Gehenna
 
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Gehenna

Rezension von Wilhelm Drutzel

 

Nun ist es also da, das Ende. Über zwölf Jahre hat es gedauert, bis es eintrat, und der Schritt von White Wolf ist hart, aber konsequent: die Welt der Dunkelheit ist nicht mehr und wird mit einer letzten Serie an Quellenbüchern und Romanen zu Grabe getragen. Was löste das nur für Diskussionen bei den Spielern aus. Für die einen brach sprichwörtlich eine Welt zusammen, andere begrüßten den radikalen Schnitt: jahrelang war Gehenna, das Ende der Welt, das große Thema beim Flaggschiff der weißen Wölfe, „Vampire – Die Maskerade“. Nun also wurde ernst gemacht. Zusammen mit dem Roman von Ari Marmell bildet das Quellenbuch „Gehenna“ den finalen Sargnagel für das Begräbnis eines der erfolgreichsten Rollenspielsysteme aller Zeiten: endlich brachte auch Feder&Schwert die deutsche Version, zudem anspruchsvoll gestaltet, auf den deutschen Rollenspielmarkt.

 

Auf 224 Seiten erfährt man im Hardcover alles Wissenswerte, was man zu Gehenna wissen muss – nicht nur, dass man Tips und Hinweise bekommt, wie man sein persönliches Weltende für Vampire gestaltet, man bekommt obendrein noch vier Variationen des gleichen Themas serviert – je nachdem, wie man denn gerne das Ende der Welt haben möchte.

 

Doch der Reihe nach: natürlich ist zu Beginn des wie immer anspruchsvoll und aufwendig gestalteten Bandes eine einleitende Geschichte fällig: bereits erwähnter Marmell macht mit „Ouroboros“ Appetit auf das, was noch kommen mag. An seiner Schreibweise scheiden sich die Geister, man fragt sich, ob nicht doch jemand Besseres den letzten Roman hätte verfassen sollen. Seinen Zweck als Aperitif erfüllt seine Kurzgeschichte jedoch allemal.

 

Die Einleitung, passend mit „Anfang vom Ende“ betitelt, fasst schon einmal zusammen, was die kommenden Enden gemeinsam haben. Das Blut der Vampire wird schwächer, allerorten begehen Kainskinder Amaranth, und die mächtigsten Kinder des Brudermörders erwachen erneut. Wer schon seit Jahren dabei ist und sich näher mit der Materie des komplexen, offiziellen Hintergrundes (des Kanons) beschäftigt hat, wird hier ebenfalls ein paar letzte Geheimnisse gelüftet bekommen. So werden diverse Geheimnisse betreffend der Vorsintflutlichen gelüftet, Dinge, welche den Autoren zufolge jahrelang in einer Mappe im Giftschrank der Macher hingen und nun das erste Mal (natürlich dann wenn es eh zu spät ist) veröffentlicht werden.

 

In Kapitel Eins „Die letzten Nächte“ geht es schon tiefer in die Materie Gehenna. Man erfährt, welche Zeichen wie gedeutet hätten werden müssen, nicht nur, was das Buch Nod angeht, auch andere Vorzeichen, die sich Vampire zusammengedacht haben, werden da näher beleuchtet. Fallstudien werden gebracht, besonders bezüglich jedes einzelnen der bekannten Vorsintflutlichen – und noch mehr (oder habt ihr etwa Lucian und Mekhet als Namen möglicher Vorsintflutlicher vergessen?). Auf die Rolle der Inconnu (welche davon verschont blieben, ein eigenes Quellenbuch zu erhalten) wird dabei genauso eingegangen, schließlich sind sie es, die noch am meisten Ahnung im Kampf gegen jene übermächtigen, halbgöttlichen Kreaturen haben.

Natürlich darf auch der Themenkreis des Dschihad nicht fehlen, spielt dieser dank der Vorsintflutlichen, die nun erwachen, eine wichtige Rolle. Wie die Sterblichen auf Gehenna reagieren könnten – hier wurde zwischen normalem Tagesgeschäft und Armageddon variiert – und was für richtungsweisende Dokumente kaum erkannt blieben. Mit dem „Welken“, jener Zustand, bei dem die eigenen Vitae immer schwächer wird und man nur noch mit Diablerie seine Kräfte erhalten kann, wird eine neue optionale Regel eingeführt, welche in den kommenden Gehenna-Varianten stets zur Anwendung kommt. Überhaupt wird hier schon auf die vier möglichen Szenarien eingestimmt: was man tun und was man lassen sollte, wie man Überwerten von Gegnern (Nahkampf 9 z.B.) umgeht und welche Rolle andere Übernatürliche spielen werden.

 

Dann jedoch ist der Reigen eröffnet: es werden vier Varianten des gleichen Themas vorgestellt. Nur die Grundstimmung ist anders, und auch der Effekt. So ist in „Wermut“, dem zweiten Kapitel (und erstem Ende), Gehenna eine persönliche Angelegenheit, welche nur die Vampire betrifft. Die Charaktere zählen zu den Auserwählten, denen eine Chance gelassen wird, Gehenna zu überstehen – vierzig Tage und Nächte müssen sie in einer heiligen Stätte verbringen, ohne sie zu verlassen, sich gegen das Tier im Inneren, dem zunehmenden Durst und allen Verlockungen des Teufels zur Wehr setzen, dann würden sie den Fluch überwinden und wieder zu Sterblichen werden. Ein Wiedersehen haben Vampire-Fans dabei mit einem alten Bekannten, der Gargyle Ferox (siehe „Kindred’s Most Wanted“), welche sich für einen Engel hält und gemeinsam mit der Dhampirin Alia den Willen des Herrn durchsetzt. Für Freunde von Schuld und Sühne sowie des inneren Konfliktes ist dieses Szenario ideal, wer möchte, stellt aber von allen vieren noch das harmloseste dar.

 

Bedeutend mystischer und weltbewegender geht es in „Und durch die Nebel-Luft davon“ zu. Dort versucht man ein möglichst mystisches Ende zu durchleben. Im Mittelpunkt steht nicht Kain, sondern Lilith, auf welche man in ihrem Garten trifft. Dort hausen – zur großen Überraschung der Charaktere – sieben weitere Vorsintflutliche, darunter Lucian und Mekhet, welche mehr als einmal namentlich erwähnt wurden. Die Charaktere klappern einige Fraktionen und Lilithkulte ab, und spielen am Ende das Zünglein an der Waage im Kampf Liliths gegen Kain und dessen loyalsten Kinder – unter anderem Haquim und Saulot (der darf natürlich nie fehlen, wenn es welterschütternd werden soll). Für jene, die schon immer die Weltanschauung der Vampire durcheinanderbringen wollten und noch mehr Vorsintflutliche sehen möchten, ist dies das richtige Endszenario – ein gewisses Vorwissen bezüglich Lilith sei jedoch vorausgesetzt.

 

„Nachtschatten“ (Kapitel Vier) ist das „offizielle“ Ende. Hier wird der Metaplot, der sich durch zahlreiche Bücher zog, zu einem Ende gebracht. Daher trifft man auch auf zahlreiche altbekannte Charaktere, als da wären der aalglatte Ventrue Jan Pieterzoon und – manche mögen schon seufzen – schon wieder Sascha Vykos. Da dieser in fast jedem Kampagnenband vorkam, taucht das Tzimisce-Ding natürlich ebenfalls wieder auf. Die Maskerade zerfällt (sehr schön dargestellt durch einen „Stern-TV“-Auftritt Pieterzoons) und eine dritte Sekte schwingt sich empor – die Nephtali, deren Gründung man ja in „Das Rote Zeichen“ miterleben konnte. In all dem Durcheinander, bei dem Saulot erneut wieder zuschlagen will (was zur Folge hat, dass den Charakteren schon wieder die Möglichkeit zur „Zusammenarbeit“ mit Etrius und Tremere gegeben ist“) und die Charaktere die verborgene Stadt Kaymakli entdecken, muss der Klüngel zusehen, wie er am Ende dasteht. Als etwas konfus formuliert und mit zu vielen unnötigen Regelzusätzen beladen kommt das offizielle Ende daher. Spaß macht es dennoch – vor allem, wenn man schon seit Jahren dabei ist, dann nämlich kann man noch einmal aus den Vollen seines Hintergrundwissens schöpfen. Schmunzelnd wird man Sets Auferstehung der besonderen Art beiwohnen – die Jünger des Set, soviel sei verraten, ernten am Ende das, was sie jahrtausendelang gesät haben.

 

Für manche klingen besagte drei Szenarien etwas müde. Das soll Gehenna sein? Wo bleibt die Weltvernichtung? Das Chaos? Und die letzte große Schlacht? Richtig, die fehlt noch, aber auch dieser Wunsch geht in Erfüllung. Wer mit einem Paukenschlag die Welt zugrunde gehen lassen will, für den gibt es „Gottes Feuerprobe“, das fünfte Kapitel. Auch hier entlarven die Menschen die Maskerade aufgrund der schwindenden Kräfte der Kainskinder – daran können die Charaktere schuld gewesen sein – und trotz aller Manipulationsversuche weiß bald jedes Kind, dass es Vampire gibt. Der Krieg gegen die Vampire bricht los – und dieses Mal sind die Menschen besser gerüstet. Dann jedoch wachen einige der Vorsintflutlichen auf und rüsten zum Gegenschlag. Ganze Städte wie Moskau oder weite Teile Wiens werden vernichtet, in Mexiko-Stadt regiert wieder der Blutkult, und die Sonne wird verdunkelt. Die Charaktere begegnen einigen Vorsintflutlichen, wie dem Ding, dass den Clan der Tzimisce gegründet hat, oder Ennoia (Gründerin der Gangrel), welche nun eine einzige Naturgewalt ist. Hier dürfen die Charaktere sich durch Schneisen der Vernichtung und dem Ende der Zivlisation bewegen, am Ende jedoch kommt es zur großen – wahrscheinlich sehr bitteren – Abrechnung mit dem Schöpfer...

„Gottes Feuerprobe“ – allzu viel sei dann doch nicht verraten – ist wie großes Krawallkino und fesselt mit großen Bildern und gigantischen Endschlachten. Wem bisherige Kontrahenten zu lasch waren, der sollte hier nun seine Meister finden. Auf die Vorsintflutlichen Jagd zu machen, weil es eine geheime Kraft im Verborgenen so möchte, ist gefährlicher als alle bisherigen Dinge, die der Klüngel durchzustehen hatte.

 

Bei diesen vier Szenarien kann es aber auch durchaus sein, dass nichts der eigenen Spielrunde zusagt. Das ist dann natürlich schade, kann man dann mit immerhin 160 Seiten des Buches nichts anfangen – der Gedanke eines Fehleinkaufs liegt dann nahe. Das sechste Kapitel, „Erzählen“, widmet sich nun an den Spielleiter und gibt ihm hilfreiche Tipps, wie man die letzten Nächte gestalten könnte. Unter anderem werden neben Vorschlägen zum Fixieren der Handlung auf die Charaktere auch Ideen geliefert, wie man nach Gehenna die Chronik weiterspielen könnte – auch dann, wenn von der Erde nur noch Asche übrig ist.

 

Im Appendix werden die Werte einiger wichtiger Charaktere – darunter altbekannte Gesichter wie Ferox oder Vykos, aber auch neue Charaktere (Alia oder der Gangrel Ryder) nebst Hintergrundbeschreibung vorgestellt. Der Zusatz „Der erste Vampir“ widmet sich auf zwei Seiten allein Kain und was mit ihm geschehen sein könnte – mit jener Person, mit der die ganze Misere anfing, endet auch die Geschichte von „Vampire – Die Maskerade“.

 

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge kann man „Gehenna“ aus dem Zyklus „Zeit der Abrechnung“ betrachten – einerseits freut man sich über die gelungene Aufmachung und Präsentation der Enden, wo für jede Gruppe eigentlich etwas dabei sein müsste, andererseits schmerzt es das Spielerherz dann doch, nach so vielen Jahren Abschied von diesem System zu nehmen, welches in überarbeiteter Form als „Vampire – Requiem“ jedoch in Bälde wieder gänzlich neu erscheint. Auf das Ende der Welt der Dunkelheit kann White Wolf stolz sein, und Feder und Schwert hat erneut saubere Arbeit geleistet, auch den deutschen Fans einen hervorragenden Quellenband näher zu bringen. Tadellos wurde übersetzt, die Illustrationen und Aufmachung ist wie immer richtungsweisend für andere Rollenspielsysteme, einzig über den Preis von knapp 33 Euro wird man diskutieren. Qualität hat aber seinen Preis, und „Gehenna“, als Abschluss einer langen erfolgreichen Rollenspielreihe, ist jeden Cent wert. Um es mit passenden Worten eines Horrorfilms auszudrücken: „Let me explain the difference – I will rest in peace, and you will rest in pieces“. Adieu, Maskerade...

 

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Oje, das hat nicht geklappt, Elfenwerk! 2024042607390100682b5b
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Gehenna

System : Vampire – Die Maskerade

Autor: Björn T. Boe, Carl Bowen, Noah Dudley

Gebundene Ausgabe - 240 Seiten - Feder & Schwert

Erscheinungsdatum: 2004

ISBN: 3935282974

Erhältlich bei: Amazon

 


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Erstellt: 18.07.2005, zuletzt aktualisiert: 27.01.2015 20:05, 679