Essay: Lost in »Lost«
 
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Lost in »Lost«

Redakteur: Torsten Scheib

 

Letzte Woche war es wieder so weit: ein Bekannter fragte mich am vergangenen Donnerstag, was ich am Abend so treiben würde. Meine Antwort (inklusive wissendem Blick): „Ich geh’ aufs Eiland!“

Und mein Bekannter verdrehte nur die Augen.

Irgendwie kann ich ihn verstehen. Seit fast fünf Jahren tue ich mir das nun an. Was genau? Na klar, ich schaue Lost! Zugegeben, als die erste Staffel anno 2005 auf Pro7 Premiere feierte, gehörte ich sicherlich auch teilweise zu denjenigen, die sich dem damaligen Hype angeschlossen, reingezappt und drangeblieben sind. Aber – mein Interesse hatte auch andere Gründe. Hauptsächlich nur einen: J.J. Abrams. Es mag sich großspurig anhören, vielleicht sogar anmaßend, doch vergleiche ich den New Yorker Kassengestellträger gerne als „kleinen Spielberg.“ Okay, nach dem Erfolg von Star Trek vielleicht nicht mehr ganz so klein, da sich seine Erfolgsgeschichte nun auch auf der großen Leinwand abspielt und nicht mehr ausschließlich auf der heimischen Glotze. Doch was beide Männer verbindet, ist meiner Meinung dieser schier unbändige Drang ZU ERZÄHLEN. Ähnlich wie Spielberg, ist Abrams nicht auf ein bestimmtes Genre fixiert. Er schrieb das Drehbuch zu einer lockig-flockigen Komödie (Filofax – Ich bin du und du bist nichts, 1990), verfasste das Script für ein ziemlich gutes Drama mit Harrison Ford (In Sachen Henry, 1991) ebenso wie die Vorlage für Michael Bays Kabumm- und Schnittorgie Armageddon (1998), bevor er die Coming of Age-Serie Felicity konzipierte (ebenfalls 1998), gefolgt von der Agentenserie Alias (2001).

 

Letztgenannte Serie war es übrigens gewesen, die mich zu einem Bewunderer von Abrams Arbeit machte. Zugegeben, wenn Sydney Bristow (gespielt von Jennifer Garner) fünf Staffeln lang im Grunde nichts anderes tut, als in bester „Lola rennt“-Manier und in ungefähr 856 verschiedenen Perücken entweder ihren Zielobjekten hinterher oder vor ihren Gegnern davon zu laufen, dann hört sich das auf den ersten Blick doch nicht gerade nach spektakulärer Fernsehkunst an; von einer Aussicht, dies ganze 105 Folgen ertragen zu müssen, mal ganz zu schweigen. Allerdings war da jener kleine Unterschied; jene narrative Besonderheit, mit der sich die Serie von einem Großteil der Konkurrenz abhob. Je etablierter Sydneys Umfeld wurde und damit auch ihr Ziel, fing „Alias“ an Haken zu schlagen wie ein Hase, der von einem Rudel blutlüsterner Hunde gejagt wird. Zunächst erfuhren wir, dass Sydneys Brötchengeber, die Geheimorganisation SD-6, ihren Verlobten ermordet hat, dass SD-6 keineswegs zu den „Guten“ gehört und ausgerechnet ihr Vater ebenfalls dort arbeitet, aber in Wahrheit ein Doppelagent ist und nun gemeinsam mit dem kleinen Töchterlein ebendiese Organisation zerschlagen will. Gleichzeitig darf Sydney nun sämtliche Kontinente bereisen und nach Artefakten des fiktiven Propheten Milos Rambaldi abklappern, der zudem Sydney zu einem Teil seiner Visionen hat werden lassen. Dann taucht noch ihre tot geglaubte Mutter auf, eine ehemalige KGB-Agentin. SD-6 wird zerschlagen. Inzwischen hat sich Sydney in ihren Verbindungsmann beim CIA verguckt und plant ein gemeinsames Leben mit ihm; eine Aussicht, die jäh zerstört wird, nachdem sie eine feindliche Agentin kaltstellt, die das Aussehen ihrer besten Freundin angenommen hatte und knapp zwei Jahre später in Hongkong wieder aufwacht. Und so weiter, und so weiter. Niemand war das, was er in Wirklichkeit zu sein schien, Bösewichter wurden lammfromm und umgekehrt … das war einerseits ganz schön anstrengend, andererseits aber auch größtenteils richtig fesselnd. Und wer auch nur eine Folge verpasste, der konnte echt ins Schwimmen geraten. Ähnlich wie bei den legendären Sopranos (1999-2007) gab es hier keine Einzelfolgen mehr. Stattdessen war „Alias“ aufgebaut wie ein Buch; entsprach jede Staffel einem bestimmten Abschnitt und jede Folge einem Kapitel. Dementsprechend baute praktisch jede Handlung und jeder Vorgang einer neuen Episode auf dem vorangegangenen Geschehen an. Ergo war man gezwungen – sofern man Interesse hegte und die Serie verstehen wollte – auch wirklich JEDE FOLGE sehen zu müssen. Ein einerseits ziemlich smartes wie auch cleveres Konzept, um potenzielle Zuschauer bei der Stange zu halten. Doch während des Verlaufes dieser 5 Staffeln beziehungsweise 105 Folgen, war es keine Seltenheit, dass man sich verwirrt und kopfschüttelnd wieder fand und sich fragte, ob diese Serie in Wahrheit nichts anderes war als eine groß angelegte Verarsche. Diese ganzen Wendungen und Irreführungen und Ziele und Vorgaben, die dann doch nicht das waren, was sie vorgaben, zu sein und wieder umgekehrt … Da wunderte man sich schon, ob Abrams und sein Team überhaupt so etwas wie Konzept hatten oder Sydney in Wahrheit einfach „nur so“ durch die Welt reiste. Stellenweise war das wirklich frustrierend, allerdings aber auch sehr zufrieden stellend, als es dann TATSÄCHLICH einen Abschluss gab, den man als solchen bezeichnen konnte. Demzufolge hatten Abrams und Co. also doch so etwas wie eine (halbwegs) klare Vorstellung, ein Konzept gehabt.

 

Dumm nur, dass Fernsehdeutschland nicht so lange warten wollte, die Einschaltquoten ins Bodenlose fielen und Pro7 schließlich den Hahn zudrehte (den „Sopranos“ war übrigens das gleiche Schicksal beschieden; Schande über Deutschlands TV-Anstalten und Zuschauer!). Dann lieber doch wieder belanglose Talkshows oder hirn- und anstandslose Castinghows, bei denen man gottlob nicht den Verstand verwenden muss. Umso erstaunlicher, dass ausgerechnet in den USA, der Heimat von Jerry Springer und America’s next Top Model, dieses Serienkonzept richtig erfolgreich war und auch noch immer ist. Wer hätte das gedacht?

 

Doch zurück zu „Lost.“ Jener Serie, die J.J. Abrams Konzept der (gezielten) Verwirrung nicht nur ein paar Stufen weiter treibt, sondern gleich ein verdammtes Treppenhaus. Und mal ganz ehrlich – gibt es draußen wirklich jemanden, der imstande ist, mir exakt und auf verständliche Art und Weise die bisherige Handlung chronologisch wiederzugeben? Okay, solche Typen gibt es garantiert. Aber die würde ich auch nicht als normale Durchschnittsmenschen bezeichnen. Ohne jetzt mit Vorurteilen um mich zu schmeißen – aber dieser Typ Mensch ist entweder gerade dabei, Einsteins Relativitätstheorie neu zu definieren oder hockt 24 Stunden lang vorm PC oder der Glotze (und zieht sich die „Lost“-DVDs rein).

Was meine Wenigkeit betrifft, so würde ich es mir nicht mal ansatzweise trauen, einem Interessierten die bisherigen Geschehnisse so weit zu erläutern, dass dieser problemlos in der 5. Staffel einsteigen kann. „Da ist dieses Flugzeug, und das ist auf einer Insel abgestürzt und auf dieser Insel gibt es Eisbären und lebendig gewordenen schwarzen Nebel und eine Forschungsstation und was weiß ich nicht noch alles und irgendwie versuchen die Überlebenden des Absturzes wieder von der Insel zu gelangen, obwohl sie es eigentlich gar nicht dürfen …“ – das wäre wohl MEINE bestmögliche Schilderung.

Ich gebe es zu – ich HABE den Faden verloren. Aber trotzdem bleibe ich dran. Obwohl die Serie, deren vorletzte Staffel, wie bereits erwähnt, nun in Erstausstrahlung im deutschen Free-TV gezeigt wird, noch nicht mal ansatzweise die grob geschätzten 3287 Fragen geklärt hat, die sich während des Inselaufenthaltes (und nicht nur dort) in beängstigender Schnelligkeit angehäuft haben. Insofern muss ich J.J. Abrams wohl Erfolg attestieren; zumindest, was mich betrifft. Haste mich also noch immer am Haken, du alter Schlingel. Aber mal von dem ganzen Wirrwarr abgesehen – „Lost“ ist wirklich hervorragend gemacht. Die Nordküste der Hawaii Insel Oʻahu, welche als Außenlocation verwendet wird und dem einen oder anderen aus Filmen wie Jurrasic Park (1993 – und wieder die Spielberg-Connection), Pearl Harbor (2001) oder Tropic Thunder (2008) bekannt sein dürften, ist das reinste Eye Candy. Toll. Aber auch die Passagen, welche in den diversen Camps und Forschungseinrichtungen, auf hoher See oder an Land spielen, erreichen durchaus Filmniveau, welches das wunderbar zusammengestellte und mittlerweile routiniert interagierende Ensemble sowie zahlreiche Gastauftritte bekannte Darsteller (u.a. Michelle Rodriguez, Jeff „Rasenmähermann“ Fahey, Clancy „Kurgan“ Brown, Andrew „Wishmaster“ Divoff oder Mira Furlan aus Babylon 5) gekonnt abrundet. Visuell und schauspieltechnisch kriegt man also wirklich was geboten.

 

Doch zurück zum verlorenen Faden – oder dem verfolgten Häschen, das Haken schlägt. Was sich Abrams und sein Stab diesmal erlauben, ist nicht einfach nur verwirrend – es ist ein gottverdammter Mindfuck. Da werden Ansätze vorgebracht, die sich als logisch erweisen, es dann aber doch nicht sind (und wieder umgekehrt), es gibt Rückblenden en masse, Hinweise in Form von Namen beziehungsweise Anagrammen, Buchtiteln und sogar einer ominösen Statue mit vier Zehen, und um das Chaos zu komplettieren, wird in der 5. Staffel nun munter in der Zeit herum gesprungen als wäre man beim Seilspringen.

Gezielte Verwirrung? Planlosigkeit?

Ich hege zwar den Verdacht auf letzteres, hoffe aber auf erstgenanntes. Andernfalls wären sechs Jahre treues Fernsehglotzen schlichtweg für umsonst gewesen. Doch, offen gestanden, kann ich mir diesmal nicht beim besten Willen vorstellen, wie man überhaupt zu einem logischen, konsequenten und vor allem ZUFRIEDENSTELLENDEM Abschluss gelangen könnte. Vielleicht bin ich aber auch nur kleingeistig. Und ein Ende, ein Abschluss scheint es tatsächlich zu geben. „Lost“-Darsteller Matthew Fox äußerte sich kürzlich in einem Online-Interview dazu. Er fände das Ende „wirklich schön und kraftvoll und heftig“, gab aber gleichsam zu bedenken, dass er sich nicht sicher sei, wie die Fans darauf reagieren würden.

Oje.

Das klingt nicht gut.

Und kommt mir irgendwie bekannt vor …

2004 hat ein gewisser Stephen King seine Leserschaft mit einer ähnlichen Frage konfrontiert – als der finale Roman seines Epos um den Dunklen Turm kurz vor der Veröffentlichung stand. Und, ja, jenes Ende war „wirklich schön und kraftvoll und heftig“ und Herr King wusste damals garantiert auch nicht, wie die Fans darauf reagieren würden.

Einige Fans wissen dass übrigens auch heute noch nicht.

Und um den Bogen wieder zurück zu J.J. Abrams zu spannen: er ist ausgewiesener King-Fan; in „Lost“ taucht sogar ein King-Buch auf. Und er hat sich 2007 für sagenhafte 19 Millionen US-Dollar die Rechte an einem ganz bestimmten Stephen King-Werk gesichert – ganz recht, es handelt sich dabei um den Dunklen Turm.

Schluck.

Er wird doch nicht … so wie King …?

Vielleicht interpretiere ich auch nur zu viel rein.

Vielleicht bin ich auch einfach besessen.

Vielleicht ist das ganze auch nur ein weiterer Mindfuck.

Sicher ist, dass ich dranbleiben werde. Bis zum Schluss. Auch wenn ich nur ein Drittel halbwegs verstehe. Denn „Lost“ kann süchtig machen.

Auf jeden Fall sind wir irgendwann schlauer …

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Lost

USA 2004 - 2010

Creators: J.J. Abrams, Jeffrey Lieber und Damon Lindelof

USK: 18

 

ASIN: B00GU40HTE

 

Erhältlich bei: Amazon

DarstellerInnen:

  • Naveen Andrews ... Sayid Jarrah

  • Matthew Fox ... Jack Shephard

  • Jorge Garcia ... Hugo 'Hurley' Reyes

  • Josh Holloway ... James 'Sawyer' Ford

  • Daniel Dae Kim ... Jin Kwon

  • Yunjin Kim ... Sun Kwon

  • Evangeline Lilly ... Kate Austen

  • Terry O'Quinn ... John Locke

  • Emilie de Ravin ... Claire Littleton

  • Michael Emerson ... Ben Linus

  • Dominic Monaghan ... Charlie Pace

  • Harold Perrineau ... Michael Dawson

  • Henry Ian Cusick ... Desmond Hume

  • Elizabeth Mitchell ... Juliet Burke

  • Ken Leung ... Miles Straume


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Erstellt: 08.02.2010, zuletzt aktualisiert: 31.05.2022 08:09, 10003