehlte, dann konnte Mia auch diesen Bericht nach Brüssel schicken. Er würde sich wohl oder übel am Sonntag damit befassen müssen.

Peter spürte die Aufmerksamkeit der Gruppe. Doch sie sprachen ihn nicht an, keiner von ihnen.

Vielleicht verlangte er auch zu viel von ihnen. Für sie war alles schon längst geregelt. Die Ausschreibung stand seit Monaten im Netz, die Gruppe hatte alle Reaktionen geprüft und diese eine ausgewählt. Nun kam es nur noch auf ihn an.

Mit einem Seufzer schloss er die Fenster auf dem Bildschirm, zuletzt das Nahrungsmittelmenü. Was auch immer die Auto-Küche nachher in die Schläuche spritzte, es würde Kuchen sein. Rosinen und Mandeln - Peter blinzelte und ging hinaus.

 

*

 

Der Druck in seinem Bauch begann sich zu verstärken, je mehr es auf Mittag zuging. Er verrichtete unnötige Arbeiten, nur um die Zeit totzuschlagen, bis er auf die Idee kam, das Kraftwerk zu kontrollieren, sicher würde er das sehen wollen.

Die beiden Fertigteilschuppen wirkten wie Spielzeug inmitten der alten Gebäude des Hofes, obwohl er sie mit Absicht hinter dem großen Stall hatte aufstellen lassen. Das Pflaster der breiten Trecker-Straße hatte Peter selbst gesetzt. Jeder Stein kam von den Äckern und Felder und kein einziger glich seinem Nachbarn. Irgendwann in der Eiszeit musste ein Gletscher sie hierher geschoben haben und nun führten sie in loser Ordnung vom Feldweg zum Schacht der Pelletier- und Gärkammern, die in ewigem Hunger auf die Ernte warteten.

Die Anlage stand seit gut fünf Jahren und lief fast wartungsfrei. Obwohl Peter einen Großteil des Kraftwerks selbst warten konnte, kam hin und wieder ein Servicetechniker vorbei. In letzter Zeit schickte die Firma jedoch immer öfter einen dieser schweigsamen Männer, einen Separated Bit, der drahtlos im Netz steckte und seiner Arbeit bleich und effizient nachging.

Die Zeit würde kommen, da es kaum noch Menschen gäbe, die sich nach den wilden Jahren der Jugend für ein Leben ohne Netz entschieden.

Er hatte es gemocht, mit dem Techniker zu reden, ihm zur Hand zu gehen und all die kleinen Tricks zu lernen, mit denen ein ausgefuchster Profi die Maschinen bediente und dabei Dinge probierte, die in keinem Handbuch standen.

Peter wischte einige neue Spinnenweben aus den Ecken im Maschinenraum, während er flüchtig prüfte, ob das Kraftwerk vorzeigbar wäre. Doch was sollte sich seit gestern Abend verändert haben? Mattes Plastik neben Röhren und Kesseln, digitale Anzeigen, der Geruch nach Schmierfett auf heißem Metall und über allem der Güllegestank, den tausend Filter nicht aus den Räumen bekamen.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er sich langsam auf den Weg machen konnte. Bald würde das Taxi aus der Stadt am oberen Feldweg halten.

 

*

 

Die Wärme brachte die Luft zum Flimmern und erschwerte Peter das Beobachten des Weges. Er spürte das Holz des Gatters, auf das er sich schwer stützte, es war rissig und grau, verziert von Flechten und Algen. Etwas Kamilleduft zog von der Wiese herüber, lud ihn wie jeden Tag ein in den Schatten der Hecke und doch stand Peter nicht der Sinn nach einer Mittagspause. Er wartete auf den Besuch. Auf den Sechsten für den Live-Room, wenn er denn bliebe.

Ein schwarzer Fleck im Flimmern und Peter stellte sich gerade hin, das Gatter wie eine Theke zwischen sich und dem Weg. Ein Mann kam sicheren Schrittes den Feldweg entlang. Seinen Blick konnte Peter spüren, er brannte.

Dann stand er vor ihm. Schmale Schultern, bleich und merkwürdig verschwommen.

»Peter Dombrowsky?«, sprach der Mann ihn an.

»Ja,« antwortete Peter und lüpfte den Hut. Er zwang sein Einsiedlergesicht zu einem Lächeln. Es glänzte unbeholfen auf frisch rasierten Wangen.

»Sie leben allein hier.« Eine Feststellung ohne Emotionen. Bang öffnete Peter das Gatter und winkte seinen Gast herein.

»Ja, es geht leichter von der Hand.«

Sein Gegenüber nickte und folgte der Einladung.

»Mir gefiel ihr Profil. Man findet nicht viele Kleinbauern im Netz der Energiewirte.« Das wusste Peter. Er besetzte eine Nische, war ein Freak. Aber es gefiel dem Mann, stellte er erstaunt und erleichtert fest.

»Es gab bisher nie Probleme...«

Der Mann drehte sich herum und schaute ihm ernst in die Augen.

»Ja.« Dann leuchteten die Augen plötzlich auf. »Zeigen Sie mir die Schweine!«

Peter ging voran. Strohhalme lagen auf dem Hof, die Hühner wichen auf die andere Seite aus, nur der Hahn reckte sich und musterte den Fremden provozierend. Die kleine Schwarze kam angerannt und bettelte miauend an Peters Beinen, ihr war der Fremde egal. Doch Peter ging weiter zum Schweinestall und brummte der Katze nur kurz etwas zu, sie hatte heute bereits mehr Futter erhalten als sonst.

Die Mittagssonne brachte den Kalkanstrich des Stalls zum Leuchten, trotz des Fliegendrecks und der Schwalbennester mit ihren Kotstreifen darunter. Der Eingang stach schwarz daraus hervor und als sie eintraten, umfing sie Dunkelheit. Ihre Augen reagierten langsam; bis sie die Schatten durchdrangen, schwiegen die Männer. Es stank nach Schweinemist, Schrot und gedämpften Kartoffeln. Träge äugte die Sau in der vordersten Buchte nach den beiden Männern, einige Ferkel sprangen quiekend herum, nimmermüde Kinder im Spiel.

»All das Leben. So wirklich...«

Peter stand hilflos neben dem Mann und betrachtete dessen staunendes Gesicht. Was war das Leben schon für einen von ihnen?

»Wir können auch das Kraftwerk ansehen, es ist gleich hinter dem Stall,« schlug er vor, um die peinliche Stille zwischen ihnen zu durchbrechen.

Doch der Mann blickte ihn erneut nur ernst an. »Nein, nicht nötig. Ich akzeptiere.«

Damit wandte er sich um, dem hellen Hof entgegen, durchschritt das kaum sichtbare Seuchenschutzfeld in der Türöffnung und wartete auf Peter, dessen Magen einen Sprung machte und der ein wild schlagendes Herz in der Brust trug.

So einfach.

Dann trat Peter auch auf den Hof hinaus, spürte intensiv, wie sich die Sonne auf ihm niederließ und die frisch entkeimte Haut begrüßte. Voller Fröhlichkeit.

 

*

 

Da lag der Mann nun. Lars. Auf Lisas Liege. Und es sah gut aus.

Es blinkte und leuchtete in den Geräten. Der Raum summte. Wie sie ihn begrüßten! Das Netz war komplett hochgefahren. Auf dem Hauptmonitor erkannte Peter die verschiedenen Gateways, die sich zuschalteten. Glückwünsche im Eingangskorb, dabei musste Lars schon vorher mit der Gruppe kommuniziert haben, so schnell wie alles ging. Vielleicht hätten sie ihm etwas gesagt, wenn eine Zusage ungewiss gewesen wäre, zweifellos hätten sie ihn gewarnt. Frank ganz bestimmt.

Doch Peters Hände zitterten, als er durch die Menüs switchte und Ressourcen neu vergab. Vieles geschah von selbst oder war bereits von der Gruppe festgelegt worden, es gab wenig zu tun, wofür es menschlicher Hände bedurfte.

Peter war schneller fertig, als er wollte. Aber dann musste er doch gehen. So viel Freude im Innern und kein Raum, sie zu teilen. Fast konnte es einen traurig machen.

Peter zwinkerte und ging zur Tür.

Peter! Wir freuen uns für Dich! erschien da auf dem Hologramm.

»Danke!«, krächzte er und ging weiter.

Aber da stand noch etwas, ein persönlicher Satz von Frank.

Und danke für die Rosinen.

 

*

 

Der Abend wurde klar. Gutes Wetter. Peter machte sich keine Sorgen um die Ernte. Sie würde gut werden. Auch dieses Jahr würde das kleine Kraftwerk hinter der Scheune ohne Probleme durcharbeiten können, bekam seine Gruppe ihre Energie und der Hof wäre sicher.

Und Peter gestand sich ein, dass er zufrieden war mit seiner Welt, fernab vom eigentlichen Leben.

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Die Charaktere dieser Geschichte, sowie alle Handlungen sind geistiges Eigentum des Autors. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten oder Handlungen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Der Autor verfolgt kein kommerzielles Interesse an der Veröffentlichung dieser Geschichte.

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Erstellt: 27.06.2005, zuletzt aktualisiert: 23.02.2019 14:07, 487